Vor Aqaba, 5: Das Krebstagebuch des fünfundneunzigsten Krebstages. Sonntag, der 2. August 2020.

[Arbeitswohnung, 78.23 Uhr
Händel, The Triumph of Truth and Time}

Es sei im Zeitlabyrinth, schrieb ich schon → dort, doch mehr Nefud, als ich ahnen sollte oder konnte. Daß sie sich aber so bemerkbar machen würde, hätte ich nicht einmal geglaubt. Und da ich nun zu kämpfen hatte, war ich des abends, wenn ich von meinen Ausflügen zurück in meine gute Bleibe kam, zu erschöpft, um nach dem Essen noch zu schreiben – zumal ich noch nie Nachtarbeiter war, sondern meine Poetik braucht das Tageslicht — auch dieses etwas, das mich von vielen Kolleginnen und Kollegen, auch den klassisch berühmten, unterscheidet. Wobei das Wort “Kollege” für Dichterinnen und Dichter etwas unangemessen Pragmatisches hat; es ist fast so, als wär von einer Art, wer in derselben Straße wohnt: Das stimmt schon nicht mal in demselben Haus. Doch dann, also wenn es dämmerte des sizilischen Morgens, wollte ich schon immer gleich hinaus, es sind doch womöglich meine letzten zwei Wochen, sind heute und morgen vielleicht die beiden letzten Tage meines Lebens. So sicher meine Lieben sich sind und auch imgrunde ich mir bin, daß ich aus Aqaba heil wieder herauskommen werde, freilich ohne noch meinen Magen, so ungewiß ist es de facto. Anders wären all die Vorbereitungen nicht nötig, die ich nah meiner Rückkehr aus Catania sofort entweder erst angehen oder beschließen mußte: etwa Verfügungen treffen für den Fall aller Fälle, vor allem auch den Zurückbleibenden, soweit es sie betrifft, sämtliche Paßworte zusammenstellen, die sich im digitalen Zeitalter für nicht nur die täglichen Abläufe (etwa Bankkonten, Kreditkarten usw.) ansammeln, sondern sie auch alle überprüfen; ebenso, beinah noch wichtiger, für meine Lektorin und die Verlage die Der Dschungel, der Computer, der Clouds. Damit hatte ich tatsächlich bis gestern, also in Berlin, zu tun. Es wirft Schatten aufs Gemüt, macht das Ende, an das man nicht glaubt, vor allem dem Romancier sehr faßbar, dessen Fähigkeit, doch auch Schicksal es ist, sich Imaginationen eben nicht nur “vorzustellen”, sondern sie im selben Moment als Realitäten zu erleben. Anders wären seine Bücher  nur Papier. — Doch. Nein. Wenn ich erwachte in dem alten großen Zimmer, dessen Wände über vier. vielleicht sogar fünf Meter zur freskenbemalten Decke hochreichten, und die ganze Nacht über hatte die Hitze darunter gestanden, als läge sie schwer auf der Haut, eine Decke aus Hitze, die mich die ganze Nacht in ihrem Schutz verbarg, — wenn da hinein nun das Dämmern zu leuchten begann, ein Licht, dessen Schatten bereits um sechs hart und scharf sind vor Kontrast, und in die Sonne läßt sich’s da schon nicht blicken, dann wollte ich stets sofort in die Gerüche, Laute, Geschmäcker Catanias hinein und vor allem “meinem” Meer so nah sein wie dem Alten, den Sie, liebe Freundin, hierneben rauchen sehen können.

 

 

 

 

Er zeigte sich mir so bei Aci Trezza, wo vor Jahrhundeten der von Odysseus geblendete Polifemo dem Listenreichen, da er floh, die Lavafelsen nachwarf. Sie ragen da noch heute aus der See, so daß wir zwischen ihnen schwimmen können. Was ich dort auch tat,

wenngleich es in den teils nun offenen Blasen schmerzte, des Mittelmeeres Salz, die meine Fußsohlen nach wie vor über- also unterzogen; immerhin desinfi|zierte es die Wunden. Dagegen fand ich weder die Muße, noch spürte ich irgendeinen, außer dem des schlechten Arbeitsgewissens, Impuls, “mein” Sizilien mit der Nefud zu amalgamieren, die durchquert ja fast nun war und von der ich mich im Zeitlabyrinth erholen sollte und wollte und dies eben auch tat. Nur daß der Arbeitsimpuls auch in Berlin nun nicht mehr zurückkam. Im Gegenteil. Dabei ist genau dieses eine geradezu → paradoxe … nein, nicht “Intervention”, aber Reaktion. Denn ich hätte allen Grund zu großer Freude und also poetischer Zuversicht gehabt. Unbedingt wollte mich mein Elfenbeinverleger sehen, und wir trafen uns → im März, wo er mir einen Umschlagentwurf übergab, der mich zugleich glücklich machte und erst einmal sprachlos

