Ach, Kinder zu begehren! Carlixto Bieitos Inszenierung der Gezeichneten von Schreker unter Soltesz an der Komischen Oper Berlin.

Geschrieben für >>>> faustkultur;
dort erschienen am 28. Januar 2018.
Fotos: Iko Freese /  drama-berlin.de]
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Alviano Salvago liebt insgeheim Kinder, und zwar genauso und weil er selbst im Innern Kind geblieben ist. Dieser Interpretationsansatz bestimmt Carlixto Bieitos Inszenierung durch und durch. Er läßt sich gewiß kritisieren, dazu später, ist in sich indes nicht nur konsequent, sondern hat in der Musik-selbst ihren Grund. Bereits in der Ouvertüre gibt es – nach dem elegischen, filmmusikweiten Hauptthema – sozusagen hüpfende Motive mit so hellen Einsprengseln, daß sehr wohl an Kinder gedacht werden kann; dem entspricht durchaus das ebenfalls elegische Regressive, das von der – im Programmheft „hypertroph” genannten – Instrumentierungsmonumentalität nur scheinbar verdeckt wird; noch weniger verdecken es die Anklängen an die Schlagermusiken des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist ja der Schlager-an-sich regressiv. Um zeitgenössisch zu sein, mache man sich bitte klar, daß er seinerzeit die Rolle spielte, die der heutige Mainstream geerbt und perfektioniert hat. So mußte Michael Jackson sterben, ohne je erwachsene Reife erlangt zu haben (und wir kennen seine Neigung zu eben Kindern selbst); übrigens mimte gern auch David Bowie gern in diesem heiklen Umfeld.
Bei Schreker selbst ist Salvago ein wegen seiner Verwachsenheit gemiedener, vor allem auch von Frauen gemiedener Mann, der seinen Reichtum dafür verwendet, sich einen konkreten Wunscherfüllungsraum zu schaffen, ein phantastisches Refugium, das er „Elysium” nennt und in das er seine befreundeten Männerbekannten einlädt, die es hinter Salvagos Rücken auch weidlich nutzen – will sagen, sie entführen junge Frauen aus der Stadt, um sie auf der Lustinsel teils zu verführen, teils roh zu mißbrauchen. Dabei werden gewissenlos soziale Notlagen ausgenutzt. Diesem in die Renaissance zurückverlagerten Motiv entspricht die gesellschaftliche Wiener Realität der Schrekerzeit: An die 2 % der damaligen Bevölkerung habe, schreibt Simon Berger, von der Prostitution gelebt. Das Exlosive in Schrekers Oper rührte nun daher, daß Sexualität als Thema zugleich tabu war. Zwischen inflationärem Geschehen und Tabuisierung besteht der bekannte, ein höchst enger, Zusammenhang.
Genau das macht diese Oper nun aber gerade in Bieitos Sicht extrem aktuell, zumal er die pädophile, sagen wir, Neigung durchaus nicht denunziert. Denunziert wird ihre mißbräuchliche Umsetzung. Damit ist Bieito sehr viel weiter als die über das Thema gegenwärtig oft hysterisch geführten „Diskussionen”. Nie geht Bieito der gebotenen „political correctness” auf den tabuisierenden Leim. Allerdings fällt er ihr anderswo anheim.
Wie auch immer, zwei Akte lang sehen wir permanente Rückprojektionen von Bildern mißbrauchter, meist auch gewalttätig geschändeter Kinder und Jugendlicher und müssen uns schließlich noch dem Umstand aussetzen, daß nahezu alle Schänder – Verbrecher mithin – ungestraft davonkommen, während derjenige irre wird, der statt der Realisierung seiner „perversen” Sehnsüchte sie in ein eigenes Alice in Wonderland sublimiert hat, in sein Spielland Pinocchios oder in die, bei dem freilich dunkel drohende, Märchenwelt Hans Christian Andersens. Nur der brutale Tamare fällt einem Anfall der ihrerseits mißbauchten Carlotta zum… nein, nicht zum Opfer, sondern bekommt, was ihm zusteht – eine Kehre, übrigens, die Schrekers Textbuch nicht vorsieht.
Fraglich ist allerdings, ob, wie Bieito will, Salvagos Verwachsenheit eben das Begehren nach Kindern schon sei; er metaphorisiert die Neigung, sie personifizierend, als „Krüppel”. Das ist insofern problematisch, als all die anderen Männer, die tatsächliche Mißbraucher sind, „unverwachsen” dargestellt sind. Folgt man nun Bieitos Idee konsequent, wäre die Verwachsenheit eben der Ausdruck des Umstands, daß Salvago seiner Neigung nicht nachgeht, sondern sie in den phantastischen Raum seines Elysiums träumend hineinprojeziert. Hier wird Bieitos Grundgedanke objektiv gefährlich.
Er gerät noch an einer anderen, der wesentlichen Wendung der Oper ins Stolpern. Denn es ist so gar nicht nachvollziehbar, weshalb Salvago – als ein unreif Begehrender – von einer Frau becirct werden kann, von der Malerin Carlotta nämlich, die alles andere als Mädchen, geschweige denn ein Bub ist. Schon ihr erster Auftritt führt das deutlich vor, wenn die Finger ihrer rechten Hand über den Hosenschlitz eines Mannes – ich glaube, es war Tamares – halbspöttisch gleiten. Was sie und Salvago verbindet, ist somit allein beider Manko; auch in Bieitos Sicht bleibt es bei Carlotta der körperliche ihres Herzfehlers.
