Pädagogistisches Vorurteilsgeschwätz ODER Von einer Lesung. Als Arbeitsjournal des Donnerstags, den 12. März 2020. Mit Scriba Entuline.

[France Musique contemporaine:
Kaija Saarijaho, L’alle du songe]

Ort: Buchhandlung Hype & Schnulz, Berlin Zehlendorf
Tag: Mittwoch, 11. März 2020
Zeit: 19.30 Uhr mit Empfang
Eintritt: 10 Euro (nicht bezahlt)

Ich gebe, Freundin, zu, vorgewarnt worden zu sein. Ich gebe des weiteren zu, auf etwas hereingefallen zu sein, auf das Männer, sofern sie Heteros sind, in aller Regel hereinfallen. Auch hatte mich die schon zurückliegende Mitteilung gelockt, Frau Entula werde sehr umschwärmt, alle wollten mit ihr nicht zuletzt auch deshalb ins Bett, weil sie über erotische Themen schreibe. Sowas hat meine tiefste Sympathie sowieso, es ist, auch dieses gebe ich zu, ein enormer und nicht unbedingt ästhetisch begründeter Vorschuß, den ich solchen Autorinnen gewähre. Vielleicht ist er insgesamt allein meiner inneren Projektion verdankt oder, je nachdem, geschuldet. Ich weiß aber zu trennen. Am Ende spricht der Text.
So war es nur ein kleiner, nein, nicht einmal “Schock”, den ich empfand, als ich der mir nur von sehr schönen, reizvollen Fotografien bekannten Frau tatsächlich gegenüberstand, die sich ihrerseits aber freute, mich zu sehen. Der derzeitigen Hysterie halber hatten ihr viele, die kommen wollten oder dies vorgegeben hatten, kurzfristig abgesagt, so daß insgesamt vielleicht fünfzehn Personen anwesend waren, derweil sie mit, nehme ich mal an, fünfzig bis sechzig gerechnet hatte. Doch von den fünfzehn waren ein paar coronamutige sogar aus Leipzig angereist, wo eigentlich die Buchpremiere stattfinden sollte, es gesundheitsministerialhalber aber nun nicht mehr konnte. Und da es draußen nicht regnete, nein schüttete — wieder Gewohnheit hatte ich nicht das Fahrrad genommen, sondern die SBahn (weite Strecke vom Prenzlauer Berg bis nach Zehlendorf); das freilich vergönnte mir das Vergnügen, → für ein neues → Nabokovlesen das nächste Buch anzufangen, grandios! —, — weil dem also so war, wurde sogar eine Art Mut an mir bewundert, den ich durch mein Hiersein bewiesen. Nun gehöre ich zwar zu den “gefährdeten” over65s, bin aber gut bei Körper, und es bleibt einfach wahr, daß der beste Schutzschild der Geist ist. Es steckt sich nicht an, wer’s nicht (auch nicht unbewußt) will: Das funktioniert als ein Schirm wie Vitamin C, nämlich, sagen wir, einigermaßen. Trotz meiner notorischen Geldknappheit bin ich zur Zeit bester Dinge, gerade weil meine Arbeit so gut läuft.
Wie auch immer, irgend eine zumal erotische Ausstrahlung war nicht mal mehr zu ahnen, so daß das wahrscheinlich fünfunddreißig Jahre alte Foto, mit dem die Autorin, ihr Plakat und auch der Verlag werben, etwas eigentlich sehr Trauriges hatte, das mich nun umso gespannter und noch offener dem gegenüber gestimmt sein ließ, was den Abend eigentlich füllen sollte — aber nicht tat.

Nachdem wir ein bißchen Wein oder Sekt getrunken hatten, der zum Empfang ausgeschenkt ward, auch uns am Knabberzeug gütlich getan (Salzstangen, Salzbrezelchen, Erdnußflips, alles in Schälchen) und allmählich Platz genommen hatten (es kam noch vor der Lesung, während Frau Entuline unendlich einführend sprach, eine wunderschön dunkelhäutige Frau herein, die der Autorin einen langen Blumenstrauß überreichte), trat die Buchhändlerin ans Podest, um ihre Begrüßung zu halten. Die vornehme, durchaus distinguierte Dame, die auf die zur Zeit in ihrem Geschäft hängende Bilderausstellung hinwies (nicht wirklich überzeugende Zeichnungen zu aber ziemlich hohen Preisen: kleine Blätter um 400 Euro, größere bis zu 4000), schlug einen vorsichtigen Bogen zu kunstübergeifenden Veranstaltungen, auch Musik sei in Zukunft vorgesehen usw. Dann freute sie sich, und das war deutlich nicht geschwindelt, über Frau Entulines Anwesenheit und die ihres nun schon zweiten Romans sowie darüber, daß wir aus ihm hören dürften. Und gab der Autorin höflich das Wort.

