Gedenken an Gerd-Peter Eigner.

Geboren am 21. April 1942.
Gestorben am 13. April 2017.
Als einer der großen Unbekannten der deutschsprachigen Romankunst. Daran haben auch >>>> die Literaturpreise >>>> der letzten Jahre nichts, gar nichts ändern können.

Eigner 2005

 

Er war oft ungerecht. Doch bis zum Starrsinn stolz. Das wurde ihm in den letzten Wochen, die er im Koma lag, beinahe genommen. Einer weiteren Entwürdigung kam er durch seinen Fortgang zuvor.>>>> Er zitierte gerne Flaubert: Man könne im Leben nicht mehr als vier Romane von wirklicher Bedeutung schreiben. Dies ist ihm gelungen.

ANH
April 2017

>>>> „Jede Sucht will ihre Katastrophe
ODER Das irdische Leben“

Geschrieben für die horen Bd. 237, 2010
>>>> Nekrolog auf Gerd-Peter Eigner

9 thoughts on “Gedenken an Gerd-Peter Eigner.

  1. Jede Sucht will ihre Katastrophe ODER Das irdische Leben. Gerd-Peter Eigners Romanästhetik.

    [Geschrieben für die horen
    Band 237, 1. Quartal 2010.]

    horen 237 (Eigner)

    Weißt du, was Thomas von Aquin sagt? (…)
    Er sagt: Jede Furcht rührt daher, daß wir
    etwas lieben. Ich, sagt sie, fürchte mich vor nichts.

    >>>> Gerd-Peter Eigner, Brandig.


