Erwachen an Rheinmain. Arbeitsjournal. Mittwoch, der 14. April 2010. Frankfurtmain und Heidelberg.

7.25 Uhr:
[Bei Leukerts. Küche.]
Café au lait. (Rauchen darf ich hier nur auf dem Balkon: Nichtraucherhaushalt. Das ist, selbstverständlich, zu akzeptieren). „Du hast gar nicht mehr mit?” So Leukert, als ich derart früh durch C.s und seine Tür kam. „Nur den kleinen Rucksack, Laptop, ja”. „Du siehst aus, als hättest Du stundenlang in brütender Sonne gelegen!” „Hab ich. Gelegen aber nicht, sondern,” sagte ich, wußte aber nicht, ob das geraten war, ihm alles zu erzählen, „in Jeeps gesessen.” Selbst die Freunde würden beginnen, mich für irre zu halten; immerhin wäre mir, dachte ich zuversichtlich, eine gewisse Meisterschaft das Halluzinierens nicht abzusprechen.
Die Freund waren noch in Nachtkleidung. „Ich bin furchtbar müde”, sagte ich, „macht ihr mir einen Kaffee? Und darf ich mich dann für zwei Stunden auf die Couch legen? Heute abend ist wieder Heidelberg. Und ich muß dringend in Die Dschungel schauen… nachsehen, ob da wieder was passiert ist. Ich komme grad aus dem Orient.” „So siehst du aus.”
Durfte ich >>>> von Šahrzād erzählen? Wäre das – klug? Aber darum, ob etwas „klug” ist, hab ich mich noch nie gekümmert.Erstmal bei meiner Familie anrufen. „Šahrzād will dich kennenlernen.” Das klingt wie eine Drohung, die lockt, in mir nach.

7.43 Uhr:
Alles in Ordnung bei meiner Familie. Mein Bub weiß nicht, wo sein Fahrrad ist.

Ich kam an >>>> Rheinmain zu mir, jenseits der Kontrollen beim Duty-Free-Bereich, lag längs auf den abfallenden Sitzen einer Stuhlreihe, hatte die rechte Hand in der oberen Trageschlaufe meines Arbeitsrucksacks, mit meiner Lederjacke (der Profi immer: „Wie kann man so ein schweres Ding tragen?!”) halb zugedeckt. Es war nach vier Uhr morgens, das Licht stieg hinter den hohen Scheiben. Als hätte ich die Zwischenzeit bis zu einem Anschlußflug im Halbschlaf verbracht, so war das. Aber ich wußte sofort, wo ich war. Noch hörte ich „Šahrzād will dich kennenlernen”. Was war geschehen?
Nein, ich war nicht verwirrt. Es i s t so, dachte ich, Wirklichkeit – in Wirklichkeit – i s t so. Doch würde ich mir die weiteren Geschehen zusammenerinnern müssen, vielleicht zusammenerfinden. Sowieso ist alle Erinnerung eine Art der Erfindung, eine Art Dichtung: das war auch ein Ergebnis meiner seinerzeitigen Psychoanalyse gewesen: „Es kommt nicht darauf an”, hatte mein Analytiker oft gesagt, „ob wir etwas tatsächlich als so und so erlebt haben, sondern ob wir uns daran als so und so erinnern: d a s prägt uns.” Etwas davon habe ich seit je, aber unbewußt, instinktiv, gewußt. Es gibt keine Dokumentation, es gibt lediglich schlüssige Geschichten. Möglicherweise werden die Geschichten um so unglaubwürdiger, je faktisch „wahrer” sie sind.
Nach Heidelberg muß ich heute, fiel mir sofort darauf ein, also muß ich zum Bahnhof. Ich hätte auch vom Terminal-Bahnhof einen Zug nehmen können, wollte aber ja doch die Freunde noch sehen, Leukert, Do; auch die Löwin wollte ich, wenigstens kurz, noch sehen, wenn denn jetzt alles sich so ganz anders zugetragen hatte, als ich geplant habe. Um vier/halb fünf ließ sich auch nicht Zuhause anrufen, ohne daß ich eine Art Alarm ausgelöst hatte. Also stand ich erst einmal auf, nahm an einer siebenachtelverwaisten Espressobar einen Latte macchiato, macht mich dann auf, hinab zu den baggage claims, an den Bändern vorbei, durch die Zollsperre, man hielt mich nicht an. Zur SBahn, von dort bis zur Hauptwache, umsteigen in die U zum Südbahnhof. Von da sind es kaum noch vierhundert Meter. Vor sechs aber durfte ich keineswegs klingeln. Es regnet nicht derzeit in FFM, das war schon mal gut. Aber kalt, gräßlich kalt, war mir. „Du siehst aus, als hättest Du stundenlang in brütender Sonne gelegen!” Undsoweiter.
Ich erzählte den Traum, aber als einen, der mich hatte schlafwandlerisch an den Frankfurter Flughafen reisen lassen; imgrunde hätte ich ebenso glaubwürdig den Flug nach Ardistan erzählen können, es war völlig egal. „Die Wahrheit ist nämlich”, sagte ich, „daß ich die Huri des Paradieses gesehen habe. Und ihre… ja, Herrin?, Fürstin..? – Šahrzād.” „Ardistan ist Karl May”, sagte Bernd, „Šahrzād Scheherezade…” „… und Vergil Mefistofele, jaja”, ergänzte ich. – „Wieso Vergil?” Er hatte mein Arbeitsjournal nicht gelesen. Mich vergrätzt das immer, wenn Freunde mein Arbeitsjournal nicht lesen. Wenigstens das können sie tun.