 

 

doch später führte er zu einer fies heraufkriechenden Depression, weil ich spürte, wie vergeblich auch das wieder sein würde – daß sich mein Verlag mit der schon für den November, was ich kaum glauben konnte, geplanten Neuausgabe des → Wolpertingerromans, ökonomisch schwer belasten würde, weil Betrieb und Buchhandel und also Leserinnen wie Leser das Buch ebenso weitgehend ignorieren würden, wie sie die anderen Bücher ignoriert oder, sofern sie sie überhaupt erwähnten, als Marginalien abgetan haben. Von wenigen Stimmen abgesehn, die es — ja! — → gibt, sogar deutlich und hervorgehoben, die aber nicht genug Marktstrahlkraft haben, um in der allgemeinen Wahrnehmung etwas zu verändern, oder die sogar genauso abgetan werden wie meine Arbeit, weil sie so wenig wie ich selbst in den Gemeinschaftsstall gehören und also anders riechen. Später bekam ich sogar ein schlechtes Gewissen, meinem Verleger das Projekt nicht ausgeredet zu haben. Denn für kleine Verlage kann so etwas an die Existenz gehen.
Auch Arco, übrigens, bringt eines meiner Bücher neu heraus, im kommenden Frühling, aber den sehr viel schmaleren New-York-Roman aus dem Jahr 200ß, so ist da auch dann weniger Gefahr, wenn meine Lektorin, Elvira M. Gross, und ich den Text, anders als den der Wolpertingers, noch einmal neu durcharbeiten wollen, etwas, das freilich erst nach erfolgreicher OP und meiner Wiederherstellung angegangen werden kann. – Sie sehen, Freundin, Pläne gibt es nach wie vor. Was wäre geeigneter, die Weichen fürs Überleben zu stellen? Und dennoch erwischte mich die Depression, dieses zehnmal verdammte “Wozu denn noch?” Dabei waren mein Verleger Držečnik und ich längst dabei, den ersten Umschlagentwurf zu revidieren. Mir war der erste Vorschlag zu nah an Anderswelt — zu dem der Wolpertinger allerdings auch gehört, nämlich als der Roman, der in sie hineinführt —, doch zu weit von dem entfernt, was er vor allem auch ist: ein Elfenroman. So daß der Umschlag nun so aussieht, und alle, die ihn jetzt sahen, waren davon mehr als nur angetan:

Und aber dennoch. Ich hatte die Nefudwanderung nicht mehr fortgeführt und kam auf Sizilien auch mit dem noch fehlenden letzten → Béartgedicht nicht zum Abschluß, war imgrunde komplett uninspiriert. Was daran Krebsfolge ist, oder Folge der Chemo, kann ich gar nicht sagen. Liligeia selbst verhielt sich auf Sizilien weitgehend still, aber die Füße kamen aus der enormen Schwellung nicht mehr heraus, die Blasen taten ihr eigenes, meine Bewegungslust wurde mit Kraft heruntergefahren, und auch flirten mochte ich  nicht mehr, schon der häßlichen Füße wegen, derer ich mich geradezu schämte, männlich schämte, ich bin ein ästhetisches, kein moralisches Wesen. Dennoch, Moral: Wozu denn noch die Béarts, wenn das, woraus sie leben, verboten worden ist und zum Unhold nun erst recht wird, wer es wagt, noch das Geschlecht zu besingen? die Frauen zu besingen, ohne die das Leben arm gewesen wäre, und armselig. Nun gilt schon das als Übergriff, wenn nicht gar als sexual harressment. Ich sehe die Schlagzeilen, wenn’s denn welche geben sollte und nicht wie gewohnt ignoriert werden wird, schon vor mir: Altmännergeilheit, übergriffige Lyrik, moralisch zweifelhaft usw usf. Genau daß es sich um Hymnen handelt, wird man mir zum Strick drehen. Wozu also? Warum mir das noch antun? Zweimal bereits wurden mir Literaturpreise, bzw. Förderungen versagt, weil ich immer noch an Geschlechtsunterschieden festhielte und so jemand öffentlicher Förderung nicht würdig sei. Ich hätte das Geld dringend, sehr dringend nötig gehabt. Und ich denke mir sogar, den Betrieblern wäre es nicht einmal ein nur leises Fest, nähme die Krebsin mich endgültig fort aus der Welt — doch eben dieser Gedanke war es, der mich – zusammen mit der Bemerkung Phyllis Kiehls, ihrer Beobachtung fiele ich in solche Verstimmungen jedes Mal, wenn ich aus dem Süden in den Norden habe zurückkehren müssen – … der mich aus der Depression wieder herausholte, und zwar geradezu schlagartig. Ich werde nicht zulassen, daß der Literaturbetrieb und seiner Mobberinnen und Mobber auch noch mein Leben und Sterben bestimmen – so wenig wie die moralischen, zum Kotzen eineindeutig-“sauberen” Gender-Ideologinnen und -ideologen. Im Gegenteil. Nun erst recht, dachte ich heute früh. Und wenn ich den letzten Béart-Hymnos im Krankenhaus schreibe, jedenfalls zuendeschreiben muß. Dann tue ich es halt.