    „Heute muß das Kunstwerk selbst schon die Untat sein.” Dieser Satz steht am Anfang des Werkes Gerd-Peter Eigner. Er schloß 1976 einen Aufsatz ab, den der Dichter für das Bremer Literatur- und Kunstmagazin Kulturplatz geschrieben hatte. Er ist nicht nur in Eigners nachherigem Werk, sondern auch von seinem Leben literarisch umgesetzt worden; wie bei den großen realistischen Erlebnisschriftstellern ist es unlösbar mit dem Werk verschlungen, das als „Projekt Eigner” durchweg ein „Projekt Widerstand” gewesen ist – mit sämtlichen Härten und sozialen Verwerfungen, die so etwas bedeutet: so ungerecht oft wie konsequent und ungerecht eben, weil konsequent; unnachgebig und unbereit zu Konzessionen an Politik und Zeitgeist; leidenschaftlich, anmaßend und politisch durchaus schillend, war der Mann verläßlich immer nur gegenüber dem eigenen Anspruch. So etwas riskiert, daß es einsam scheitert, ja das Scheitern ist bereits Voraussetzung, weil es, so travestiert Eigner in dem genannten Aufsatz Adorno, „die Gewalt (ist), die Kunst freisetzt. Erst eine Welt, in der (…) Herrschaft schlechthin aufgehoben wäre, oder genauer: in der Gewaltlosigkeit herrschte, – erst eine solche Welt würde der Kunst von selbst entbehren”. Wer Eigners 32 Jahre später erschienenen Roman „Die italienische Begeisterung” liest, wird freilich begreifen, daß eine solche Welt nie existieren wird; sie widerspräche den Naturkonditionen. Daß kein wahres Leben im falschen möglich sei, sagt: es sei kein wahres möglich. Dagegen kämpfen Eigners Helden an und, er wußte es schon damals, vergeblich. „Was für Töne! Was für Klagen und Jauchzer! ‚Dolorosa gioia’ und ‚suave dolore’, die Essenz, dunkle Oxymora, der Lebens- und Todesabsaugfaktor, mit dem ich nicht fertig werde (…). Hier ist doch die Untat unabdingbare Voraussetzung des Kunstakts, abgedungen ist nichts und wird nichts.” So steht das zwanzig Jahre später in „Lichterfahrt mit Gesualdo”, einem Roman, dessen öffentliche Wahrnehmung letzten Endes ebenso unterging wie der bislang grandioseste aller Eigner-Romane, „Brandig” von 1985. Nicht von ungefähr gibt der berühmte und verhaßte Fürst von Venosa dem Titel des Romans seinen Namen, dieser wütende Mörder aus Leidenschaft und Komponist der himmlischsten Musik. „Oder wollen wir uns immer alles nur abhandeln, sub­limieren, erledi­gen, mithin: ersetzen lassen? Erst zuschlagen und wüten, meucheln, brandschatzen, verwü­sten und rächen, um Raum zu schaffen für die Schuld, die ohnehin – ohne uns mehr noch als mit uns – in der Welt ist. Und dann der Welt ein Licht aufstecken, in diesem Falle ist es ei­nes, das leuchtet bis heute.” Das Licht meint die Kunst und meint sie genau so emphatisch, wie die Metapher es will, meint sie nicht profan, meint vor allem nicht „Kunst als Prothese für ein System, dem nicht nur die Beine fehlen, sondern dem auch schon der Unterleib, der lebendig sinnliche Unterbau, abhanden kam”.
    Gerd-Peter Eigner ist einer der verschwiegensten deutschen Dichter der Gegenwart. Nicht daß er selber verschwiegen wäre, nein, seine Prosa legt von einer Befähigung zu unausgesetzten Suaden der Querköpfigkeit jedes gleichermaßen zu fürchtende wie zu genießende Zeugnis ab, sondern verschwiegen passivisch: er war zu verschweigen. Nie hat er in irgend ein Muster gehört, das man in seiner zweiten poetischen Heimat, dem Rundfunk, unterdessen eine Maske nennt, bezeichnenderweise. Vielmehr setzt er dem nur noch Formalen, zu dem die persona geworden ist, um sich schmiegsamst-gefügig, ja wie ein bedarfsrepliziertes Modul je in den Markt einzupassen, eine p o e t i s c h e Verstellung entgegen, durch die sich in der Maske das Persönliche gerade bewahrt. Deshalb hört man Eigner durch seine Rollenprosa hindurch immer selber sprechen, egal, ob sich seine Erzähler als Speditionsunternehmer, Seelotsen, Landmaschinenhändler oder sonstwie gekleidet haben, die allesamt in ihren kleinen Sozialitäten eine solche, sagen wir, Honoratiorenposition bekleiden, wie sie Eigners oberschlesischer Vater innegehabt haben muß, bevor, nach dessen Liquidation, die Mutter mit ihrem Kleinkind flüchten mußte. Sie floh mitten in die Bombardierung Dresdens hinein. So etwas prägt mindestens ebenso wie, daß die Eltern der Hausmusik pflegten. Eigners Vater, der noch Sobczyk hieß, war als Ingenieur Bahnhofvorsteher gewesen. Um das Milieu dieses Elternhauses zu erfassen, möchte man an Heinrich Manns „Die kleine Stadt” denken; für jene war ausgerechnet Palestrina das Modell: ein Städtchen, das wenige Kilometer von Eigners italienischem Wohnsitz entfernt liegt. So gesehen, läßt es sich davon sprechen, es habe den Dichter in die Ferne heimgezogen. Sogar daß er 1983, was seinerzeit ein bremischer Miniaturskandal war, den niedersächsischen Förderpreis des Kulturpreises Schlesien nicht ablehnte, fügt sich hier psycho/logisch ein. Verfolgt man die symbolische Spur ein wenig weiter, dann spricht aus nahezu allen Romanen Eigners sein Vater: er als Typos ist der Landmaschinenhändler und kunstberührte Spediteur, bahnhofsvorsteherisch korrekt zwar – sollen nicht Züge aufeinanderprallen, ist das eine Notwendigkeit -, aber eben doch bewegt von einer Sehnsucht nach etwas Anderem, für das dem Bürgertum seit je – das heißt: aus dem Feudalismus übernommen – die musischen Neigungen stehen. Eigner konfrontiert nun solche Menschen als symbolische Väter mit einem symbolischen Sohn, der die Züge aufeinanderprallen läßt. Zwar konnte „Vater” nie konkrete Erinnerung werden, weshalb er auch nicht als ein Älterer, sondern fast durchweg als „Freund” des eigentlichen Helden auftritt, wohl aber wurde er zum Innenbild, das sich nun literarisch realisiert. Eine andere Form der Realisierung wäre auch nicht möglich. Dieses unterliegende, hindurchwirkende Symbolische setzt Eigner mit den konkreten eigenen Erfahrungen zu jenen Innenschauen zusammen, die seine Romane, letztlich, sind. Es ist sein poetischer Trick, daß dem Leser aber nicht der „Vater”, sondern der „Sohn” als das fremde Faszinosum vorgestellt wird. Damit dreht Eigner das autobiographische Grundverhältnis um und eignet sich den „Vater”, als den Ersten der Erzählung, erst an. Eigners Vater-als-Figur beobachtet Eigner-selbst-als-Figur, die die eigentliche der Handlung ist. Das ist nicht bloße Rhetorik, sondern es streicht auf die Fangfäden der penibel geknüpften Romannetze einen Kleber, der keinen Leser vom Geschehen mehr loskommen läßt, zumal der Bürger-als-Zeitblom uns unsere eigenen Irritationen und Abschreckungen vorausformuliert und als Beunruhigung für uns identifikatorisch vorhervollzieht.
    Selbstverständlich ist jede Eigner-selbst-Figur wiederum eine verstellte. Anders als Maxim Biller, mit dessen Wirklichkeitssinn der hier grundlegende Naturalismus durchaus verwandt ist, frönen die Romane eben nicht naturalistischer Abbildbarkeit; w i e Biller verarbeitet Eigner fast ausschließlich tatsächliches Erleben, anders aber als der jüngere Kollege ästhetisiert und bewertet er es bis in die Details der Erinnerungsbilder. So daß man bei den Büchern vor dem faszinierenden Paradox eines hochmoralischen ästhetischen Realismus’ steht, der jenseits der bekannten Kategorien von Markt Welt- und Lebens-Tableaus entwirft, deren Handlungsverläufe aus der direkten, wenn auch meist um einiges zurückliegenden eigenen Erfahrung stammen, doch „wahrgelogen” sind, um das mit Louis Aragon auszudrücken, dem Eigner vor Jahren ein Hörspiel gewidmet hat. Dieses Wahrgelogene wird in den Romanen dicht auf das symbolische Innenbild gelegt: eine Art Wiedervereinigung, eine für Momente gelingende Wieder-Aneignung der verlorenen Heimat. Imgrund darf Eigner deshalb auch gar nichts „erfinden” und kann völlig organisch seiner quasirevolutionären Vorgabe treu bleiben: „Kunst ist Maquis – auch wenn und weil Fürsten die ökonomischen Grundlagen bilden zu ihrer Entstehung. Kunst ist immer politisch; es sei denn, sie wolle staatstragend sein” – ein Staatstragendes, das seit den 1980ern zunehmend in Betriebs-Kommodidäten gerückt ist, ob es sich nun um die Adenauereien Burkhard Spinnens, eine eingeklagte Neue Mitte Thomas Hettches, Martin R. Deans und Matthias Politickis handelt, um die Staatshymnen Durs Grünbeins oder die narrativ-unterhaltsame Erfüllung des renaissierenden Bildungsbürgerbildungsauftrags durch Daniel Kehlmann. Liest man Eigners frühe Schrift heute wieder, hat man den Eindruck, der Mann habe schon 1976 gespürt, was sich seither unter dem – falsch angewendeten – Label Postmoderne ereignet hat: die Kunst der Literatur ist zur Kultur der Anpassung geworden.
    Eigner beharrt dagegen auf dem Politischen aller Dichtung, und er tut das gerade, indem Allerpersönlichstes erzählt wird. Die eigene Geschichte – das sind: die eigenen Geschichten – werden zu Statthaltern des Allgemeinen. „Dem Kollektiv entgeht nichts. Es sammelt Wissen. Vor allem jenes, das sich mit den persönlichen Neigungen und Schwächen eines jeden seiner Mitglieder befaßt. So macht es sich selbst unangreifbar.” Kunst aber ist „wohl kaum eine Angelegenheit des Gemeinwesens”. Sondern nur dann, wenn sie auf das direkte Begehren des Gemeinwesens keine Rücksicht nimmt, erhält sie sich ihre Menschlichkeit. Möglicherweise ist dieser Gedanke Eigners der Grundskandal, für den sein Werk dasteht. „So hat denn der Künstler weder die Absicht, einem Montagearbeiter den röhrenden Hirsch überm Sofa von der Blümchentapete zu reißen und ihm den Feierabend mit serieller Musik zu vergällen, noch seinem (…) Bedürfnis nach Wirklichkeitsflucht spielerisch-platt zu entsprechen.” Es geht eben n i c h t um Mainstream, gar Pop; darauf ist genau zu verharren. Eigner zitiert hier Marx: „… man vergesse dabei nicht, daß Zirkusspiele keine große, wahre Kunst sind, sondern mehr oder weniger schöne Unterhaltung”. Insofern insistiert er gegen fast die gesamte Linke, namentlich die Sozialdemokratie, auf einem prinzipiellen, sowohl moralischen wie erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen den sogenannten U- und E-Künsten und bewahrt des Vaters Anderes, dem das Kleinkind gelauscht haben mag, wenn es im Bettchen lag und nebenan die Eltern musizierten: ein Anderes jenseits der Bahnhofsvorsteher-Penibiltät, jenseits des entfremdeten Alltags an sich. Nach Bloch wird Utopie unter anderem s o gefaßt. Sowieso rückt Eigner erst einmal wieder ins Licht, daß Kultur und Kunst nicht etwa nur miteinander verbunden seien, und zwar Kunst als eine Teilmenge der Kultur, sondern vielmehr schlössen sich beide rigoros aus. Andernfalls geht die Kunst an den Alltag, i.e. die Entfremdung, verloren und wird – noch einmal mit Marx gesprochen, wir aber nennen ihn „Entertainment” – Zirkus. Eine Kunst indes, die nicht-alltäglich ist, nicht-funktional, also eben nicht Kultur, ist notwendigerweise auch nicht verwaltbar wie diese; anderenfalls wäre Transzendenz verwaltbar – damit funktional und damit eben n i c h t transzendent. Verwaltete Kunst ist gefügig. Also ist sie keine. Das Bewußtsein darüber lassen Eigners Bücher und Hörspiele so wenig verlorengehen, wie er selbst damit in ständiger Auseinandersetzung lebte; innerhalb einer kapitalistisch durchstrukturierten Gesellschaft lassen sich Künstler-Abhängigkeiten von der Kunst-Verwaltung, sei sie öffentlicher, sei sie privater Natur, imgrunde gar nicht vermeiden. Darauf hat Eigner jahrelang mit seinem Rückzug ins Ausland reagiert, was es dem Betrieb zusätzlich erleichterte, sein Werk zu ignorieren. Er war ja nicht, wie Thomas Pynchon, von allem Anfang an weltberühmt, er hatte auch nicht, wie Uwe Johnson, eine Geschichte im Rücken, die als sowieso relevant galt; im Gegenteil war der Vertriebenen-Hintergrund überaus geeignet, die Verdrängungsprozesse zu nähren. Sondern Eigner war bloß angewidert von einer gemeinten Gemeinwohligkeit, die sich unbedingt abfinden will; man muß sie nur gut genug schmieren.
    Wiewohl er zur Depression seiner Helden neigt, ist Abfindung seine Sache nie gewesen; vielleicht hat seine Depression oder, milder, Melancholie deshalb einen derart vitalen Charakter. Auch das erschreckte und erschreckt. Es ist mit ihrer Wut, anders als mit Wilhelm Genazinos Sorgfalt, so gar kein Frieden zu schließen. Noch das eigene Nabelsausen, um das sich die Feingeister biegen, noch der körperliche Ausfall, ja das eigene Altern und selbst dessen Stursinnigkeiten werden zu zorniger Handlung. „Was ich eingesetzt habe? – Mein Leben”, sagt er, fast nüchtern, mir gegenüber in der kleinen Berliner Arbeitsbleibe, neben sich die bereits fertigen 350 Seiten eines wiederneu entstehenden Romans. „Fünfzig Jahre habe ich gebraucht”, sagt er, „um dieses Buch zu durchdenken.” Jetzt schreibt er’s in einem Zug runter.

