III, 373 – Findevogel

Unter dem unseligen Schlagwort “Heimat” kann man eigentlich nicht verzeichnen, was ich gestern zufällig erst fand und daraufhin etwas ins Gedächtnis zurückrief, das darin seinen Auslöser fand. Es geht ja nicht um Traditionen, denen man zwar auch verhaftet war und sogar immer noch ist, sondern darum, daß “Heimat” eines jeden ureigenst persönliche Geschichte, so daß ein Heimatministerium nun wirklich keinen Sinn hat.

In dem, was als Heimat abgebildet und vorgespielt wird, liegen nichts als Identifizierungsmuster, die einem bekannt vorkommen, wenn nicht sogar vertraut. So war es wahrscheinlich neulich mit dieser Chiara, deren Mutter aus Schleswig-Holstein stammte. Also auch Gesichtszüge. Dasselbe passierte mir mit dem Film “Das weiße Band” von Haneke, den ich hier synchronisiert im Kino sah. Was mich faszinierte, waren die Gesichtszüge oder besser die typischen Physiognomien meiner Herkunftswelt. Erinnerungen an Fotos meiner Großmutter in der Dorfschule, auf der Tafel dahinter Sütterlinschrift.

Aber das ist nur bedingt eigene Geschichte. Scheint aber doch die Begriffe von “eigener Geschichte” und “Physiognomik” zu verquicken. Und geht sehr weit weg von dem “Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein”. So etwas geschah mir gestern in der Dämmerung: barocke Himmelswülste rund um den Turm der Kirche Sant’Agostino und tatsächlich schon Mauersegler mit ihren Schreien diesmal, weil näher schon und auch ein paar Mal direkt über dem Hof, in dem ich für fünf bis zehn Minuten Wurzeln schlug und meinen Augenbaum ins Himmelweite wachsen ließ.

Um es also kurz zu sagen: es gibt keine Heimat, es gibt nur ein Zuhause. Und sowieso: “Dichterisch wohnet der Mensch”. Dennoch dieses anheimelnde Gesicht. Da war was.

Wahrscheinlich muß auch damals etwas gewesen sein, was mich bezauberte auf einem Festabend in Suderwittingen (dieses Filmchen führt von meinem Dorf direkt dorthin (vertraute Straße, aber “Heimat”?)). Ein Schützenfest war es wahrscheinlich nicht, sondern einer dieser Schwofabende mit Biertheke im Sommer, zu denen man samstags hinfuhr, verteilt auf verschiedene Autos, jeweils in verschiedenen Dörfern, je nachdem.

Nur daß da etwas fesselte. Es läßt sich nicht mehr genau festmachen. Wahrscheinlich passierte nichts Konkretes. Das einzig Konkrete wird gewesen sein, daß ich als junger Bursch’ nicht aufhören konnte, um den heißen Brei herumzugehen, der mich dort festhielt. Bis am Ende niemand mehr da war, mit dem ich hätte zurückfahren können. So blieb mir nichts übrig, als die zwölf Kilometer im Morgengrauen schon zu Fuß zurückzulegen auf der Straße, die man im Filmchen sieht, nur eben in umgekehrter Richtung.

Vielleicht könnte man ja das “Heimatministerium” damit beauftragen, persönliche Erinnerungen zu schützen, was allerdings in die Millionen ginge und nicht in den Einheitsbrei, den es suggeriert. Nein, “Heimat” von Edgar Reitz würde ich nicht wieder sehen wollen. Einige Folgen davon sah ich damals im römischen Goethe-Institut Ende der neunziger Jahre.

Wie dieser Fußgang im Morgengrauen verlief, weiß ich nicht mehr. Es gab zwei-drei Träume in meinem Leben, die den Beginne des Gehens zum Thema hatten und recht ungefähr am Beginn dieser Straße angesiedelt waren.

Und Straßen sowieso, die man gehend absorbiert, sich aneignet. Ein sehr alter Text von mir machte das zum Thema: es geht eine Straße entlang, die heißt so und so, und am Ende geht man die Hermannstraße in Neukölln entlang (weiß nicht mehr, wo der Text ist, ob es  ihn noch gibt), auch die Kantstraße, die Via Cavour, die Via Nazionale gehören dazu.

als ich auf den tisch
die niederlage stellte
ward ich herr
über den sieg

und griff zum
evangelischen
gesangbuch
mit dem eingeprägten namen
auf dem hinteren einband

hüpf auf, mein herz
spring, tanz und sing

eine kleine tüte eis
kostet eins vierzig

les desmoiselles?
le damigiane!

wes namens du voll
des winkels sollst du sein
der da das dunkel
um neun uhr morgens
die die stimme des

ich bin’s

Ist von hier und suchte eigentlich etwas anderes. Findevogel hat keinen Namen. Leider.

III, 372 – Wer weiß?

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