Das All stürzt dahin ODER Zurück zu Hofmannsthal voraus. Zur Poetologie. (Wie nahe mir das ist – mit allerdings deutlich “nationalen” Hinwegstrichen und solchen jeglichen Anspruchs auf “Führung” und Führung überhaupt.)

[Hofmannsthal nach Daniela Gretz zitiert, Die deutsche Bewegung,
Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, Paderborn und München 2007]

Wir müssen aber „die Nation‟ aus alldem subtrahieren, sonst gehn wir nicht in Schuhen,
geschweige eleganten (von den „gesunden‟ schweigen wir hier besser), sondern marschiern
in Knobelbechern voran, um zu morden. Um 1902 mußte Hofmannsthal dieses freilich noch
nicht wissen. So wirkte seine nationale deutsche „Pädagogik‟ verhängnisvoll falsch, politisch
falsch mit; die ästhetische Analyse und ihre poetischen Folgerungen aber teile ich. Kunst, die
emphatisch sein muß, und Politik, die pragmatisch sein sollte, sind zu trennen. Kunst muß
nicht „menschlich‟ sein, darf es bisweilen gar nicht; andernfalls wird sie zu Pop und also Indu-
strie. Politik aber muß es sehr wohl; bei ihr ist’s grade umgekehrt.

(Komplikationen auf der zuende tätowierten Hand: Die Stichränder
haben sich leider entzündet. Nun sind besondre Pflege angesagt mit
sehr viel Panthenol und wahrscheinlich noch viel mehr Geduld.)

ANH
bei David Ramirer, Variation auf BWV 867, Dezember 2022



Den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelartheit), sondern die Form, das heißt durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander und diese Zeit. — (…) ich werde Ihnen das Leben wiedergeben. Ich weiß, was das Leben mit der Kunst zu schaffen hat. Ich liebe das Leben, vielmehr ich liebe nichts als das Leben. Aber ich liebe nicht, daß man gemalten Menschen elfenbeinene Zähne einzusetzen wünscht und marmorne Figuren auf die Steinbänke eines Gartens setzt, als wären sie Spaziergänger. Sie müssen sich abgewöhnen zu verlangen, daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit Blut.[1]Poesie und Leben, 1896

Wobei die folgende Stelle, daß Hofmannsthal ADHSler gewesen ist (wie ich selbst einer bin), ausgesprochen nahelegt:

Er ist da und wechselt lautlos seine Stelle und ist nichts als Auge und Ohr und nimmt seine Farbe von den Dingen, auf denen er ruht. Er ist der Zuseher, nein der versteckte Genosse, der lautlose Bruder aller Dinge, und das Wechseln seiner Farbe ist eine innige Qual: denn er leidet an allen Dingen, und indem er an ihnen leidet, genießt er sie.[2]Der Dichter und diese Zeit, 1906

und ein fast unabweisbares Movens seiner Ästhetik bekennt:

Wie der innerste Sinn aller Menschen Zeit und Raum und die Welt der Dinge um sie her schafft, so schafft er aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch, aus Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge. Ihm ist die Gegenwart in einer unbeschreiblichen Weise durchwoben mit der Vergangenheit: in den Poren seines Leibes spürt er das Herübergelebte von vergangenen Tagen, von fernen nie gekannten Vätern und Urvätern, verschwundenen Völkern, abgelebten Zeiten; sein Auge, wenn sonst keines, trifft noch – wie könnte er es wehren? das lebendige Feuer von Sternen, die längst der eisige Raum hinweggezehrt hat.[3]Ebda. Von den Veden, von der Bibel angefangen, können alle Gedichte nur von Lebendigen ergriffen, nur von Lebendigen genossen werden. (…) Aber was wissen die Menschen dieser Zeit von der Innigkeit des Lebens! Die nicht Einsam-sein kennen und nicht Miteinander-sein, nicht Stolz-sein und nicht Demütig-sein, nicht Schwächer-sein und nicht Stärker-sein, wie sollen die in den Gedichten Zeichen der Einsamkeit und der Demut und der Stärke erkennen? (…) Und nur mit dem Gehen der Wege des Lebens, mit den Müdigkeiten ihrer Abgründe und den Müdigkeiten ihrer Gipfel wird das Verstehen der geistigen Kunst erkauft.[4]Poesie und Leben, 1896

Klarer kann eine Absage an den „Realismus‟ nicht ausfallen:

Ich sage ,glauben’ und ich sage es in einem tieferen Sinn (…). Ich dachte das Wort in der ganzen Tiefe seines Sinnes zu nehmen. In seiner vollen religiösen Bedeutung meine ich es: als ein Fürwahrhalten über allen Schein der Wirklichkeit, ein Eingreifen und Ergriffensein in tiefster Seele, ein Ausruhen im Wirbel des Daseins. So glauben die Dichter das, was sie gestalten, und gestalten das was sie glauben. Das All stürzt dahin, aber ihre Visionen sind die Punkte, die ihnen das Weltgebäude tragen. [5]Der Dichter und diese Zeit, 1906

Dabei, daß “die Nation” ein Gebilde sei und durch gemeinsame Sprache wie insgesamt die “eine” Kultur zuammengehalten werde, war sicherlich damals schon Illusion (und machte Hofmannsthals aristokratische Konzeption nötig, für die aber “Blut- und Bodenlinien” und dergleichen nicht nur keine Rolle spielten, sondern dem von ihm gemeinten “Seelischen” grob entgegenstanden), ein Wunschdenken freilich, das sich bis heute signifikant verstärkt hat; noch viel weniger als damals wird irgendeine heutige – demokratische – Nation von einer Kultur zusammengehalten, die alle Bürger gemeinsam haben; selbst in der Sprache stimmt das nicht mehr (und hat auch damals schon, wenn wir etwa Dialekte als Sprachen verstehen, nicht gestimmt), aber erst recht nicht in der Musik. Nationen sind administrative Verwaltungseinheiten und dürften mehr auch gar nicht mehr sein. Kulturelle Zusammengehörigkeiten hingegen überschreiten die Grenzen.
Etwas anderes sind Landschaften (als die sich auch Städte fassen lassen); da gibt es Zusammengehörigkeiten sehr wohl. Es sind aber keine der Kunst, sondern von wahrnehmungspsychologischer Prägung.

[Arbeitswohnung, 9.28 Uhr]

References

References
1 Poesie und Leben, 1896
2 Der Dichter und diese Zeit, 1906
3 Ebda.
4 Poesie und Leben, 1896
5 Der Dichter und diese Zeit, 1906

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