    So war es nahezu immer. Ich ging einige Zeit oft mit ihm um; drei Monate lang lebten wir in Italien wie Nachbarn. Da saß er dann auf seiner selbstgebauten Terrasse, die Sphinx zur Seite, und blickte mit ihr stumm und jahrlang denkend ins Tal. Wer ihn ansprach, hatte mit heftiger, auch ungerechter Wut zu rechnen: Geh mir aus der Sonne, Alexander. Daß dergleichen fürs Zusammenleben nicht so recht taugt, mag dahingestellt bleiben. Doch wenn die Zeit um war, setzte er sich an seine Reiseschreibmaschine – er hat sich gegen den Computer lange und böse gewehrt – und schrieb den in den Gedanken längst fertigen Roman hernieder: 600 Seiten Typoskript in drei, vielleicht vier Monaten, kürzere Texte in zweien, weil er sie aus seinem Kopf, und zwar bis in die Satzteile, immer nur abschreiben muß. Zu lektorieren gibt es da kaum mehr was. Allenfalls sind kleine Spuren zu verwischen, die in die Biographie zu deutlich gelegt sind: es geht nicht um „Dokumentation”, sondern darum, der Wirklichkeit poetisch näherzukommen, als das „wirkliche” Leben es zuläßt. „Ich habe diesen Fiktionsquatsch satt!” soll der späte Nakokov, neben Flaubert und Dostojewski Eigners Hausgott, ausgerufen haben. Doch nach wie vielen Büchern… – Eigner ist da schneller gewesen. Ihm geht die Einsicht selbst da noch voran, wo er irrt.
    „Das einzige, was mir in dieser Angelegenheit bis heute eine Genugtuung ist: das ist die Tatsache, daß mir wenigstens kein Dichter zugesehen hat, der darüber schreiben könnte. Und womöglich alles noch dichterisch ausmalen und ausschmücken müßte, wie es seine Aufgabe ist”, ironisiert er in „Mitten entzwei” seine Poetologie; nur das, übrigens, erlaubt mir, sie in die Realität der Autorenbiographie zurückzuironisieren. Zwar war „der, der dafür in Frage gekommen wäre, (…) bei dieser Ehrung, die mir zuteil wurde, seinerseits längst der Ehrung, die ihm zuteil geworden war, entkommen. War längst schon getürmt und über alle Berge.” Doch konnte er ja nicht absehen, daß sie ihn mit den Eichendorff- und Kranichsteiner Literaturpreisen nun doch noch einholen würde, so daß ein in Frage Gekommener, der nun nicht er selbst ist, als Igel allhiersteht, um ihm gegen die Stacheln der eigenen Katastrophen zu löcken. Wie als ob er, persönlich, Romanfigur wäre. „Denn jede persönliche Katastrophe ist doch nur die genauere Auskunft über den Zustand der übrigen Welt.” Ein Zustand, der in den gegen sie aufbegehrenden Einzelfall so sehr konkretisiert wird, „daß die Menschen um ihn, Stavros, und sie, Sue, herum mit ihren ge­rade zuvor erst am flackernden Ölschalendocht des Popen entzündeten schlanken Kerzen in den Händen zurückwichen – manch Licht erlosch vom Luftzug des Schrecks -, der Pope aber ungerührt weitermurmelte die große heilige Litanei, die Arme jedoch ein wenig höher ge­streckt gen Himmel und die Augen inzwischen weit offen, um Stavros und die Maschinenpi­stole, wenn ich es von der hintersten Reihe aus richtig sah, milde und nachsichtig anzublic­ken, die Stimme um ein paar Tonstufen zu heben und dann mit weit ausholender Geste das Kreuz zu schlagen über die links und rechts mit ihren Lichtern ins Dunkel zurückgewichenen Gläubigen, so daß nun Stavros, der, wie ich sah, als ich mich auf die Fußspitzen stellte, nur auf einem Knie kniete, drauflosballerte wie hinter einem im Zickzackkurs in den Himmel Flüchtenden her, den er aber nicht traf, denn er traf die im Maueraufsatz auf der Gotteshausfront eingehängte Glocke, die erst von den kruden Salven grell und trocken aufschrillte, dann aber, offenbar in Schwung gebracht von den Sal­ven, als die Schüsse schon längst ver­hallt waren, zu tönen und zu klingen begann, ganz so, als verkünde sie eine neue Zeit, verheiße sie Liebe, Vergebung, Erlösung … ich kann nur sa­gen, daß ich mich nicht im mindesten daran erinnere, was sonst noch passierte in dieser Nacht (…), wie der Pope sich im weiteren Verlauf der Zeremonie verhielt und wie lange ich selbst noch an Ort und Stelle verweilte, außer – daß Stavros irgendwann mit der Waffe in einem und mit dem Mädchen im anderen Arm davonging und ich, wie soll ich mich aus­drücken? zuguterletzt? zuguterletzt Stimmen vernahm, die Stimmen von einzelnen Gläubi­gen, ja, Gläubige, die noch ein wenig zögerlich in die laue Osternacht hineinriefen: Christus ist auferstanden! worauf es freudig, ent­schieden und in über­wältigendem Jubel aus der Menge zurückschallte: Auferstanden für­wahr!”