Allerdings findet sie, indem sie den „Verwachsenen” malt, einen Zugang in seine Welt. Inszenatorisch haut sie in die Pappwand, vor der nahe am Publikum die beiden ersten Akte gespielt werden, ein Loch in Form des Körpers des Gemalten: dies das Gemälde eben. Durch dieses klettern dann beide ins Elysium hinein, womit das Ende ihrer Beziehung eingeläutet ist: Carlotta hat ihren „Gegenstand” erfaßt. Indem die künstlerische Herausforderung bewältigt und ihre Formung vollendet ist, verliert Salvago das Interesse der Künstlerin. Gleichsam nebenbei erzählt Bieito, darin Schreker ganz gleich, eine durchaus allgemeine Tragik des Verhältnisses von „normalen” Menschen zu Künstler:inne:n.
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Wer erwartet hatte, der als „Skandel”regisseur berühmt gewordene wie berüchtigte Bieito würde Schrekers sehr oft als „schwül” denunzierte Musik und das erotisch enorm aufgeladene durchaus symbolistische Fin-de-Siècle-Sujet inszenatorisch noch besondere >>>> Treibhaus blüten treiben lassen, sieht sich diesmal freilich getäuscht. Ganz im Gegenteil fährt Bieito jedenfalls die ersten beiden Akte geradezu puristisch auf ein Kammerspiel zurück, das indessen weniger ein solches als mehr ein brechtsches Lehrstück ist. Demgemäß gibt es ein schon von der so nahe am Orchestergraben die Szene beherrschenden, fast nur als Leinwand für die Rückprojektionen dienenden Trennwand erzwungenes „Singen von der Rampe herab”, oft direkt face to face ins Publikum hinein – sehr viel mehr jedenfalls, als daß die Darsteller miteinander agieren würden. Vielmehr agieren sie mit uns. Damit wird alles Geschehen zum theoretischen Diskurs: Es wird reflektiert, nicht erzählt. Ich war ans therapeutische Nachstellen psychischer Dynamiken erinnert, für die ihrerseits die herbeigeschafften Kinderspielzeugrequisiten rein stellvertretende Funktion haben.
Unterlaufen, bzw. überhöhlt wird dies allein von der gleichzeitig durchsichtigen und doch derart expressiv gestalteten Musik, daß ich bei der Ouvertüre viele Momente lang denken mußte, der Klang komme nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern werde auch durch höher positionierte Lautsprecher übertragen. Ganz sicher, ob dem so war, bin ich mir bis jetzt nicht. Der Eindruck war jedenfalls frappant: Hier wurde tatsächlich die Projektions- zur Filmleinwand – für mich fast der stärkste Effekt dieser Aufführung.
„Ja, Filmmusik, das stimmt – aber ohne Bilder?” nölte in der Pause ein Zuschauer vom Fach. Er kritisierte etwas, dessen Funktion er zugleich doch erfaßt hatte. Gewissermaßen hat Bieito jeden möglichen Vorwurf einer geilen, nämlich indirekt affirmativen Inszenierung pädophiler Fantasien von vornherein desinfiziert. Das Problem ist nur, daß man es merkt und als spürbare Absicht übelnimmt. Allerdings läßt sich wegen Bieitos Purismus ebensowenig behaupten, er habe sich, die Nase voll im Trend, auf den Rücken des moralischen, bzw. moralistischen Mainstreams gesetzt. Nur daß der Lehrstückcharakter jede Ergriffenheit, so auch jedes MitLeiden und damit alles verwehrt, was Schrekers Musik unter die Haut gehen ließe. Anstatt also Salvagos Neigungen uns mitempfinden zu lassen und dadurch eine sinnliche Vorstellung seiner tatsächlichen Tragik zu vermitteln, bedient Bieito – unwillentlich, ja wider Willen – die Denkverbote zur Pädophilie, nämlich indem er uns nur denken läßt. So stützt noch der schrekersche, aufgetrieben ästhetizistische Raum die psychische Abwehr: Seltsam fühllos bleiben wir nach dem letzten Fallen des Vorhangs zurück.
Freilich, der Purismus wird mit dem dritten Akt aufgebrochen: Die Projektionswand fährt nach hinten, und es baut sich ein so funktionales, so wenig plüschiges Elysium auf, wie man von Bordellen der vorigen Zwanzigerjahre erwarten würde (wir leben heute ja wieder in solchen). Statt dessen blicken wir in architektisch kalten Aufbauprotz. In den zieht Carlotta, die Salvagos Pater-Pan-Gemüt begriffen hat und ihrerseits aber von Tamare mißbraucht wird, einen riesigen Stofftierteddy, legt sich auf ihn drauf und vögelt ihn gestisch – als verspräche auch ihr sich das Heil nur noch durch Regression. Für mich war dies, gerade in dieser auch dargestellten Verzweiflung, die einzige wirklich nahe Szene des Abends, beklemmend nah, furchtbar nah. Dann bricht sie, Carlotta, neu aus, indem sie Tamare ersticht. Es ist dies ein wirklicher Befreiungsakt, der jede Regression durchstreicht: insofern gute Utopie. Daß freilich Genua, der Spielort der Oper, Salvagos Elysium schließen läßt, deckt über die unheilvollen Geschehen erneut das Biedermeiertuch des Schweigens, ohne daß ihre Ursachen auch nur irgend aufgehoben würden.
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Fotografie: >>>> Jan Windszus

