Sonnabend, der 25. Februar 2006.

7.16 Uhr::
[Jarrett, Konzert in Napoli, 1996.]
Dieses Konzert, offenbar (nicht von mir) privat mitgeschnitten und ebenso offenbar nie für den Markt freigegeben, weshalb ich auch >>>> keinen direkten Link darauf legen kann – dieses Konzert ist mir eines der liebsten von Jarrett geworden, und zwar gerade der erste Teil. Wie er da auf der Basis einer kleinen Akkordfolge versucht, ein Thema zu finden, wie ihm das über alle erdenklichen Variationen und Modulationen hinweg nicht gelingt, und wie er es am Ende d o c h schafft, aber da ist ihm das Thema zu banal, und er verwirft es gleich wieder – das ist in seiner Musikalität ganz hypnotisch. Manchmal kämen einem die Tränen, ginge nicht diese Melancholie auf einen über. So daß man nur lauschen und weiterlauschen möchte. Eher empfinde ich das Stück darum als eine Meditation über die Musik-selbst.


Ich habe bis fast sieben Uhr geschlafen, wachte irgendwann früher auf, aber mochte nicht aus dem Bett, zumal wieder der Junge zu mir hinüberrückte, sich an mich drängte, seinen Kopf auf meinem Bizeps, so schlief er weiter, schlief auch ich weiter. Nun bin ich halt erst sehr spät an den Küchentisch der Kinderwohnung gekommen, aber ohne jede Panik und ohne schlechtes Arbeitsgewissen. Denn gestern nacht, plötzlich, fiel mir die nächste nötige Drehung für ARGO ein; da führten Katanga, der gegen halb elf heimgekommen war, und ich ein langes Nachtgespräch. Ich notierte schnell den Einfall dabei, warf ein paar kursiv ausgezeichnete Zeilen ins RohTyposkript, dann sprachen wir weiter.
Vorher war Lakshmi dagewesen, lange dagewesen. Sie hatte nachmittags bei der Faschingsfeier unseres Jungen hineinschauen wollen, es aber wegen des Jobs nicht geschafft. „Ich könnte doch eigentlich noch mal zum Abendessen…“ Wir aßen lange hier am Küchentisch, ich hatte ihn gedeckt, eine frische wundervolle Avocado besorgt, die Wurstpralinen, die bei dem Jungen so angekommen sind. Usw. Danach spielten wir zu dritt im Zimmer des Jungen. Sie fragte nach dem Experiment-Vulkan, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt habe. „Au ja, Papa, laß uns den Vulkan vorführen !“ Das ist jedesmal eine ziemliche Schweinerei, aber wir bauten ihn auf. Der Junge nahm die Schutzbrille vor die Augen und begann, nach vorsichtiger Leitung meinerseit, die Chemikalien zu mischen. Mit Donnern und lichtflackernd war bereits der erste Ausbruch, einer der lapillischleudernden Art, perfekt. Man verwendet rot gefärbtes Wasser, außerdem Kaisernatron und Zitronensäure, die in dem Vulkan das rote Wasser durch den Schlot hinaufschießen lassen. Je nach Mischungsverhältnis spritzt der Vulkan oder läßt das Wasser aus dem Krater lavagleich zu den Seiten fließen. Man kann auch experimentieren: Nach dem zweiten Ausbruch, für den wir Backpulver zusetzten, kam Adrian auf die Idee, auch noch Zimt und Zucker hinzuzutun. Auch ich hatte keine Ahnung, was dann passierte. Lakshmi zog Richtung Fenster ab und sah sich den dritten Ausbruch ‚aus sicherer Distanz’ an. Er war klasse.
Einen vierten Ausbruch wollte ich dann nicht mehr, es war ja erstmal sauberzumachen. Und auch danach noch blieb Lakshmi hier, wir spielten bis fast halb zehn. Dann ging sie, wir winkten ihr aus dem Erkerfenster des Kinderzimmers nach. Und lange las ich dem Jungen noch im Bett vor. Er schlief mit sozusagen offenen Augen ein, und ich ging, voll eines leisen Glücks, an den VERBEEN. Dann kam Katanga heim, und wir erzählten. Gegen eins lag ich im Bett.
Nun schau ich, sowie ich das DTs skizziert habe, was sich heute früh noch an ARGO tun läßt.