    Eigners Romane sind gleichermaßen von ihren Protagonisten nur widerstrebend ausgehaltene wie durchaus angesexte Blicke auf Helden persönlicher Unerbittlichkeit. Aber die vorsichtigen Bedenken ihrer Zeitblom-„Väter” holen diese Rigorosität auf den Boden und in die Stuben derer heim, für die sie durchgehalten wird. Es liegt auch etwas Ironisches darin, daß Eigner das nicht nur zuläßt, sondern zur Wirbelsäule seiner Vorstellung darüber aufrichtet, was ein Mensch sei und sein könnte. So wenig er das im persönlichen Umgang kann, weil er eben aus dem Erleben schreibt und es also leben muß, so voller Grandezza wird dieses Leben dann geschildert; sie gibt den Büchern ihre spezielle Leichtigkeit, die es gerade den „bürgerlichen Vätern” erlaubt, den Betrachtern und Erzählern der Bücher, uns Leser an all den querelen Tragiken auch ein Vergnügen haben zu lassen, obwohl sie nicht nur uns selbst betreffen, sondern von großer Unausweichlichkeit sind. In diesem Belang spielen Eigners Romane mit denen Flauberts und Th. Manns sowie mit Joseph Conrads im Quartett. Darunter – auch dies ein Grund für einige Abwehr – hat’s Eigner nie gemacht. – Quartett? Ja. In „Brandig” ist die musikalische Durchformung des Textes zu einer kaum mehr steigerbaren Virtuosität getrieben. „Berauschende Li­teratur“ hat drei Jahre nach seinem Erscheinen Ulrich Horstmann dieses Buch genannt, ein, freilich, Außenseiter selbst.

