Vor Aqaba, 3: Catania.Zwischenwelt. Das Krebstagebuch des 24. Julis 2020, nämlich sechsundachtzigsten Krebstages. Darinnen Die Brüste der Béart, 56.

[صحراء النفود, Anderswelt.
Via vittorio emanuele, 460. 6.40 Uhr]

Es ist doch mehr Nefud unter dem Vulkan, als der erste, ja noch zweite Tag ahnen ließen, die beide, wie ich spürte, auch für Lilly glückselig waren. Sie ließ mich da völlig in Ruhe, und wie flanierten, genossen, atmeten die Luft des Meeres, die süß war und voll eines Salzes, das sich beim Zubettgehen von der eigenen Haut lecken ließ. Es war auch nicht sie, Liligeia, die nächstmorgens protestierte, sondern eine Folge der Chemos, Strahlenfolge der Nefud, was nicht einiges, aber doch manches kippen ließ. Denn nach der ziemlich anstrengenden Tour die Hänge La Timpas hinauf und hinab und abermals hinauf, als ich da am Mittwoch erwachte (war es der Mittwoch?), konnte ich kaum auftreten, schon gar nicht zügig gehen. Beide Füße voller Blasen, deren eine so aussah:

Von der deutlichen Schwellung will ich gar nicht erst schreiben, die bis jetzt nicht zurückgegangen ist, Also setzte die Neuropathie meinen gerade hier enormen Bewegungsdrang radikal auf Null. Ich geb ihm dennoch nach, aber es geht nur in gepolsterten Flipflops. Die ich mir erst besorgen mußte. Mein seit Jahren, Unfug: Jahrzehnten bewährtes Schuhwerk nützt mir nichts mehr. Und nun, meiner Lust zu flanieren derart beraubt, sie jedenfalls deutlich, ich schreibe einmal, unter Beschuß genommen, fing auch Liligeia wieder an, sich deutlich, sehr deutlich zu melden. Zudem verging mir komplett die Lust zu schreiben, weil in meiner ansonsten nahezu idealen Unterkunft (nur daß man von hier aus das Meer nicht sieht) auch der Internetzugang schwierig wurde, teils gar nicht ging, so daß ich schon gar nicht Fotos hätte hochladen können, bzw. das alleine schon, mit einiger Geduld, aber nicht sie im Netz collagieren, was eh immer viel Zeit braucht.
Gegen Unlust und Schmerz anzugehen, ist mir selbst auf Sizilien nicht leicht, das mir ansonsten aber sehr, sehr gut tut, jedenfalls tat, die Hitze, das Zerlaufen im Schweiß, die Düfte, der Fischmarkt. Nein, ich bin froh, hier zu sein, teils durchaus glücklich, dann aber schlägt die genervte Krebsin wieder zu, die doch eigentlich auch nur genießen, sich entspannen, Kräfte sammeln für Aqaba wollte.
Wenn es anstrengend ist, Schritt vor Schritt zu setzen, wird plötzlich auch Luft zu holen schwer, einfach weil … nun jà, “einfach” … weil der Tumorschmerz aufs Atemzentrum drückt. Als ich noch gehen, ja ausschreiten konnte, war davon nichts zu merken. Da war die Zwischenwelt das pure, pure Glück:

Ich wollte nächsten Tages wieder hin, allein, wie erzählt, es ging nicht mehr, ich wäre wie auf Messern gelaufen (laufe wie auf Messern). Doch Lilly eben nicht selbst trägt die Schuld, sondern die Neuropathie, die mich nicht hat merken lassen, daß ich die Füße überanstrengte; tatsächlich, bis zum späten Abend, spürte ich keinerlei Beeinträchtigung, war nach der Tour lediglich auf, ich schreib mal, “rechtschaffne” Weise erledigt, lag dann auch schon um halb zehn Uhr abends im Bett – und erwachte nächstmorgens mit diesen Läsionen. Was bedeutet, daß ich wohl auch heute wieder vorwiegend sitzen, mir einen Ort am Wasser suchen und zu schreiben versuchen werde … allerdings am letzten der → Béartgedichtes, da wirklich fertig werden muß, bevor ich am 3. ins Krankenhaus wechsle.
Doch seit der Beeinträchtigung ist nicht nur die Lust dahin, Catania in die Nefud zu betten, um beide miteinander so zu verwirken wie Lilly und mich, ja überhaupt zu erzählen, sondern auch die Leidenschaft, die die Béarts trägt. Ich finde nicht den Ton, bin zu dunkel, möchte sagen: zu grämlich, die Klage hat die Überhand (Gendercorrectness, neue, konsense “Moral” usw.), wo gejubelt werden, begeistert angerufen werden müßte. Das klingt dann so, womit ich gar nicht zufrieden bin:

(…)
fließt Du mir mit dem Leben aus,

das ich am Meer noch habe und unter dem Vulkan,
wohin, zum Feuerend’, ich kam, vielleicht,
dem Wellengang zu lauschen und Blicke auszutauschen,
die nicht mehr ganz erlaubt sind – nichts,
was sich noch niederreißen ließe, außer, Béart, mit selbst
und meiner unpompejisch, allein pragmatisch
ohne der Sturm, ohn’ Erregungslust verschütteten Welt,
die ohne Schutt doch sei, ohn’ Frage und Zweifel,
ein Nein ist ein Nein, unverbindlich das fiat der Ih-aas:
ein jeder Mensch Esel, der zustimmt und faßt
nichts mehr an, das zurückschlagen könnte und wartet –
voraussetzt, daß wir es nehmen, und höhnt uns im stillen,
wenn wir’s nicht wagen,
da es auf Kraft nimmer ankommt,
seit wir die Gene auf Nachfrage mischen.

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Gut (das heißt nicht gut): Ausflüge entfallen. Ich werde mir einen Ort zu suchen, nur zu sitzen, zu denken und, wenn es geht, zu schreiben — was aber, Freundin, nicht bedeutet, daß ich nicht doch noch eine feine Erzählung aus dem Zeitlabyrinth hinbekommen werde; wahrscheinlich nur nicht mehr hier in Catania direkt. Es würde auch zuviel Zeitaufwand kosten, denn übermorgen bereits flieg ich schon wieder zurück. Da mag ich meine letzten zwei hiesigen Tage nicht im Zimmer verbringen unter Ausschluß sozusagen der Welt. Ich bin ja doch, trotz allem, sehr sehr gerne hier, gehöre hier, spüre ich wieder, quasi hin — und die Tumorschmerzen – abgesehen von den komplett zerblasten Fußsohlen, die wohl eher nicht –hätte ich in Berlin genauso.

Ihr ANH,
der jetzt die Tage bis zur OP zu zählen anfangen kann: Tag 12 vor der Enteinigung.

P.S.:
Sehr froh aber, selbstverständlich, bin ich darüber.

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