Woraufhin diese leider zu sprechen auch begann. Salbungsvoll, mit immer wieder gehobenem Pädogikzeigefinger: Was es in der westlichen Welt alles Schreckliches gebe, die Paarbeziehungsstrukturen voran. Und zum Beispiel gebe es die “armen Schweine”, nach denen ihr Buch gegen anfänglichen Widerstand des Verlags benannt worden sei, die sich so viel Zukunft und auch Glitzer in ihren Karrieren erhofften und doch schließlich, oh Elend, abgehängt würden. Was bleibe denen denn? Welch schreckliches Schicksal, fürwahr. Ich mußte an → die Fliehenden denken, die vielleicht eben grad vermittels langer Staken zurück ins Mittelmeer gestoßen wurden — und sich vielleicht sogar noch wehrten, anstelle einsichtig schnell zu ertrinken oder doch so realistisch zu sein, nach Nahost zurückzuschwimmen. ‘s ist ja nicht das Nordmeer … Und wie sie dann, nun Frau Entuline wieder, auf ihre Idee gekommen sei. — Idee? Na gut, ein Businesspaar, der Mann geht fremd, die Frau will deshalb ein Meeting halten. Aber das erfahren wir überhaupt erst nach einer Viertelstunde ums Publikum gleichsam buhlenden, die eigene Bedeutsamkeit ständig hervorhebende, mit Augenrollen und weiteren Pädagogikfingern habtachtete bedachten verschiedentlichen Gestikulationen.
Ich, unruhig bereits, rück hin und her auf meinem Klappstuhl. Jetzt was rauchen dürfen! Ah, schtümmt, meine eCigarren. — Ich sauge, meine Nachbarin fängt zu husten an und Frau Entuline mit endlich ihrem Text.
Nun jà, knappe Sätze, manche haben acht Wörter, die dennoch von rhetorischen Vortragspausen gequält sind. Flache Sprache, aber das heißt ja noch nichts. (Noch jetzt kann ich nicht sagen, ob das Buch was taugt. Ich hörte einfach nicht genug, konnte nicht mehr hören und wollt es schließlich auch nicht länger,

denn:)