    „Ich habe mit meinem Kugelschreiber gespielt und Zahlen gemalt wie seit Jahren. Ich habe schon immer Zahlen gemalt, wenn mich nicht gerade jählings jenes Er­schrecken überfiel, in dem sich vor meinen Augen im matten Dunkel der Fenster­scheibe die unendlich ruhelose Allgegenwart des Windes als das Spiegelbild mei­nes Kopfes versteinert.” Als diese Sätze für „Golli” anheben war der damals 36jährige Schriftsteller außer ein paar Hörspielhörern kaum jemandem ein Begriff. Er hatte ein humanistisches Gymnasium absolviert, Grundkenntnisse im Violin- und Klavierspiel erworben, war dann Bauarbeiter gewesen und Reporter, dazu Übersetzer und war schließlich, sich hie, dann wieder dort niederlassend, von Nordafrika über Vorderasien nach Kreta gewandert – imgrunde ein unbeheimatet Vertriebener weiter. „Ich erschrecke vor einem gespaltenen Stein, in dem der Wind die Schattenstrahlen der Vergegangenheit verweht, mich verschüttet mit seinen zeitlos wandernden Dünen, die er ätzt und bewegt mit unaufhörlichem Gleichmut. Der Wind ist in mich eingedrungen als das unendliche Viele. Er ist vom Dach in mein Zimmer gefallen und hält mich fest, so daß ich mich in ihm verliere. Da bleibe ich. Unter mir oder hinter mit liegt Atlantis. Ich habe kein Zeitgefühl, und der Raum bin ich mit dem Wind. Ich will aus dem Fenster sehen und sehe nur auf der Dunkelheit der Fensterscheiben ein fremdes Gesicht. Sehe ich wirklich? Oder ist dies ein Spiegelbild hinter verschlossenem Auge, ein verschlossener muschelbesetzter Glanz, der vor unsagbarer Zeit, die keiner mehr kennt, einmal Tränen zu eigen war? Ich sehe nichts. Ich verliere mich. Und doch muß es eine Zeit gegeben haben, da war ich weniger frei und hatte einen Vater: und war dessen Sohn.”
    Eigner, als Dichter, begann, indem er von Anfang an da war. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Schriftsteller, daß er als Techniker – als Manierist, von maniera, Handschrift – bereits mit dem ersten Roman vollständig ausgebildet war, als wäre nun genug erlebt, genügend gesammelt worden, um das folgende Werk auszufüllen. Dieses Verfahren, als Dichter bereits mit allem fertig gewesen zu sein, als er ein Schriftsteller wurde, wiederholt sich in der Form ihres aus dem Kopf strömenden Niederschreibens. Ausnahme ist nur der von heftigsten persönlichen Krisen und einer ziemlich unguten Editionsgeschichte behinderte „Gesualdo”-Roman von 1996. Man muß hoffen, daß eines Tages der eigentliche Romantext publiziert wird, zu dem sich das jetzige Buch verhält wie die Übermalung eines sehr viel größeren, aber nur im Mittelteil freigelegten Tableaus; schon dieser indes paßt nicht ins Bild der chamoisen Antike, die in Wahrheit bunt und unfein war.
    Insofern verlegte die konservative Deutsche Verlags-Anstalt Eigners ersten Roman, dessen geradezu klassizistische, auf weite, genau ausgehorchte Hyoptaxen angelegte Sprachhaltung zwar meditierend am Fenster sitzenblieb, sicher nicht grundlos, aber irrtümlich. Man merkte sehr schnell, daß dieser Mann nicht zu den seinerzeit gefeierten Renegaten gehörte, etwa Ulla Hahn. Schon gar nicht war er bereit, sich, wie in den Neunzigern viele seiner dann ehemals marxistischen Kollegen, nach Portomonnaie und Prestige in einen neuen Zeitgeist zu strecken – gegen sie ist freilich auch der große Stilist Hermann Peter Piwitt anzuführen, der sich, ein Kommunist, den sogesagten Faschisten D’Annunzio auch früher schon nicht nehmen ließ. Sondern Eigner hielt „unbelehrbar” an seinen radikalen Maximen fest, die mit dem berüchtigten Satz aufs moralische Minenfeld traten, er schreibe, weil er sonst Bomben lege. So hell sein Stern schon aufgestiegen war, so eruptiv verlöschte er da wieder. Wohl kein zweiter deutschsprachiger Gegenwartsschriftsteller ist derart redlos-unumwunden vom Betriebstisch gefegt worden wie er. Während es um andere Unwillige doch wenigstens Diskussionen gab, kam Eigner einfach nicht mehr vor. Man vergesse nicht, in welche Herbstzeit sein Satz hineindetonierte, im Deutschen Fernsehen zumal.
    Doch nicht nur dem Kunstbetrieb hat sich Eigner nie eingepaßt, sondern überhaupt keiner Sozialerwartung – nämlich weil eine jede solche eine Gesellschaftserwartung ist und jede diese das Ergebnis eines, noch einmal mit Adorno ausgedrückt, universalen Verblendungszusammenhanges. Eigner war nicht zu verblenden, auch nicht von seiner unfraglichen „Nähe zum Volk”, in die ihn – als Ergebnis der Vertreibung – nicht nur die von ihm so genannte Reproletarisierung seiner Familie gebracht hat, sondern ganz selbstverständlich ist auch er von den linksorientierten Emanzipationsbewegungen der 60er und 70er Jahre intellektuell geprägt worden. Das hinderte ihn jedoch nicht, auf Distanz, Verschiedenheit, zu pochen – auf das Andere also. Dieses, auch wenn es Kunst für den „Arbeiter” ist, muß notgedrungendermaßen Kunst gegen ihn sein, nämlich gegen sein Bedürfnis nach „Zirkus”. In diesem Sinn ist Eigners Dichtung von Anfang an nicht-„links” elitär. Doch vertritt sein Elitäres den Menschen-als-befreiten und harrt so lange auf der Scholle aus, hält sie für den „Arbeiter” so lange wie einen Brückenkopf besetzt, bis der dort selber ankommt. Daß mit dieser Position weder in den „revolutionistischen” Aufbruchsjahren der 70er Staat zu machen war, noch „Solidarität” überhaupt, und schon gar nicht mehr heute, liegt auf der Hand. Sie eignete sich aber genauso wenig für Mäzene, weil Eigners Dichtung allzu deutlich dafür einsteht, daß Kunst „zersetzt. In einer lebensfeindlichen Umwelt muß Kunst radikaler sein denn je; sie muß destruktiv und subversiv sein. Kunst (…) ist die Stadt-Guerilla des Wohlstands.”
    Wer so denkt, läßt sich nicht dankbar rühmen. „Sie summen um dich auch mit ihrem Lobe”, spricht Zarathustra, „Zudringlichkeit ist ihr Loben. Sie wollen die Nähe deiner Haut und deines Blutes.” Dieser Zudringlichkeit hat Eigner noch allemal vors Schienbein getreten. Es machte seine Nähe immer heikel. Mit so wem ist schlecht kungeln, schon gar nicht ein Betrieb zu machen: „Hätte Kunst affirmativen Charakter, dann kümmerte sich der Staat gewiß nicht so sorgsam um sie. (…) Der Staat baut der Kunst ihre Kerker, undurchdringliche Mauern, (…) wem es dann doch mal gelingt, seinen Fuß zu setzen in die sakralen Zuchthaus-Hallen der Kunst, der kennt den Protest und den Aufruhr, das eigene Gesicht nicht wieder in den auf Sockel hochdomestizierten Gebilden.”
    Eigners Triebhaftigkeit steht dem literarisch entgegen, steht der Gesellschaft und ihren Entfremdungsprozessen entgegen, die unterdessen ein Kontinuum spürloser Entfremdungen sind; Erde stemmen Eigners Helden dem entgegen. Die Protagonisten beharren, auch darin konservativ, auf dem Geschlecht, auf der Frau. „Ich bin ein alter Mann, da kommt so ein Weib, etwas zu füllige Knie, ein noch fülligeres Gesäß. Von woher nehme ich das Zutrauen? Von woher nimmt sie es? (…) Sie öffnet mir den moosgrünen Seidenmorgenrock Bronkens, sie betrachtet mich, sie geht in die Knie, ich greife in ihre Krause. Er steht. Bevor sie ihn überhaupt angefaßt hat und in den Mund nimmt. – Habe ich gesagt, daß sie ein Höschen anhat unter dem Kleid? Eines, das so weiß leuchtet wie keines sonst auf schwarzer Haut?” Bis in seinen bisher letzterschienenen Roman blieb Eigners spezielle Bewunderung für die sinnliche, die irdische Erscheinung als Erdung erhalten. Für Wolkenkuckucksheime ist so wenig Platz wie für Elfenbeintürme. „‚Genau genommen lecke ich ihr erst das Meersalz weg und versinke dann in ihrem Eigengeschmack und Eigengeruch, ich schmecke, rieche und lecke sie und höre nicht auf unter ihren Händen, die meinen Kopf umklammert halten, bevor sie nicht -: ich habe einen solchen Schrei,’ sagte er, ‚in meinem Leben noch nicht vernommen, ein Schrei wie ein Vogelruf, ein einziger zum Himmel gerichteter Schrei, Schmerz und Jubel zugleich, als stieße’, sagte Brandig, ‚die gefiederte Seele im Sturzflug (…) vor zum Kern des irdischen Planeten. (…) Der Körper aber dazwischen,’ fuhr er fort, ‚reglos. Oder besser: aus der reglos mir entgegengestemmten Straffung niedersinkend in reglos weiche Ermattung. Und sie sagt, so habe es bei ihr noch keiner geschafft. Sie umschlingt mich. Sie reibt ihre Wange über meine von ihrer Mondmilch geglättete Haut.’” Es hat seinen Grund, wenn Eigner in dem drei Jahre nach diesem, nach „Brandig”, erschienenen Roman „Mitten entzwei” – er sollte eigentlich „Stroff” heißen und eine imaginäre Personal-Trilogie komplettieren -, den frischen Geruch nach weiblichem Geschlecht mit dem Duft des Watts vergleicht, in welchem der Held, ein Kunstspringer wie Eigner als Jugendlicher selbst, Kopf über Hals steckenbleibt. „Ich habe, soweit ich weiß, nicht das Bewußtsein verloren. Ich habe die Trennung gespürt. Man wird durchschnitten, zerhackt, guillotiniert. Und wundert sich nur, wenn man die Augen aufmacht, daß die abgetrennte Hälfte noch an einem dranhängt. Daß sie, überflüssig, nicht weggedriftet und davongeschwemmt worden ist in der Strömung. Hinausgetragen mit dem Ebbstrom aufs offene Meer. Zu Vögeln und Fischen”.