Ich muß nicht erzählen wahrscheinlich, daß Liligeia meine graue Stimmung wieder genutzt hat, sich zu melden; doch mit dem Dronabinol, Cagliostros THX-Tropfen und gelegentlichen Gaben Novamin war der Schmerz recht gut in Schach zu halten. Nur vorgestern war er etwas komplizierter, weil er erst auftrat, als ich auf dem Fahrrad saß, um zum Sana-Klinikum und dem dortigen Coronatest zu fahren. Der übrigens, soeben kam der Anruf, negativ ausgefallen ist, so daß meiner morgigen Aufnahme nichts mehr im Weg steht und also auch nicht der → Großen Enteinigung übermorgen. Ich muß jetzt nur noch einen Dschungelhinweis auf Aqaba formen*), bevor ich mich unter die Messer lege.

Ihr ANH

*): Kurz hatte ich überlegt, ob ich für den Fall, daß die OP nicht gut ausgeht, einen Eintrag jenseits meines Lebens vorformuliere, aus dem Jenseits quasi, der von Lillys und meiner Vereinigung und unserer, sagen wir, Himmel-  bzw. Höllenfahrt erzählt. Aber dann überkam mich eine Art Aberglaube, der mich schließlich von diesem Vorhaben Abstand nehmen ließ. Es wäre des Blasphemischen sogar von dem Unhold, einem nämlich wie mir, zuviel gewesen. Da hätte ich meine Gegnerinnen und Gegner nun endlich einmal verstanden.

7 thoughts on “Vor Aqaba, 5: Das Krebstagebuch des fünfundneunzigsten Krebstages. Sonntag, der 2. August 2020.

  1. wie schön von Ihnen zu lesen – einen winzigen Text den ich vorbereitet – schon einige Zeit überlegt, wohin diesen denn schreiben, wenn keine Plattform dafür gegeben – aber: schon ist sie da – als kleinen Trost mit auf den Weg gegeben – wobei ich bemerken möchte, mich sehr schwer getan zu haben damit – welches sollen die “richtigen Worte” sein? — –Still geworden ist es in der Nefud – sehr still – liegt sie da sonnenbeschienen und hitzedurchtränkt -liegt sie da – der Sand rieselt leise die Dünen hinauf und wieder hinab- wie immer – und doch: selbst die Palmwedel wagen es nicht sich zu bewegen – alles wartet – wartet darauf, das Sie mit einem kühnen Schwung die Lappenschleuse öffnen, eintreten und sich den Stadtstaub aus den Kleidern klopfen – jedermann soll sehen, das es Ihnen besser geht als vor der Reise und Sie bereit sind neuen Abenteuern zu begegnen….RIvS – nachfolgend möchte ich eine Leseprobe aus meinen GrauhoferGeschichten anfügen – nur so – als Unterhaltung – ohne großen literarischen Anspruch – Grauhofer trifft Namiko – die macht es sich gerne selbst, zur Musik – während sie mit Grauhofer telefoniert:

