Zwischen den Jahren (1). Arbeitsjournal. Montag, der 27. Dezember 2010. Konsolidierung. „Schließt” man ein Jahr eigentlich „ab”?

5.45 Uhr:
[Arbeitswohnung. Händel, Erste Sonate für Cembalo, HWV 426 (Gould).]
Das haben Sie lange nicht mehr gelesen, gell?: „Latte Macchiato. Morgencigarillo.” Wir täuschen uns in unseren Mustern, Formaten und Modulen. Aber diese Täuschung macht uns handlungsfähig. Man kann sogar sagen, daß uns Natur, indem sie Zyklen vorführt, den Weg weist: Zyklen sind ungenaue Muster, ganz wie Allegorien; wir perfektionieren sie zur Präzision, was zwar in eine entfremdete Welt führt, die möglicherweise den Boden verliert, aber zugleich es überhaupt ermöglicht, daß die Art Mensch sich derart ausbreiten konnte. Kann sein, daß sie sich die Lebensgrundlagen dabei zerstört; Fakt ist erst einmal, daß sie sich über genau diesen Prozeß der Präzisierung Lebensgrundlagen geschaffen hat, zu denen nicht zuletzt der medizinische Fortschritt gehört. Politik, dann, ist eine Notwendigkeit der Fülle. Trotzdem spüren manche von uns einen Verlust, und Künste versuchen zu halten, was verloren ging und geht, und auch dieses in Muster, Formate und Module einzufassen, die wir dann aber „Form” nennen.
Mit diesem Gedanken erwachte ich heute früh, schlummerträumte noch ein wenig; außerdem stand mir ein extrem elegantes Bild der Löwin vor Augen, das sie mir gestern gemailt hat; es verbindet den Klang der Frühstück-bei-Tiffany-Verfilmung Blake Edwards mit des Teufels Prada. Was gibt uns ein Buch gegenüber dem Film? fragte ich mich als nächstes. Bleibende Bilder – eben weil sie in ihrem je Persönlichen ungenau sind, während der Film die Genauigkeit durch die Vorgabe der bestimmten – modulen – Schauspieler-Erscheinungen setzt und sie damit garantiert? – Ich weiß, daß die Frage >>>> mit dem Hörstück zu tun hat, um das bereits gestern die Diskussionen eingesetzt haben, in den Kommentaren, die sich aber schnell erledigt haben werden: ein Hörstück geht in den Äther, dann ist es weg. Was „bleibt”, ist ein Eindruck, eine Sphäre, ein Klang eben. Ein Hörstück liegt so genau auf dem Grat zwischen wörtlichem Ausdruck, nämlich Literatur, und Musik, daß es sich nicht konkret fassen läßt; selbst auf CD würde es in aller Regel ein- und vielleicht zweimal gehört, dann wäre es „vorbei”. Anders das Buch, dessen Seiten sich zurückschlagen lassen. Anders die Musik, deren Kraft sich eigentlich immer erst im Wieder- und Wiederhören entfaltet, der eben dieses Wieder- und Wiederhören (ein inneres Wieder- und Wiedersingen) den Character gibt. Anders sowieso die Bildenden Künste, deren Character zeitlose Anwesenheit ist, die zumindest prinzipielle Allgegenwart.

Ganz nebenbei: wenn mich jemand „Herr Ribbenherbst” nennt, muß er nicht nur damit rechnen, daß sein Kommentar gelöcht werden wird, sondern er kann davon ausgehen. Auf sachliche Fragen in den Kommentaren werde ich eingehen, „reine” Urteile unkommentiert stehenlassen, seien sie „gut” oder „schlecht”. Im übrigen, es ist eine rechtliche Grauzone, kann sich, wer das Hörstück nachhören möchte, über >>>> das fiktionaere Kontaktformular an mich wenden. Ich nehme an, daß hernach gefilterter, weil besser begründet, diskutiert werden wird. Keine Frage, daß das Hörstück von nun an kursieren wird, möglicherweise auch im Netz, da sehr wahrscheinlich einige Hörer es mitgeschnitten haben werden. Das bedeutet: man wird es sich zu besorgen wissen. Daß ich selbst das Stück nicht anbiete, liegt aus rechtlichen Gründen auf der Hand.