    Die Erde läßt uns nicht los, nicht die Heimat und nicht die Frau. Der Verführung, sich dies billig mit Abstraktionen wegzulügen oder durch gesellschaftliche Position zu verschmieren, widerstehen Eigners Außenseiter alle: alle wissen sie aber auch, letztlich gibt’s kein Entkommen. Dessen erwehrte sich Dichtung seit je mit Überhöhung. Weshalb Kunst eben nicht „ein willkommenes Hilfsmittel ist, das als begleitendes Ingredienz einer zuvor festgelegten gesamtgesellschaftlichen Planungsentwicklung revolutionäre Politik kämpferisch verkörpern müsse”, wie Eigner das, in Richtung KPD und DDR, ausgesprochen scharf formuliert hatte. Sondern wir bleiben in den tragischen Verhängnissen; sie, eigentlich, machen unser Leben aus – zumindest so lange nicht tatsächliche Gleichheit der Lebensverhältnisse, also Befreiung, erreicht ist. Schon deshalb werde „Kunst (…) nicht gemacht für jene, die Muße haben und ein Vergnügen am Kunstwerk”, obwohl sie es sind, die sie ökonomisch ermöglichen; „Kunst wird gemacht für jene, die k e i n e Muße haben und k e i n Vergnügen am Kunstwerk.” Ein wenig schwingt hier die Naivetät Herbert Achternbuschs mit: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Doch sie schützt vor dem bequemen Pessimismus, sich aus Selbstschutz zu ergeben. Wieder und wieder statt dessen schürt Eigner das Feuer, an dem sich jene wärmen, die aus dem Zusammenhang, der nicht nur einer der Verblendung ist, noch immer irgendwie ausbrechen wollen. Es ist auch ein Zusammenhang der Naturläufte. „Denn bekanntlich folgt die Erfüllung der Verheißung nicht auf dem Fuß; zumindest nicht gleich und nicht dort, wo es vorzudringen gilt in unseren bisherigen Erfahrungen und Kenntnissen vorenthaltene Bereiche. Dafür bewegen wir uns doch immer noch allzu sehr in der uns vertrauten und üblichen Gangart. Dem Zickzack. Dem Zickzack der Wörter, Begriffe, Ideen, Gedanken und Schlüsse, die ja nicht selten Trugschlüsse sind, so daß die Pfade, die wir betreten, je mehr sie ausgetretene sind, zu Irrwegen werden. Wir kennen die Richtigkeiten; die Wahrheit noch nicht.” Wir müssen sie deshalb erfinden, umerfinden, was gelebt worden ist. Es geht ja auch darum, aus unsren Tragiken Lüste zu schlagen, Begeisterungen, Kraft – weshalb sollte man sonst Gedichte lesen, in Theater und Kino gehen, ja Musik hören, die nicht nur Untermalung ist? Der Schauer des irdischen Lebens durchfährt uns, wenn das Brot endlich gebacken ist, doch es ist zu spät. Wenn wir da zusehn. Wir laufen los, um den Anschluß noch zu erlangen, überwinden sämtliche Widrigkeiten und, ja!, schaffen es noch, rennen auf den Plafond… aber wir sind nicht bei Schiller, sondern, um Sekunden zu spät, sehen wir nur noch das Rücklicht des schon fahrenden, ohne uns fahrenden Zuges. Die einzigen Momente, in denen wir’s nicht sind, nicht zu spät, sondern wir erfüllen uns, es erfüllt uns – vorübergehend freilich auch dann, das ist wahr -, scheinen die erotischen Vereinigungen zu sein. „Sie sitzt wieder auf dem Bett, das heißt, mal kniet sie und sitzt auf ihren Fersen, mal sitzt sie und hat die Beine gekreuzt, liegen die Außenseiten.ihrer Knie knapp auf dem Noppenüberwurf des Bettes. Sie dreht sich in der Taille, um sich von allen Seiten zu sehen. Die sich spiegelnden Spiegel vervielfältigen alles, ihr Gesicht, das Haar, ihre Schultern. Die vervielfältigten Bewegungen erzeugen, von mir aus gesehen, der ich auf einem der Stühle in der Ecke des Zimmers sitze, den Eindruck von Flugversuchen. Es heben und senken sich die Flügel in ihren vervielfältigten Schultern. Wobei sie sich den Ellenbogen hält. Breite die Arme aus, einmal nur, damit ich es sehe.”
    Still wie gleichermaßen deutlich wird hier auf Engel angespielt; doch jeder, wissen wir, ist schrecklich. So ist bereits in solchen Beschreibungen wenigstens die Ahnung von Katastrophe schon da. Zumal sind die Liebeserzählungen der eignerschen Helden fast alle darauf angelegt, sich die Haut vom Leib zu reißen, um so nah wie möglich das eigene Fleisch mit dem der Geliebten aufeinanderzulegen, beider Fleisch ineinanderzuschieben und dadurch die Vergeblichkeiten der Trennungen – den Heimatverlust, den Vaterverlust – endlich aufzuheben. Einer solchen durchaus, weil ihre Obsession die Schutzmechanismen unserer Autonomien außer Kraft setzt, schmerzhaften Nähe muß notwendigerweise die Abstoßung folgen, sonst erlitten die Protagonisten den Tod. Eigner scheint in seinen Büchern Schopenhauers skeptisches Zivilisationsbild der nachts beieinander ruhenden Stachelschweine nachzuillustrieren, scheint ihnen von seinem Leben zu geben, die, weil sie frieren, aneinanderrücken, um sich zu wärmen, da aber stechen sie sich mit ihren Stacheln und rücken wieder auseinander, frieren aber wieder, rücken abermals näher, so in permanenter Wiederholung, bis es tagt und zur Nahrungssuche aufgebrochen werden muß. Der Schutz selber, Stacheln wie Autonomie, führt zur Verletzung. Die Komik des Stachelschweinbildes verstellt nur die Tragik. Die menschlichen Schutzmechanismen sind ja durch und durch, und aus Notwehr letztlich, gesellschaftliche geworden, gesellschaftlich erworbene; nun tragen sie die Entfremdung bis in unsere Vorstellungen darüber aus, was unantastbare Intimität sei. Genau dies verhindert aber Intimität, verhindert wirkliche Nähe, Vertrautheit, Vertrauen, ja Familiarität. Eigners Romane wissen das und erzählen es.