Innig im Leib bleiben mir, bis jetzt, die verlorenen Blicke Peter Hoares, der den Salvago spielt und singt; auch Carlotta, als er ihr begegnet, sieht er wie eine Fee aus Märchen an und kann entsprechend später nicht begreifen, daß sie ihn nach dem Wunder ihrer Zuwendung wieder von sich wegstößt. Wiederum ihre Tragik ist es – das zeigte bereits ihr Auftritt im ersten Bild – , daß sie erotisch eben nicht vom Mannskind Salvago angezogen ist, nicht über ihn als künstlerisches Sujet hinaus, sondern von dem Machtmann Tamare. Außerdem hätte eine für Salvago anziehende Mädchenhaftigkeit den von Schreker vorgesehenen Sopran gebraucht; Ausrine Stundyte singt aber eher – überdies vor allem anfangs stark tremolierend – im Mezzobereich. Zeitweise fühlte ich mich an Deborah Polaski erinnert. Das läßt die Figur älter wirken, als es Frau Stundytes tatsächliche Erscheinung ist. Sie fängt dies allerdings mit enorm präsentem Figurenspiel auf. Doch würde auch dieses eher auf ein reifes denn kindliches Begehren wirken. Kurz, für Salvago hat sie schlichtweg zu viel Sex, den Bieito sie auch einfordern läßt, siehe Bild 1. Hingegen die übrigen Personen bleiben – lehrstückgemäß – Stellvertreterfiguren, die auch immer Stellvertreterkinder in der Zange haben. Allein noch Michael Nagys, also Tamares, sehr ausgestellter Machismo fällt da so denkfern vitalistisch heraus, daß wir den Eindruck haben könnten, es habe ihm einigen Spaß bereitet, solch „männliche” Sau mal rauszulassen.

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Allerdings der eigentliche Star dieser Aufführung ist das Orchester der Komischen Oper Berlin. Was es unter Stefan Soltesz Leistung aus sich herausholt, ob nun mit oder ohne Lautsprecher, muß sich keine Sekunde lang hinter Barenboims gleich benachbarter Staatskapelle verstecken. Schrekers instrumentale Überblendtechnik jagt einem fast erschreckend in und um die Ohren; der zähe Kitsch seiner Schlageranleihen wird wirklich ästhetizistisch scharf, und die Momente puccinischer Parallelführungen heben sich fast bildlich hervor. Das ist ganz enorm. Und wenn es denn stimmt, daß Wagner das Orchester die Seelenvorgänge seiner Figuren erzählen läßt, so in ihm Schreker die eigentliche Szene – eben die Bilder, die der nölende Opernbesucher bei Bieito vermißt hat. Im Spiel des Orchesters hätte er sie finden können, und gegenwärtiger, als es irgendein Blockbuster aus welcher Traumfabrik auch immer vermöchte.

 

Schreker Portrait

Franz Schreker
DIE GEZEICHNETEN

Oper in drei Akten.
Dichtung vom Komponisten.

Inszenierung Calixto Bieito – Bild Rebecca Ringst – Kostüme Ingo Krügler
Dramaturgie Simon Berger – Chöre David Cavelius – Licht Franck Evin – Video
Sarah Derendinger

Joachim Goltz, Michael Nagy, Jens Larsen, Ausrine Stundyte,
Peter Hoare, Adrian Strooper, Ivan Turšić, Tom Erik Lie, Johnathan McCullough,
Önay Köse, Samuli Taskinen, Katarzyna Włodarczyk, Christiane Oertel, Christoph Späth, Mirka Wagner, Emil Ławecki
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, Vocalconsort Berlin
Orchester der Komischen Oper Berlin
Stefan Soltesz

Die nächsten Vorstellungen:
Sa 10. & So 18. Feb.,
Mi 11. März

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