Weihnachten mit der Familie a l s, quasi, Familie; sogar rodeln war ich mit den Kindern. Es waren die schönsten weißen Weihnachten, die sich vorstellen lassen. Jetzt muß ich mich aus meinem >>>> Rückzug berappeln, auch wenn noch der Zwillingskindleinsgeburtstag, die Abschiedsfeier für U. und dann Silvester und Neujahr anstehen. Mit der letzten Hand vor Buchlegung der >>>> Bamberger Elegien bin ich kaum weitergekommen und g a r nicht mit der Umarbeitung der >>>> Fenster von Sainte Chapelle. Seit Ewigkeiten, kommt’s mir vor, nicht mehr in der Oper und nicht mehr im Konzert gewesen. Da liegt einiges an ästhetischer Arbeit brach. Wohl deshalb kam ich heute früh auf den „Abschluß” des Jahres: also mein Traumbewußtein kam darauf und züngelte mir aus dem Erwachen bis in diesen Text. Geldwege sind zu besorgen, gleich um neun will ich losziehn. Erst aber mal einen zweiten Latte macchiato. Und während ich ihn schlürfe, bereite ich die letzten Papiere zum – sic! – „Abschluß” des Hörstückes vor: all die GEMA- und VG-Wort-Angaben, die zu melden sind, – diesmal ein ziemlich umfassendes Unternehmen.

Meine Augen werden schlechter und schlechter; ich muß unbedingt das „Ding” mit der >>>> Operation angehen, auch wenn ich mich ein wenig fürchte – nicht direkt vor ihr selbst, sondern vor dem Leerlauf, der wenigstens eine Woche lang eintreten wird, weil ich dann g a r nichts sehen werde können. Halte ich mich in dieser Zeit in einem Hotel in Hamburg auf? Oder sollen mich Freunde betreuen? Wie komm ich mit verbundenen Augen nach Berlin zurück? Das sind so die Fragen.

16.34 Uhr:
[Pettersson, Dritte Streichersinfonie.]
Schon enorm, welch bekannte Kraft Petterssons Musik wiederentfaltet. Davor, übrigens, auch Wolfgang Rihms „Jagden und Formen”. Strenge Zwölftonmusik finde ich zwar interessant, aber sie berührt mich nicht oft. Ausnahmen gibt’s. Meine Vorliebe gilt, wie fast überall, den Mischformen, die keine Grenzen akzeptieren – weder die zum „reinen” Geisthören noch die zum Kitsch. Ich höre, wie ich schreibe.

Wege erledigt. Auf den großen Fahrbahnen kommt man sogar gut mit dem Fahrrad voran; allerdings bin ich dbei nicht besonders schnell. Die Seitenstraßen hingegen lassen sich nur schiebend passieren. Cigarillonachschub, vor allem aber CD-Post versandt. Hier als Mails und >>>> bei Facebook sind eine ganze Reihe wirklich beglückter Kommentare zu dem Hörstück eingegangen, was nun wieder mich beglückt. Meine Schlammwerfer halten sich zurück, bis auf den einen Ribbenherbstler, den ich unterdessen, ins Sachliche rückgeschoben, selbst >>>> wieder eingestellt habe. Sogar beim WDR-direkt gab es Nachrichten. Dennoch, eine permanente online-Präsenz des Stückes wird es nicht geben, schon aus urheberrechtlichen, bzw. Kosten-Gründen. Mit der Sekretärin noch einiges wegen der kniffligen Gema- und VG-Wort-Meldungen telefoniert; auch im Nachhinein macht das Stückerl einige Arbeit.
Evtl, schläft mein Junge heute hier; aber die Geschwisterchen haben morgen Geburtstag. Daran wird er nicht gedacht haben. Er wird dabeisein wollen, wenn sie aufwachen. Ich meinerseits werde zum Frühstück hinübergehen. Sie merken schon: für „richtig” konkret-konzentrierte Arbeit will sich der Raum noch nicht öffnen. Für den Januar bedeutet das, wieder rigoros um halb fünf Uhr morgend aufzustehen, bis mittags am Kinderroman zu schreiben, dann mittagszuschlafen (oder wieder ins Sportstudio zu gehen) und nachmittags bis in die späten Abende Bamberger Elegien und Fenster von Sainte Chapelle überarbeiten. Bei den Elegien hab ich mich an einer bestimmten Stelle festverfranst.
Sollte mein Junge sich umentscheiden, fahr ich spätabends in die Bar; der Profi kämpft sich grad mit dem Schlitten aus dem Rheinland nach Berlin. 160 Pferde ziehen die Karosse.