    Außerdem bleibt da ein Drohnenhaftes, das von Natur ist, nach wie vor. Es ist nicht nur disponibele Konvention, weshalb es sich sogar in „männlicher” Wissenschaft reaktiviert. Immer wieder werden Eigners Helden darauf zurückgeworfen. „Ich bete sie an. Habe ihre Zehen auf dem Weg von der Gartenerde (!) zur Badewanne zwischen den Zähnen, die Zunge in den Zwischenräumen zwischen den Zehen, Erde (!) im Mund, schließe die Augen und vergeß, wer ich bin. Sie aber sagt: Weißt du eigentlich, daß zur Erhaltung der Menschheit Frauen allein ausreichen würden? Dank der Wissenschaft. Der Wissenschaft, die ich betreibe.” Auch dies macht die Einsamkeit aus, die aus allen Büchern Eigners spricht, ja deren Klang nach Leere bereits das allererste Buch anschlug und bis in das letzterschienene Buch nachhallt: „Sie blickt durch mich hindurch. Und legt nun ihre ermüdeten schlanken Hände schwer an meinen Hals, während ich meine auf ihre Hüften lege und die mir binnen weniger Minuten wieder einmal zur Fremden und Unerreichbar Gewordene halte wie eine, die aus einer mir nicht zugänglichen Dimension, einer Dunkelheit, zu der ich keinen Zutritt habe, hervorgebrochen ist, um sich wer weiß wovor, vielleicht dem Unsäglichen, ihrem Unsäglichen, in meine Arme zu flüchten und in Sicherheit zu bringen.” Gerade die Heftigkeiten, die solche Getrenntheiten aufheben wollen, sie auflösen, sie wegbrennen wollen, peitschen sich dann in Katastrophen: auch dies ein Moment des eignertypischen sich nicht abfinden Wollens, des Aufbegehrens seiner Figuren bis in ihren Kollaps, der am entschiedensten in „Brandig” einer des Fleisches und des Willens war. „Hat er es gesagt oder ich? All die Toten, die Toten in der Familie, die Toten im Land, die Schrecken, die Bürde, die Last. Der Fluch, der Fluch, der über meiner Familie liegt. Ist mein Vater mein Vater? Wer war meine Mutter? Wer sind wir? Meine Schwestern? Schwesterchen Katrinchen, wo bist du, wo liegst du begraben, wo, wo Hajos Frau, Swantjes Mutter, Sibylle, was ist mit mir und mit Hajo, Hajo, die Wirrnis in deinem Kopf, Hajo, Bruder, und meine Verlassenheit. Es liegt, ja, es liegt ein Fluch über uns und unserer Familie. Schuldig sind wir und werden es bleiben. Kinder und Kindeskinder, die löffeln die Suppe, eingebrockt, wir.”
    Man muß das eine Engführung nennen. Nicht nur werden die Themen des Buches aufeinanderlegt, ja wie ein Fleisch ineinandergeschoben, sondern die Engführung greift auch semantisch, ergreift: aufeinander folgende Generationen werden identisch, das Menschsein-„an-sich” wird zu einer Kontinuität, aus der es, weil sie nicht nur sozial ist, letztlich Befreiung nicht gibt. Kein gütiges Wort mildert das. Völlig allein, wer das sieht. Es sei, schrieb Friedrich Nietzsche, in den Höhen des Geistes sehr kühl. „Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt!”
    Daß Eigner von Nietzsche beeinflußt ist, daraus haben seine Bücher nie einen Hehl gemacht, immer wieder findet man Hinweise, die aber zugleich Kritik sind, und zwar wiederum eine, die den Körper im Blick hat: „Er war weiterhin tief versunken in die Abwegigkeiten jener fernen Vergangenheit, die ihm den Blick auf die Gegenwart auf eine Weise verkürzte, daß er mich, als ich zur Antwort gab: Wenn es dir recht ist! ansah wie ein von myopischer Blindheit Geschlagener auf der Suche nach seiner Brille.” Der nietzscheeigenen Selbstverbrämung, die in der Heroisierung des Einsamen liegt, setzt Eigner den Körper entgegen, aber als verwundbaren, nicht als seinerseits zu heroisierenden; dadurch bringt er die Kühle zum Kochen, man kann sagen: Eigner schleppt gärenden Schlamm auf die Höhen, weil in der Kälte, auch der des Geistes, nur Kälte ist, nicht etwa Leben. Deshalb ist seine Formung von Destruktion, die sich durch die in mancher Berserkerei durchaus mit Louis-Ferdinand Célines vergleichbaren Bücher zieht, nicht, wie bei diesem, perverse Lust – eine aus Selbst- zur Fremdaggression pervertierte -, sondern und nicht selten lange vorausgesehene, aber bewußt inkauf genommene Folge. Wo Céline den Innenhaß des Kleinbürgertums internalisiert hat und in seinen Romanen uneinsichtigst weiter- und durchführt, der Arbeiter prügelt auf den Arbeiter ein, darin bis zum bittersten Ende seinem Kleinbürgertum verhaftet, geht Eigner den Weg der Distanz, ohne doch aber zu vergessen, woher er selber kommt; die Reproletarisierung seiner Familie gab ihm die Perspektiven. Er ist Aus-, nicht Aufsteiger; das gilt auch gegenüber Nietzsches Gebirgs- und Luftmetaphorik. Deshalb wird dessen Arroganz nicht affirmiert, die ihrerseits Abwehr von Verzweiflung war; vielmehr wird selbst ihr, der Arroganz wie der Abwehr, die heiße Schulter gezeigt. Dem Corpsgeist eines Klassenbewußtseins indessen genauso. Eigner weiß viel zu genau, was Bauern sind, um sie als Gemeinschaft zu idolisieren. Was Arbeiter sind. Er kennt aber auch die vorgeblich Feinsinnigen. Das Feine wirklich ist unrein. So schleppen seine Helden den Schlamm auf die Höhen, sehr viel mehr Sisyphos als dieser selbst, der immerhin noch einen Stein zum Anfassen hatte. Schlamm ist schlickig, schieb das mal hoch… Deshalb gibt es in Eigners Büchern auch keine ätherische Verkitschung von Körpern, sondern der Körper, das Naheste, was wir haben, ist in allererster Linie einmal Organ und verwundbar. Dieses bleibt, so hoch hinauf man auch steigt. Also sind Verwundbarkeit, der organische Ausfall, die Blutung, schließlich das Altern zentrales Thema in den Büchern Gerd-Peter Eigners geworden. Spätestens seit „Brandig” sind alle seine Romane über große Strecken auch Körperkrankheitsprotokolle, indes noch „Golli” vom Geistzerfall ausging. Sieht man von den späteren Büchern aus darauf zurück, entblößt sich Geist selbst als Organ. Verwundeter Geist ist verwundetes Gehirn – für das Denken: verwundeter Boden. Das tröstet kein Pferd, um das sich sinnvoll weinen ließe.
    Es tröstet aber eben die Lust, nein… trösten tut auch sie nicht, aber entgilt. Und erlangt bisweilen religiöse Dimensionen: „Die Gier leuchtet auf in ihrem Gesicht wie ein heiliges Feuer”, heißt es da etwa und einige Seiten zuvor, explizit: „‚Das Erschauen’, sagte Brandig, ‚ist etwas, das einem schwer zusetzen kann.’ Er hatte schon wieder sein zweites Glas in der Hand. ‚Denn das Erschauen, du hast es ganz richtig verstanden’, plötzlich zog er mich mit der freien Hand am Revers meiner leichten Sommerjacke an sich heran, ‚ist ja nicht das bloße Sehen. Es ist das jeden Saum (Saum, sagte er) und jede Sorge zusammenführende Bewußtsein. Eine Art Urzeitgedächtnis. Der Stoff, mit dem das Innere das Äußere bedeckt, damit…’ er löste die Hand von meiner Jacke, ‚darunter das Äußere das Innere entdeckt. Zumindest die im Innern schlummernden Kräfte. Denn das bloße Sehen ist ganz selbstverständlich im Erschauen mit dem Hören und Fühlen, dem Schmecken und Riechen vereint.’” Genau das wird zur zentralen Bewegungskraft dieser Poetologie: „‚Mehr noch: was gesehen, gehört und gefühlt, geschmeckt und gerochen wird, wird auch unmittelbar erkannt, erfaßt und begriffen. Wird zu einem Begriff. Ist der Begriff.” So nahe das Wort.
    Weil es so nahe und Wort ist, ist das Mysterium dichterisch darstellbar. Weil es eben Sprache ist. Diese Botschaft klingt aus Eigners Romanen ja auch und stellt sie damit mitten in die modernen Diskurse, denen sie zugleich ihr Esoterisches nimmt: die Welt ist k e i n Text. Es ist ja nirgendwo Dauer, die das Erschauen menschlich handhabbar machte. Mysterien sind nicht sozial. Möglicherweise ließe die soziale Gerechtigkeit, die Eigner 1976 eingeklagt hat, sie sogar für immer versiegen. Daran tragen seine Romane nicht minder. Hier verlassen sie, am intensivsten in „Brandig”, den Boden der naturalistischen Tatsachen, denen sie zugleich verpflichtet bleiben. Genau diese Spannung vibriert, wie harte Klaviersaiten schwingen, durch die langen Hypotaxen dieser Prosa und steht deren realistischer und eben auch politischer Grund- und Ausgangshaltung entgegen. So daß zwischen Eigners Poetik und derjenigen etwa Maxim Billers auf der einen und der sensiblen, achtsamen Prosa Wilhelm Genazinos auf der anderen Seite vermittels eines zur Schraube gezognen Skalpells der allerschärfste Schnitt klafft. Indem Eigner seine Handlungen bis an den Bruch ihres Gewindes weiter- und immer weiterdreht, entwickelt sich der soghafte Stil: es geschieht den Sätzen. Die einem Atmen, bisweilen der Atemlosigkeit gleichende Rhythmisierung der Sätze rückt die Romane dann eben doch näher an Manieristen vom Schlage Célines, als daß sie dem auf Abbildbarkeit angelegten literarischen Realismus glaubten. Nicht nur, daß die Botschaften, die sich über den doch immer vom Zweiten beobachteten und, kann man sagen, referierten, bzw. dauerzitierten Protagonisten mitteilen, sich relativieren; sondern die agogische Technik dieser Manier feuert die Erfahrung als Dokument aus der Erzählung. Autobiografie wird als reines Material in die Schwingungen des literarischen Tonraums gegeben. Insofern sind narrative Redundanzen imgrunde Ritardandi, aus welchen nicht selten die sich noch und noch beschleunigenden Erzählströme herausbrechen: jene entgrenzten Suaden, die, anstatt überreden zu wollen, Romane werden. Die syntaktisch realisierten Atemlosigkeiten machen es sowieso ununterscheidbar, inwieweit der Bericht real ist oder wahnhaft.
    Darüber irritiert zu sein, nimmt der direkte Erzähler der Bücher dem Leser vorweg. Man kann das, mit Manfred Mixner, als ironische Distanzierung verstehen. Dennoch führt es den Text unironisch erst recht eng und zu einer so unabweisbar unmittelbaren Leseerfahrung, daß Distanzierung, wie Ironie sie braucht, gerade erschwert wird. Ironie im Sinn der Moderne findet sich allenfalls dort, wo sich Eigner, ziemlich überraschend auch, über das eigene Verfahren lustig macht. Die oben bereits zitierte Stelle geht so nämlich weiter: „Und dieser Kerl hier hört gar nicht mehr auf; ich kann mir vorstellen, wie er sich seinem Schriftsteller gegenüber ausgebreitet hat, da kommt man ja, kann man nicht an sich halten, gar nicht darum herum, einen Roman zu schreiben. Ich aber werde ihm den Gefallen nicht tun. Ich halte mich strikt an die Fakten. Und an seine Worte. Schmücke nichts aus. Und ziehe nichts an den Haaren herbei.” Die Passage wirkt entsprechend – wiederum unironisch – deplaciert, weil implantiert. Als hätte der Dichter sich’s nicht verkneifen können, die Hermetik auch mal zu brechen, um, als Autor nämlich und unmittelbar, eulenspiegelsch den Hitchcock zu geben. Das ist aber Ausnahme geblieben, weil Eigner tatsächlich nicht von „Spielen”, sondern vom irdischen Leben erzählt. Dabei wird alle Ironie schon von Eigners Zeitbloms, diesen Landmaschinenhändlern und Speditionsunternehmern, aufgezehrt. Davon kriegt nun der Leser kriegt auch nicht mehr die Neige zu nippen. Sondern die eigentlich sarkastische Distanz der Erzähler, die in ihrer milden Form Irritation ist, zieht den Leser ganz besonders nahe heran. In „Golli” führte das Modell zur Identifikation des Erzählers mit dem Helden, die „Krankheit” sprang über und infizierte ihn. Von dieser „Ansteckung” haben sich die späteren Romane manches erhalten; gefährdet ist aber längst nicht mehr der Erzähler, sondern der Leser: Bis heute kehrt aus diesen Romanen keiner gesichert nachhause zurück.