Ich bin vielleicht deshalb so ruhig, obwohl ich heute früh nicht richtig an die Arbeit kam und wohl kommen werde, weil sie wegen der >>>> SAN-MICHELE-Produktion von Montag bis einschließlich Mittwoch sowieso unterbrochen werden muß; alles, auch die Tage, wird dann im Zeichen der Aufnahme stehen. Vielleicht schreib ich jeweils frühmorgens noch etwas an ARGO, aber tags werde ich mich jeweils auf die Regie vorbereiten, die alle drei Tage lang von 18 Uhr bis 1.30 Uhr in der Nacht im DeutschlandRadio zu führen ist. Noch bin ich nicht entschieden, welche Musiken verwandt werden sollen, nur der Dallapiccola steht fest. Dummerweise ist mein Musikcomputer immer noch nicht neu eingerichtet und steht nur herum. Jetzt könnte ich ihn, wie auch für VERBEEN, sehr gut brauchen. Ich werde Ihnen, nachdem das Hörstück am 17. März vom Deutschlandfunk ausgestrahlt worden ist, auch dieses Typoskript wieder als herunterladbare pdf auf die fiktionäre Website stellen. Wann genau, wird Ihnen über den Newsletter mitgeteilt werden; also tragen Sie sich bei Interesse bitte >>>> dort ein.

23.24 Uhr:
Mit einem dreiviertel schlafenden, sehr tapferen, dann, endlich in unserem Bett, tiefglücklichen Jungen soeben nachhause zurückgekommen. War ein schöner Abend; die Gastgeberin hatte eine Babysitterin bestellt, die sich so sehr mit Adrian anfreundete, daß er – halb aus Müdigkeit, halb aus Trennungsschmerz – weinte, als wir aufbrachen. Sein Zugang zu Frauen ist unfaßbar, auch wie e r sich einläßt, wie er charmiert, wie sie sich charmieren l a s s e n. Ich bin wahnsinnig froh darüber und hoffe, daß er sich das erhalten kann. Denn ich selbst war ja furchtbar gehemmt und angstbesetzt, vor allem später in der und lange nach der Pubertät. Ich möchte so gerne, daß er diese lockere Innigkeit beibehalten kann.
Die Fahrt mit S- und U-Bahn war mehr als interessant. Da ich meist mit dem Fahrrad unterwegs bin, auch nachts, bekomme ich sowas sonst nicht mit: Zweidrittel der wochenends nächtlich Fahrenden haben Weinflaschen dabei, die sie völlig ungeniert zu Munde führen, auch junge Mädchen, eben nicht nur Halbstarke, auch ältere Frauen, es ist gar nicht recht zu fassen. Dabei sind die Leute nett, gut aufgelegt, wenn man sie anspricht oder sie mich ansprechen, oft einen Scherz auf den Lippen, der leicht spöttisch ist, auf den man ebenso spöttisch reagiert, und reagiert man schnell und besser formuliert, fangen sie an zu lachen und genießen das. „Ist das ein einziger oder hast du noch mehr davon?“ fragt mich jemand mit Blick auf den schlafenden Jungen, dessen Kopf auf meinen Oberschenkeln schenkeln ruht, während meine Hand in seinem Haar spielt. „Ja“, sage ich, „jedenfalls soweit mir bekannt ist.“ „Gute Antwort“, sagt sofort eine Blondine um die dreißig, „k l a r e Antwort“, und sie lacht.

Für die Arbeit war der Tag erstaunlicherweise nicht einmal schlecht; immerhin eine Seite ARGO und ein ganzes B i l d, das mir nachgeht und das ich morgen bruchlos fortsetzen kann. VERBEEN kam wenig voran, dagegen, aber die vorbereitende Hauptarbeit ist auch getan, hier geht es jetzt vor allem um Realisierungen: Interviews, Musiken interpretieren, sowie ich sie denn endlich haben werde usw. Das läßt mich völlig ruhig. Imgrunde geht es nur noch darum auszuführen; alle Wegweiser sind abgesteckt, so daß ich bereits das Gefühl habe: fertig.
Jetzt guck ich noch meine Post an, trinke einzwei Gläser Wein und werd dann ebenfalls schlafen gehen. Ich wünsche Ihnen, sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren, eine schöne tiefe Nacht.