Nachdem der Vortrag dieses ersten Kapitelchens geendet, es mögen fünf Seiten gewesen sein, über die sich fingerklebrig die entuline’sche sei es verbale, sei’s gestische Rhetorik legte, also nachdem er geendet, schaut die Autorin bedeutungs-, aber sonst nichtschwanger, von was auch?, auf und fragt: “Können Sie sich vorstellen, daß es so etwas gibt?”
Ich denke aus Notwehr, meint sie das ernst?
Tat sie.
“Kann es sein, daß Paare derart seelenlos reagieren?” Sie meint, daß die neben ihrem Mann im Bett liegende Frau, anstelle mit ihm über den soeben offenbarten Seitensprung jetzt gleich zu sprechen, eben dieses Meeting mit ihm anberaumt hat — also daß die Struktur der Beziehung von der der angestrebten Kariere geprägt sei, den Auspizien mithin des Karrierewollens. Extrem existentiell, fast existentialistisch. Wieder greift einer nach dem Staken, der ihn erneut unter das Meerwasser drückt. Was soll’s auch? Ein versehentlich aus dem Fluchtboot geglittener Säugling ist sowieso schon ertrunken. Und bei PENNY gibt es keine Konserven mehr, auch nicht bei LIDL. Außerdem frage ich mich, was die Leute mit all dem Toilettenpapier machen. Worüber freilich das nun wahrhaft selbsterfahrungsgruppige Gespräch in der Buchhandlung wogt, wallt und kabbelig seet, um sich gegenseitig und der Autorin ihrer Vorurteile als ganz gewisse Wahrheit zu versichern; ein Gequassel totalen Bescheidwissens jenseits des überhaupt gehörten Kapitels. So baute sich frau ihren Fanclub. Literatur spielt gar keine Rolle.
Immerhin, eine junge Frau zwei Stühle weiter, wendet zurecht ein, es komme darauf doch gar nicht an, sondern gut erzählt müsse etwas sein; ob es auch wahr sei, sei dann doch ohne Bedeutung. Nur daß wir Erzähltes noch kaum gehört haben. Es gehe um Glaubwürdigkeit, wobei sie, die junge Frau, sie im Gehörten allerdings fand, anders als ich, der ich dergleichen nicht fand. Sofern ich nämlich mitbekommen hatte (in all dem Geschwätz war es schwer, sich überhaupt noch zu erinnern), waren nicht einmal die Figuren glaubhaft gewesen. Was schon bei den Namen begann. Der ihre, also der Heldin, hat was mit dem Apfelbaum zu tun, und ihr Partner ist pikanterweise mosaischer Herkunft und mit dem, nun jà, Gedanken befaßt, sein lockiges Haar sehr kurz zu schneiden, damit er, Zitat, “weniger jüdisch” aussieht — eine so wohlziemlich kalkulierte Provokation, daß ich sie “durchschaubar” schon gar nicht mehr nennen kann und erst recht so nennen nicht mag.
Gequassel, Gequassel, Gequassel.
Da wird es mir zu multibunt. “Können wir vielleicht mal etwas aus dem Roman weiterhören? Deshalb bin ich hier, nicht um mich zu befindlichen.”
“Aber ich halte meine Lesungen so!” entgegnet da, selbstbegeistert, Scriba Entuline, die Wohlfahrt ihrer Fans im Rücken nicht, doch vor der Brust.
“Dann werde ich nicht bleiben,” sage ich, stehe auf, gehe zur Garderobe, ziehe meinen Mantel an, setze den Hut auf, ah! nicht das Rolledermäppchen mit den eCigarren vergessen!, das auf dem Tisch mit den Weingläsern liegt — und schreite zwischen Publikum und Lesepult zur Tür. Die distinguierte Buchhändlerin läßt mich höflich hinaus, sehr beherrscht, sehr freundlich, vollkommen grande dame: “Es war dennoch schön, daß Sie hier waren.”
Ein bißchen verpeint lächle ich ihr zu, weil sie mir recht leid tut. Und ich trete in Regen und Frühnacht. Jetzt acht Minuten Fußweg, dann, bis Gesundbrunnen, fünfundzwanzig Minuten Schadloshaltung durch Nabokov und von dort, nach dem Umstieg, die kurze Fahrt zur Prenzlauer Allee. Weitere drei Minuten durch den Regen zu Fuß, unten aufschließen, durch den ersten Hinterhof ins Quergebäude, drei Etagen hinauf und die Tür der Arbeitswohnung öffnen:

So komm ich nun doch noch zum Abendessen, Kartoffeln und Quark. Dieser schon fertig vom Vortag, jene brauchen knapp zwanzig Minuten an Kochzeit. Und was mir Benjamin Stein war, Geliebte, der nun — in andren Belangen — mir wieder half, das erzähl ich Ihnen später. Hier wären’s Perlen vor die Sau.

Ihr ANH

P.S.:
Anders als Entulines an einen berühmten Pariser
Chansonier
erinnernder Name vermuten läßt, hat
sie nur einen
indirekt französischen, nämlich
huge-nottischen Her
kunftshintergrund und ist
demzufolge spätestens
seit Mitte des 18. Jahrhun-
derts ein auch als Autorin
deutsches Phänomen,
auf das Volker Hages
Wort vom → Fräuleinwunder
dennoch seit bereits zwanzig Jah
ren nicht mehr
angewendet wer
den kann; heute wäre es, das Wort,
ohnedies grob wein
steinverdächtig.

 

4 thoughts on “Pädagogistisches Vorurteilsgeschwätz ODER Von einer Lesung. Als Arbeitsjournal des Donnerstags, den 12. März 2020. Mit Scriba Entuline.

    1. Hab ich ja nicht, sondern bin halt gegangen. Dabei war ich wirklich interessiert, also gespannt auf das Buch. Wie geschrieben, ob es nicht doch zumindest ein bißchen gut ist, kann ich nach wie vor nicht sagen. (Um mal wieder an Philip K. Dick zu erinnern, der ein nun wirklich erbärmlicher Stilist war, aber doch von grandioser Fantasie – ein weitaus größerer Liebig’s Brühwürfel, als es Joyce für Tucholsky gewesen.)

  1. Es steckt sich nicht an, wer’s nicht (auch nicht unbewußt) will: Das funktioniert als ein Schirm wie Vitamin C, nämlich, sagen wir, einigermaßen.

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