Schultens’ Feuer, Der untote Schwan. Zur Rhythmisierung: Aus dem Entwurf des Essays (3).

(…)
Bei Schultens brennt die Angst im Tal sogar a b. – Überhaupt ist dieses Gedicht, „Kali“, wahrscheinlich eines der intensivsten des gesamten Bandes:

a. lass ihn stufe um stufe diesen hang zum meer absteigen
sich seine weißen beine zerren bis sie knacken, brechen
b. lass sie los in myrrhe buschlavendel und im rauch
der hirtenfeuer wenn sie plastikmüll verbrennen
soll sie sich dran berauschen glauben es wär holz

Allein die rhythmische Struktur dieser Strophe ist berauschend: „bee laß sie los in myrrhe Buschlavendel und im rauch“, dem, abgesehen vom Auftakt, strikte Trochäen folgen: „(der) hirtenfeuer wenn sie plastikmüll verbrennen“. Solche Verfahren binden die scheinbar ungebundene Versfolge enorm, ja bewirken Klassizität, ohne daß dieser neue – ein freilich nachpostmoderner – Klassizismus sofort auffällt.

Untoter Schwan, Gedichte, Kookbooks 2017
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Das ist überdies poesiestrategisch klug; man merkt der Schultens an, daß sie ihr Brot ganz anderswo in Zusammenhängen verdient, die auch politisches Kalkül erfordern. Zu deutlich herausgestellte Klassizität hat in der Lyrikszene nicht nur bei Jan Wagner zu geradezu Verwerfungen, bis hin zu irrationalen Wutausbrüchen ob seines Erfolges, geführt. Andere Vertreter, darunter ich selbst, kommen in der öffentlichen Wahrnehmung gar nicht erst vor. – Die Wut hat ihren Grund darin, daß etwas, das vor den Ideologen nicht länger kratzfüßt, sich dennoch nicht mehr verschweigen läßt; dem Betrieb passierte irgendein „Unfall“; schon Durs Grünbein war dafür ein Beispiel, der einer der ersten gewesen, auf formale Wiederdurchdringung – und auch, o Grauen, auf Bildung – zu pochen. In ihnen, den “modernen” poetischen Ideologien, west ein – nachmarxistischer – Antiintellektualismus nach, der die, mit Hegel gesprochen, schlechte Stufe der Unmittelbarkeit fetischisiert hat und Bildung als Reflex sogenannt Elitärer versteht, als ein großbürgerliches, „bourgeoises“ mithin, Aas, dessen vorgeblich schon zerfallenes Rückgrat die Form sei. Klassizität, um es anders auszudrücken, zieht im Schleppnetz den sofortigen Verdacht hinter sich her, „reaktionär“ zu sein, zumindest (gleich das nächste Schimpfwort, das den Begriff obendrein falsch, nämlich im common sense verwendet) „romantisch“. Dabei wird nicht begriffen, daß so „romantisch“ der „freie“ Vers längst selbst geworden ist. Kein Establishment sieht sich als solches, geschweige denn als erstarrt. Es bestimmt zwar die Kriterien – Gipfel des Totalitären: ohne sie, eben, nennen zu müssen –, aber hält sich noch immer für revolutionär, zumindest fortschrittlich.

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2 thoughts on “Schultens’ Feuer, Der untote Schwan. Zur Rhythmisierung: Aus dem Entwurf des Essays (3).

  1. verzeih, aber hier wird Schultens zu einem vorwand für einen poetik-entwurf, der seine berechtigung hat, aber sich eben nicht mehr um Schultens dreht, sondern um etwas, was als polemik dargestellt wird zwischen rhythmus und freiem vers, deren jeweiligen schützengräben ich nicht zu folgen vermag. beides hat seine berechtigung. und brauchte somit auch keine verteidigungslinien. ich glaube nicht, daß dichtung solche linien braucht. die fünf zitierten zeilen sind überzeugend genug.

  2. @Bruno Lampe:
    Nein, kein Vorwand, sondern dieser Auszug ist eben Auszug aus einem (auch poesiepolitischen) Gesamtzusammenhang, in den ich Schultens’ Gedichte stelle; der Essay hat mittlerweile nahezu vierzig Buchseiten und ist gestern abend fertiggeworden. Was Du nicht wissen kannst, freilich, ist, daß ich mich gleich zu Anfang meines Textes auf dieses Interview beziehe, das Bernd Leukert für faustkultur mit Michael Braun geführt hat und das ich erst einmal ausführlich diskutiere, bevor ich auf Schultens eingehe; meine Conclusio mag ich noch nicht öffentlich machen, weil sonst der Auftrag der Zeitschrift unterlaufen würde, es also witzlos wäre, wenn sie den Text dann noch brächte.

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