    Und richtig- ach herrje – hatte sie sich Tchaikovsky, die Symphonien 4,5 & 6 rausgesucht – Karajan und die Berliner Philharmoniker –nun gut – dann eben dramatisch und mit Temperament – leicht depressiv angehaucht – das passte – Namiko in Hochform-
    Ging gleich los ohne Streit – Während die Bläser, nein das Orchester alles gaben, was sie nur konnten fieberte Namiko ihrer Erfüllung entgegen – im Gleichklang mit der Musik – die ziemlich laut im Hintergrund hörbar – lag sie mit diesem frischen Duft, der nach dem Duschen auf ihrem zierlichen Körper lag in verzauberter Atmosphäre auf dem breiten Diwan ihres Musikzimmers – die letzten Tropfen warmen Wassers noch in den Haaren – Grauhofer kannte ihre sinnlichen Rituale – der Griff zum wohlriechenden Öl, was aus der kleinen Karaffe in ihre Handflächen tropfte, dann sanft über ihren Körper verteilt und geschmeidig mit zarten Fingern zwischen den Schenkeln verteilt, im Dschungel der Lust wohnenden Mitte einmassiert gierig an der Phantasie saugend wie feuchtschmeichelnde Lippen an der ewigen Begierde des Verlangens –
    Lag sie da – lag sie auf dem mit roter Seide bespannten Diwan – auf einem großen bunten Baumwollhandtuch – fummelte und rieb sich die zarte Muschel die inzwischen feucht und weit geöffnet – für die kleinen Hilfsmittel bereit, die auf dem kleinen, gläsernen goldverzierten Beistelltischchen, in bestimmter Reihenfolge angeordnet, auf ihren Einsatz warteten – ihre Lust, eine glitschige Frucht mit wollüstigen Rändern aus schmeichelndem Samt – gierig, wie eine fleischfressende Pflanze den Dildo tief in sich hineinsaugend – vibrierend- bebend, das ganze Geschlecht – ihr Gestammel war nicht mehr wörtlich zu nehmen – hitziggurrende zarte Melodie aus ihr herausströmend in völliger Hingabe an diesen Moment – ………RIvS

    …also, hoffentlich geht das durch die Zensur — lach –….RIvS – Ihnen und dem OP-Team und überhaupt der ganzen Situation wünsche ich einen guten, wirklich guten Verlauf….ich werde in Gedanken bei Ihnen sein, auch wenn das wenig hilfreich erscheint….alles erdenklich Gute für Sie und herzlichen Gruß aus der Ferne — RIvS

  2. Leben bedeutet ja auch immer weiter leben.

    Auch von mir die besten Wünsche zum Gelingen der OP, dass wir schon Ende der Woche das Ende der abenteuerlichen Krebsreise als Leserinnen und Leser erfahren können, wie es sich so lebt ohne Magen, aber immer noch da mit bald neuen Texten.

  3. Nehmen Sie sie mit, die Liebe, die in all den Jahren für Sie zu empfinden ich und andere Leser gelernt haben. Legen Sie sie in die Hände der Chirurgen und sagen Sie ihnen, dass sie sich anstrengen sollen, weil es viele gibt, die jede Menge gelernt haben bei dieser Lektüre, die Sie noch brauchen und die von ganzem Herzen bei Ihnen sind.

    Die Frauen zu besingen ist doch nicht für alle Zeiten verboten. Das ist vielleicht ein Trend, doch wir lassen uns immer wieder gerne bewundern. Wenn es so ehrlich gemeint ist, wie es bei Ihnen zu finden ist und nicht schmierig, wie von jenem Amerikaner, der meint, sich alles erlauben zu können. Wunderbar Gomringers Gedicht, und wunderbar so viele Stellen in den “Brüsten der Béart”, von denen noch mehr zu lesen ich mich freue und die hoffentlich bald verlegt werden. Es muss weitergehen mit Ihrem Werk, auch wenn Menschen, die es mögen und verstehen, gar erst in der Zukunft geboren werden. Unendlich lang ist doch die Zukunft.

    Obwohl ich Sie nur kurz bei einer Lesung in Stuttgart persönlich kennenlernte, denke ich fest an Sie am Dienstag und glaube fest daran, dass Sie es schaffen und noch lange bei uns bleiben.

    Zur Erinnerung nochmal Gomringers Gedicht:

    avenidas

    avenidas y flores

    flores

    flores y mujeres

    avenidas y mujeres

    avenidas y flores y mujeres

    un admirador

    Natürlich ist das nicht sexistisch, wie auch die “Brüste der Béart” nicht sexistisch sind.

     

  4. Crepi, ja, Bruno Lampe hat so Recht… Antworten Sie

    crepi….

    Du Wölfin, Du Libellenkoenigin!
    Ci riuscirai, caro Alban.

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