(Zum Hörstück >>>> dort noch ein paar rechtliche Anmerkungen.)

20.35 Uhr:
[Pfitzner, Das Herz.]
Fisselkram, Fisselkram, Fisselkram. Bis jetzt. Immerhin geht die Hörstück-Diskussion jetzt zu den für Wohl und Wehe jeder Collagenkunst >>>> eminent wichtigen Urheberrechtsfragen. Vielleicht wird den Leuten nun langsam klar, um was es hier eigentlich g e h t – und wer tatsächlich kassieren und/oder verhindern will. Das ursprünglich zum Schutz der Künstler gedachte und entwickelte Recht hat sich scharf-kapitalistisch gegen das Medium des Künstlers gekehrt: nämlich gegen die Kunst selber. Auch das ist eine Dialektik der Aufklärung, die, wie ich >>>> dort schrieb, sich längst gegen die Formen der Kunst gewendet hat.
Noch keine Nachricht vom Profi. Hoffentlich steckt er nicht im Schnee fest mit seiner Karosse.

4 thoughts on “Zwischen den Jahren (1). Arbeitsjournal. Montag, der 27. Dezember 2010. Konsolidierung. „Schließt” man ein Jahr eigentlich „ab”?

  1. Ich kenne mich, lieber Alban,
    mit Blinden aus, ich war mit einem zusammen und habe einen Roman zu dem Thema geschrieben der im Herbst veröffentlicht wird – Vertrag unterzeichnet! Diesen Text werde ich dir, wenn du für eine kurze und komfortable Woche erblindest, vorlesen. Weil ich wissen will, ob er funktioniert. Wenn er das tut, dann weißt du, wie Blindheit ist. Und du kannst danach wieder sehen. Im anderen Fall, naja, das ist ja immer die Gefahr bei der Literatur, dass sie nicht funktioniert.

    Zu dem Hörstück äußere ich mich in einem anderen Zusammenhang.

    Willkommen in der Welt

    Und jetzt – husch – in die Bibliothek

    Aléa

    1. Hamburg? Meinst du mit Hamburg etwa jenes Hamburg, bei dem die weite und womöglich auch nicht ganz ungefährliche Fahrt mit der Eisenbahn zwischen hier und dort liegt?

      Was den Rücken angeht, nur kurz zu deiner Erinnerung: du erblindest vorne, nicht hintern. Auf das Waschen des Rückens hat die Erblindung keinerlei Einfluss, den kannst du auch dann nicht sehen, wenn du sieht. Aber wenn du blind bist, kannst du ihn leichter spüren. Weil du ihn dann spüren musst. Du wirst also leicht einsehen können, dass es überhaupt keinen Grund gibt, Olga mitzubringen. Im Gegenteil, sie würde uns nur stören, wenn ich dich an den Stuhl fessele und dir 342 Seiten meiner geschliffenen Prosa zu Gehör bringe. Aber Angst vor der OP hätte ich auch. Vielleicht schreibt sie dir eine Postkarte ans Krankenbett. Die lese ich dir dann auch noch vor.

      Aléa

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