Realitätsverschiebungen, 2: Selbstfiktionen (ff)

I

„Wer lange genug Genie spielt, wird eines.“ – Dieser Satz Dalís, den ich → Marcus Braun verdanke, kann fast als verhaltenstherapeutisches Muster für den dann immer weniger alltäglichen Umgang gelesen werden; er hat etwas von sich realisierender Selbsthypnose. Denn ihm zu folgen, bedeutet ja, Konsequenzen zu tragen, die ohne ihn kaum je in den Horizont gerieten; will sagen: Solche Selbst-Stilisierungen verlangen die Realisierung, machen also Arbeit. Und zwar nicht wenig. Es will etwa ein Werk vorgelegt werden, das man ja auch schreiben/erfinden/malen usw. muß. Denn unabdingbar kommt es zur Nagelprobe. Wer dann nicht hält, fällt tief. Und hat zur Hybris noch den Spott zu tragen.
Zugleich ist solche Stilisierung ein Weg zur Weltveränderung; ich meine den Begriff nicht pathetisch, sondern nüchtern: Es wird zur Welt etwas hinzugetan, das vorher nicht da war. Welt wird bereichert, wie ja Leben sich ohnedies dadurch auszeichnet, daß immer mehr Neues hinzukommt. Das Ganze hat selbstverständlich einen hochliterarischen Aspekt: Ob es Sherlock Holmes gab oder nicht, findet einen je unterschiedlichen Reflex in der Welt (den Köpfen, die sie schaffen), und zwar unabhängig davon, ob es ihn „wirklich“ gab oder nicht. Fiktionen seien realitätsbildend, schrieb ich anderswo. Interessant ist nun, solche Fiktionen nicht allein auf Kunstwerke, bzw. Gedankengebilde anzuwenden, sondern tatsächlich auch auf sich selbst und damit dann wie bei einem „Feldforschungs“-Projekt herumzulaufen und die Reaktionen anderer nicht nur zu beobachten, nein, das wäre allzu distinkt, nahezu feige, – sondern sie auf sich wirken zu lassen und entsprechend seinerseits zu wirken. Daraus ergeben sich dann höchst komplizierte, teils auch höchst heitere Dynamiken, die ihrerseits Innenbilder (Projektionen) anderer prägen. Insofern ist Welt tatsächlich „ein Text“, allerdings einer, der auch mit Blicken geschrieben wird. Und mit Haut.
Nicht nur das: Man selbst verändert sich dabei.

II

Etwas ganz Ähnliches, vielleicht sogar Gleiches geschieht, wenn man reist, um jemanden zu treffen, mit der man bis dato nur chattete, bzw. über Webcams kommunizierte. Allerdings gibt die Cam äußerliche Kriterien hinzu, modifiziert also die Projektionen der Spielpartner, so daß eine „Ent/Täuschung“ nicht mehr in derselben Weise zu gewärtigen ist, wie wenn es sich allezeit vorher um „reine“, also verbal entstandene Fantasien handelt. Allerdings kann mich die „Täuschung“ dann auch nicht mehr in einem Maß berauschen, wie es der „zufälligen“, schlagartigen Übereinstimmung gegenseitiger Projektionen mit Gerüchen, Haut, Lachen, Augenblitzen vermöchte.

Und dann ist doch alles irgendwie anders: Man sieht sich, und anfangs ist da Scheues, Rückweichendes, das aber wiederum auch lockt. Woraufhin sich, was im Chat einmal erreicht war, bestätigend wiederholt und wiederholen muß: Doch jetzt weiß die Verführung, worauf sie hinauswill. (Übrigens ist sie wechselseitig. Sage also niemand, das Internet schaffe nicht neue Realitäten!)

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Realitätsverschiebungen 1 <<<<

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