    ANH
    November 2009

  2. Danke. Für Ihre wenigen und Ihre vielen Zeilen zu diesem Schriftsteller, dem bereits im Namen stand, dass er sich selbst gehörte und sonst niemandem.

  3. Großer Dank. Der Text über Eigners Werk ist sehr erhellend. Ich hoffe, dass er im sogenannten Literaturbetriebs wahrgenommen wird. Ich wahr mit ihm über 35 Jahre befreundet. Die jahrzehntelange Ignoranz durch den Betrieb könnte aufgrund.einer Rezeption ihres Textes eine Relativierung erfahren.

  4. @Gernot Kroschel: Es wird Sie zu erfahren freuen, daß der >>>> Arco Verlag plant, Eigners nachgelassenen autobiografischen Roman “Der blaue Koffer” zu veröffentlichen, voraussichtlich schon im Herbst 2020 oder einem Halbjahr darauf, einen immerhin knapp Tausendseiter. Für danach ist daran gedacht, die Romane neu auf dem Buchmarkt zugänglich zu machen. All dies achtsam ediert in selbstverständlich naher Abstimmung mit seiner Tochter, der Erbin seines Nachlasses.
    Wie gut aber, daß wir das Internet haben. So bleiben Essays wie meiner immerhin aufrufbar und werden aufgerufen, offenbar.

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