Angstbauch
Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger
(Die Erschießung des Ministers), Lamento | Roman

[Tatsächlich mein erster Roman, 19979/80 — noch vor dem 1983 erschienenen Die Verwirrung des Gemüts —geschrieben, aber erst 1986 herausgekommen. Der ursprüngliche, für mich bis heute einzig gültige Titel Die Erschießung des Ministers war noch da nicht durchzusetzen, der → “Deutsche Herbst” nach wie vor allzu spürbar. Die, woraus hier zitiert wird, bei dielmann vierzehn Jahre später erschienene “Ausgabe Zweiter Hand” behielt den höchst unschönen Ersatztitel, aus verlegerisch-bibliografischen Gründen. — Zusätzlich siehe → dort.
ANH]


[Umschlag Ausgabe Zweiter Hand

Frankfurt am Main 2000]

(…) da ist man plötzlich Star, die Scheinwerfer drehen sich auf Sie ein, Sie dürfen nicht, sondern müssen sich öffentlich äußern, Sie sind nicht mehr Miesling, sondern ein Unhold, gewiß, daß man sich von mir abwenden wird, mag sein, selbst die Kleinen Leute verachten mich jetzt, aber in Wirklichkeit sind sie neidisch, in Wahrheit, Herr Kommissar, fühlen sie mein Recht, sie haben nur Angst, diese elende Angst, diese uns allen bekannte Angst, wehe wenn die Trauer dann blutet! ich werde, Herr Kommissar, in den Leuten hockenbleiben als kleines spitzes, als schlechtes Gewissen, so daß die Putzfrau, Herr Anwalt, der Angestellte, Marianne, wir alle, Christine, hätten mit gleichem Recht erschossen werden können, nur daß wir nicht so wichtig sind, nicht auf der öffentlichen Bedeutungsskala unserer sogenannten Demokratie, daß ich nicht lache! anstatt also mit dem Geld nach Jamaika zu fliegen, das ich mir vorgestern abend aus Dr. Schulzes Safe genommen hatte, kam ich aus dem Blick der Augen nicht raus, sie hielten mich an Schnüren, als wären die Pupillen Reißzwecken und diese mir in Schultern Nacken Hinterkopf gepinnt, unsichtbare Fäden banden mich an die Iris, weshalb ich, an diesem Morgen, noch liegenblieb, abends aber, welche Befreiung! den Minister erschoß, nun war ich nicht länger feige, nicht vor mir selbst, nicht für Sie und schon gar nicht vor meinem Sohn, das ist das Wichtigste, Herr Kommissar, glauben Sie mir, denken Sie also nicht, Herr Anwalt, daß ich irgend etwas bedauerte, nein, auch keine Ausflüchte gebrauchen will ich mehr, ich fühle mich wohl, oh wie wohl ich mich fühle! trotz meiner Trauer, denken Sie nur, ach mein widerwärtiger Bauch, ach diese Schmerzen immer im Kreuz, nein, ich genieße mich jetzt, genieße es, ein Mörder zu sein, ja ich bin glücklich, Herr Kommissar, denn niemand kann mich nun mehr zu einem Spitzel machen, weil: wer hat, was er will, ist nicht käuflich, insofern bin ich mit unserer Scheidung, Marianne, vollkommen einverstanden, ja, Herr Anwalt, schreiben Sie: Beklagter stimmt vorbehaltlos dem Scheidungsbegehren der Klägerin zu, tief zerrüttete Ehegemeinschaft, Versöhnung unmöglich, in Versöhnung steckt Sohn, sehen Sie, wie mein Mulattenkind mich noch in den Begriffen verfolgt? es ist einfach zu spät, nein, zu früh, was hab ich für ein Glück, andere erleiden das Elend der Büros bis an ihr Ende, ich nicht, Herr Anwalt, in meinen Augen projezierte sich auf die geschlossenen Lider an diesem Morgen Christine, nackt, jawohl, so wie ich sie unter der Dusche gesehen hatte, ja, auch das gebe ich zu, daß ich mir bisweilen vorgestellt habe, wie sie liebte, mich liebte, Marianne, nein, ich finde solche Fantasien normal, finde sie menschlich, Herr Anwalt, und doch, es sah so lächerlich aus, Christines schlanker zierlicher Körper und meine Vernachlässigung, ach mein Bauch, diese schwitzige Schludrigkeit, mein Verzweiflungs-, oh über meinen Schlemmerbauch, Hoffnungslosigkeit in jeder Speckfalte, eingekapselt vom Fleisch wie Viren in weißen Blutkörperchen, amöbig, wenn sie der Körper neutralisieren