9.03 Uhr:
[Wohnzimmer zum Balkon.]Zwei Wörter, der ich gestern noch lernte, in Beth-al-Sâm, als wir am Kamin der Haupthalle saßen: „Julscheit” und „Notscheit”. Was mir daran verwunderte, war, daß ersteres nun deutlich ein Begriff aus dem Nordischen ist: das letzte Scheit im Kamin verbrennt nie, es brennt immer nur halb, drittels, dann verkohlt es, bleibt liegen. Dieses letzte Scheit des Sonnenwendfeuers wird fürs nächste Jahr bewahrt. Das Notscheit hingen dient den Züchtigungen Untreuer, „untreu” im vasallischen Sinn. Es lag gestern abend, als ich mein Gemach aufsuchte, müde, sehr müde, ausgelaugt, شجرة حبة war bei Šahrzād geblieben, den Kopf auf ihren unbekleideten Füßen… – jedenfalls, als ich zum Schlaf zurückkehrte, lag dieses Scheit als eine Mahnung, wußte ich, auf meiner Schwelle.
Mein Schwanz schmerzte, es ist an Schlaf, ja nicht mal – hier nun in Frankfurt am Main – an ein „Ruhen” zu denken. Das kommt von den Chilies, die ich über die vielen Näpfchen gebröselt hatte, in denen uns das Essen gereicht worden ist; ich nehme sie, kleine, enorm scharfe Dinger, dazu gern zwischen die Kuppen des Zeigefingers und des Daumens, reibe sie… wenn man danach vergißt, sich gründlich die Hände zu waschen, hat das Folgen. Um im Mund die Schärfe zu kühlen, ist Joghurt gut, der zu jeder Mahlzeit gehört. Die Schärfe durchzieht die gesamte innere Physiologie, selbst der klare Schweiß, den einer wie Wasser auskondensiert, ist von ihr erfüllt. Nächstes Wasser kam aus dem Krug in den Kamin. Ich dachte, meine Eichel habe zu lange ins Feuer geschaut, sich angefüllt mit dem Feuer. „Ich erwarte etwas von dir”, sagte Šahrzād in einem hoch kultivierten Englisch. Sie duzte mich, ihr „you” war kein Sie, sondern voller Distanz. Unnahbare!
Ihr zur Seite, wie ein dunkler Wesir, Vergil, die Augen voller Schatten, eine Wand der ganze Mann, Hühlenwand, wir die Schatten, die wir zwischen ihm und dieser Frau saßen.

Mein Kopf rast. Nein, an Schlaf ist nicht zu denken. Um mich abzulenken, habe ich meine Mails durchgesehen. Der Redakteur des FREITAGs hat ja gekürzt, ich dachte – ich dachte das mit Šahrzād will dich kennenlernen zugleich -: „Da stimmt die logische Argumentation jetzt nicht mehr.” Und habe nochmal umgeändert. Indes mir >>>> bei Facebook eine Araberin Blumensträuße und Bilder von Sittichen schickt und sogar von einem Kleinkind, wahrscheinlich dem ihren. Ich kann nicht umhin, einen Zusammenhang mit Beth-al-Sâm zu ahnen. Sind es Bilder aus der Zukunft?

12.46 Uhr:
Ich muß für Ophelia Abelers >>>> Traffic zweidrei Texte heraussuchen, die sie gerne in der nächsten Abgabe drucken will. Darüber sitze ich gerade. Solange die nicht hinausgeschickt sind, kann ich nicht weitererzählen. Sehn Sie’s mir bitte nach. (Die Angelegenheit ist heikel: je mehr Zeit seit gestern, nein, seit heute früh auf dem Flughafen vergeht, desto schneller verschwirren die Erinnerungen, um so mehr werde ich tatsächlich erfinden müssen – s o erfinden, daß wenigstens die Geschichte rund wird.

3 thoughts on “Erwachen an Rheinmain. Arbeitsjournal. Mittwoch, der 14. April 2010. Frankfurtmain und Heidelberg.

  1. Sind Sie ein Berliner? “Was mir daran verwunderte”????

    Aber es ist eine schöne Geschichte!

    (Das Programm will, das ich hier “puups” eingebe… nun denn…)

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