III, 363 – Plausibilitäten

Beim Lesen über das Vergessen sich bei diesem Satz “… zufällig erworbene Reiseführer, irgendwann, Kaiserreich oder Panama, und die Südbahngesellschaft hat ein Kurhaus in Abazzia eröffnet, in der Nähe von Fiume, 14 Stunden von Wien entfernt, mit dem Schlafwagen …” (Aragon, Blanche oder das Vergessen, 82), an den anderen Satz erinnern, den man am Nachmittag gelesen hat: “Ein Angehöriger der Wiener Presse theilt mir gleichfalls mit, dass ihm Nr. 25 [der Fackel] als Reiselectüre gedient hatte und dass er sich alsbald aller Gefahren der Südbahnfahrt bewusst geworden ist. Er hatte Gratisbillet bis Abbazia, stieg aber in Vöslau aus…” (Kraus, Fackel Nr. 26, Mitte December 1899). Natürlich ist “Abazzia” falsch, und Kraus hatte in der Nr. 25 einen Bericht über die katastrophalen Zustände bei der Südbahn in sein Blatt eingerückt. Aber das war 1899, davon wird Aragon nichts gewußt haben.

Vielleicht wußte er insgeheim etwas vom Chemin des Dames, denn zwei Seiten später kommt diese Worttrennung: “Verdun-kelung”. Obwohl Verdun eigentlich woanders liegt. Es war aber in jener Zeit. Während ich neulich einen Zettel vollschrieb, wobei ich mich an eine Knutschszene zu erinnern versuchte in der Gasse, die um die Apsis von Santa Maria del Fiore in Florenz herumführt, um doch endlich mal wieder die Reihe der “Nebensätze” fortzuführen.

Immerhin, es geht darum, einen Zeitraum von zwanzig Jahren ins Lebenskontinuum zurückzuführen, das durch diesen Zeitraum in ein Davor und ein Danach zerfällt. Das Davor hat sein Kontinuum, das Danach auch. Was dazwischen liegt, zerbröckelt in einzelne Szenen. Allerdings auch das Davor und das Danach, aber ergibt anders als jene kein plausibles Menü, es wird nur gegessen, was jeweils auf den Tisch kommt. So ungefähr.

Aber das Kind weigert sich. Will nicht erwachsen werden. Wird aber dennoch erwischt, als es eine Stulle mit Rotwurst (so hieß sie doch? nee, Blutwurst hieß sie nicht) angeekelt über einen Zaun in Nachbars Garten schleuderte. Die Mutter hatte es gesehen, und es setzte eine Ohrfeige. Glaube ich. Aber ich weiß es nicht. Es wäre zumindest plausibel. Denn mein Vater schlug mich nur einmal, als ich einen Zehnmarkschein verloren.

Das Plausible dieses zwanzigjährigen “Zwischenaktes” (natürlich fällt mir dieses Wort ein, weil ich bei Aragon das Wort “Entr’acte” gelesen), den ich auch “Ehe” nennen könnte, aber nicht mag, ist schwer zu greifen. Wie etwa bei Philippe, den Marie-Noire bittet, mal so zu tun, sie zu würgen, und er sich dann während des Spiels für einen Moment lang bewußt wird, richtig zudrücken zu wollen, um dann in ein infantiles “Ich liebe dich” zurückzufallen.

Aber dafür bin ich mittlerweile zu alt. “Che numeri!” sagte ich vor ein paar Tagen zu Valda, der ich auf der Straße begegnete, und die mich meines nicht lang zurückliegenden Geburtstags wegen mit zwei Wangenküssen bedachte. “Che numeri!”, denn ich war bei 64 angelangt, und sie sagte, sie werde im März 65.

Und so führt einen das unwillkürlich in den März 1965. Da wohnten wir noch in der Klitsche. Vielleicht war ja schon das Eigenheimprojekt meines Vater begonnen worden. Was ich aber nicht mehr weiß. Das Grundstück war vielleicht schon da. (Und die dunkle Erinnerung, daß auf dem Acker daneben mal ein US-amerikanischer Hubschrauber niederging, denn die Amis hatten lange Zeit auf einer höher gelegenen Stelle dicht beim Dorf, das an der Grenze zum Ostblock lag, eine Abhörstation (an was man sich erinnert, wenn man anfängt, sich zu erinnern!) Auf jeden Fall waren wir 66, als die Fußballweltmeisterschaft in England stattfand und der Schweizer Schiedsrichter “UNS” um den Weltmeistertitel brachte, schon im neuen Eigenheim. (Irgendwann waren die Amis dann verschwunden).

Sieht jedenfalls so aus, als läse ich mich nun langsam ein in diese Blanche oder in dieses Vergessen. Alles ziemlich wirr, aber dennoch vernetzt. Von Italien und den bevorstehenden Wahlen Anfang März ein anderes Mal.

III, 362

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