will, er läßt die Not von Fett umfließen, das nimmt sie auf und will sie verdauen, der Bauch ist fleischgewordenes Unglück, entzündetes Unglück, angeschwollenes errötetes Unglück, darin fließt das Leben langsamer, damit noch mehr Fett sich ansetzen und noch mehr Not verkapseln kann, so unheilvoll stülpt er sich vor und will Futter, immer mehr Futter, so schwer liegt die Not unserm Fett im Magen, denn sie läßt sich nicht verdauen, verpacken aber schon, ein ständig wuchernder Angstkrebs, dessen Herrschaft ich haßte, er verkrüppelte mich, nahm mir die Beweglichkeit, wie oft hatte ich Schmerzen in den Herzkranzgefäßen, denn der Keislauf ertrug es nicht, all das Fett, die Biergeschwulst Gemütlichkeitsschwellung, Metastasen lappen übereinander Reifen Ringe Wülste, an den Oberschenkeln der Seele, man muß uns Fette unschädlich machen, unsere Behäbigkeit stinkt, Bäuche tragen Weh, Speck verdirbt den Charakter, vernichten wir das Elend, das unsere Bäuche gebiert, o über die Wehmut! wie heulte ich auf Klo, als mein Sohn, der Mulatte, fortgegangen war, unten im Hausflur stand er und lauschte, und ich hoffte, daß er mein Schluchzen vernehme, daß es ihn barmherzig stimme, aber er verzieh mir nicht, Herr Kommissar, so einfach machte er es mir nicht, er wollte, Marianne, seine Rache, wollte, Herr Anwalt, daß ich sie am Minister verübte, und als ich vergebens hinabgerannt war, Seitenstechen Atemflattern, war niemand mehr da, der mich hätte trösten können, vielleicht war er deshalb verschwunden, damit er nicht in Versuchung geriert, anstatt mein Versucher mein Tröster zu sein, so schleppte ich mich heim, aber auch dort wußte ich nichts mit mir anzufangen, Marianne roch nach Zwiebeln, die ganze Wohnung roch nach Zwiebeln, sogar im Schlafzimmer stand einem der Geruch bis über die Lippe, Bratkartoffeln mit Spiegelei, wer satt ist, vergißt, und wer vergißt, dem wächst der Bauch ins Unermeßliche, es gibt keine Entschuldigung, die Blicke meines Mulattensohnes entschuldigten nichts, Christines Geäug klagt mich an, Herr Kommissar, schauen Sie nur, blaßkrank sieht sie aus, das klagt auch dich an, Marianne, klagt Sie an, Herr Anwalt, die Staatsanwaltschalt möge Strafanzeige erstatten, und wir treten als Nebenkläger an, wir klagen gegen Unbekannt, bezichtigen Unbekannt der Erpressung Nötigung Lüge, des Diebstahls und Mißbrauchs Abhängiger, sogar, Herr Kommissar, des Mordes, alle treten wir als Zeugen auf und sind zugleich die Beschuldigten, sind Richter und Angeklagte, Sie, Herr Anwalt, du, Marianne, Sie, Herr Kommissar, und auch der Minister, weil man die Toten ebenfalls vernehmen soll, wäre eine solche Verhandlung möglich, Herr Anwalt? wenn sie aber nicht möglich ist, dann kriegen Sie heraus, weshalb nicht, und wenn Sie es herausbekommen haben, nehmen Sie es in Ihrem Strafantrag auf, und dann wollen wir zusammenrücken, ja, lassen Sie uns zusammenrücken, Herr Kommissar, lassen Sie uns gemeinsam nach dem Feind suchen, aber vielleicht ist schon die Vorstellung eines Feindes der Feind, billig wie Landserheftchen, wie auch unsere Vorstellungen von Ehe Freizeit Arbeit aus Sylviaromanen abgeschrieben sind, sehen Sie, Herr Kommissar, vielleicht habe ich schon deswegen einen Minister erschossen, ist das nicht gleichgültig? zumal er so aussah wie ich, alle Minister sehen uns ähnlich, Ihnen ähnlich und mir, es handelt sich um eine Ähnlichkeit dabei, um eine Übereinstimmung der Charaktere, daß man von Selbstmord sprechen kann (…)
Dolfinger (Ausgabe Zweiter Hand), S. 67 – 71

 

 

Alban Nikolai Herbst
Die blutige Trauer des Buchhalters
Michel Dolfinger (Die Erschießung
des Ministers)
Lamento | Roman
Göttingen 1986, Frankfurt am Main 2000
→ bestellen

 


[Umschlag der ersten

Ausgabe, herodot 1986]

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .