Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (15).

[Brahms, Vier ernste Gesänge, wunderschön, Kathleen Ferrier und Bruno Walter.]

Von Vilém Flusser stammt die Einsicht, am Anfang einer jeden neuen revolutionären Entwicklung stehe ein Regreß. Als Lieblingsbeispiel stellte er gerne das anhebende, theoretisch vergleichsweise naive Christentum gegen die ausgefeilte, hochzivilisierte Mythologie Roms und übertrug das auf die anhebende Ablösung der Schrift- durch die Bildkultur. Auch für die Chats hat er recht, die teils mit dieser zusammenhängen, teils aber auch vergangene orale Kommunikationsformen, nunmehr verschriftlicht, reaktivieren. Interessanterweise bedient sich die Chattersprache frühkindlicher Objektivierungen… fällt also in ein Verhalten zurück, das noch kein gesichertes Ich kennt und darum von sich selbst als von einem anderen spricht. Nicht „Ich habe Hunger“, sondern „Dirk hat Hunger“ sagt solch ein Kind – woraufhin die Eltern m i t ihm regredieren: „Soll die Mama schnell etwas kochen?“ Ganz entsprechend ist in vielen Chats nicht etwa „Ich purzle rein“ zu lesen, sondern – teils sogar über Makros normiert – „Zorro purzelt rein“. Dem reicht eine Tendenz zur Selbstidealisierung (oder zur Verniedlichung, übrigens vor allem bei Frauen: „Mausi“, „Zicklein“, „süße Süße“) nicht nur e i n e Hand. Auch dies könnte von einem Kleinkind stammen. Feste, oft comic-artig lautsprachliche Idiome wie „lol“, „schüttel“, „rofl“, „knuddel“ usw. unterstützen die Dynamik dabei noch, und zwar selbst dann, wenn sie ironisch gemeint sind. Das gilt auch für den Computerjargon allgemein, wenn er besipeilsweise aus „das funktioniert“ „das funzt“ macht. „Herbst lacht“ schreibe ich bisweilen noch jetzt in die Chats und habe das und ähnliches sogar in meine literarische Schriftsprache übernommen.
So etwas weiß das Weblog besser als jeder Chat zu verschleiern; dabei betont es das versprachlichte Private nicht minder, ja zieht fast seine ganze “Rechtfertigung” daraus, die obendrein durch bleibende Veröffentlichung von ihm abstrahiert: Die Objektivierung hat sich auf eine nächste Ebene gezogen und ist selbstbewußt geworden. „Blog“, wiewohl gar nicht anders entstanden, spricht sich bereits hochsprachlich akzeptiert aus: Es will sich wiederholen, will sich handeln lassen können. Der flüchtige Chat ließ die Ware Ich (und, wenn man will, das Ideal-Ich) immer wieder zerfallen. Das Subjektive des Weblogs ist insofern nichts als ein Schein des Subjekts, nämlich seine verdinglichte Illusion.

Deshalb die Literarisierung: Erst wenn ich das objektivierte (veröffentlichte, hinaus g e s t e l l- t e) Private als Material künstlerischer Formung begreife und auch so behandle, besteht eine Chance, Zwischenräume zu schaffen, in denen sich ein neues Subjektives – ob nun mein Selbst, ob mein Ich – auch im höchst entfremdeten Zusammenhang des binären Netzes behauptet, ohne daß es profan zugerichtet, also entseelt werden kann. Wo vorgeblich nur noch “Kommunikationen”, nicht etwa Menschen kommunizieren, taugt allein noch Kunst zum medialen Widerstand.

>>>> ERSTER ZWISCHENBEFUND
14 <<<<

2 thoughts on “Kleine Theorie des Literarischen Bloggens (15).

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .