Paradoxe Intervention.

Die Frage ist nicht, ob etwas wahr sei, sondern ob wir es uns vorstellen können. Können wir es – und sei es aufgrund einer Vereinbarung -, dann sind wir möglicherweise seiner Realisierung schon nähergekommen.

(LXXIX)

9 thoughts on “Paradoxe Intervention.

  1. Berücksichtigen wir dementsprechend noch dass die Vorstellungskraft der Einen aufgrund uns unbekannter Größen plastischer ist als die der Anderen, so können wir sagen, dass die Einen höheres Schöpfungspotential haben, als die Anderen.
    Zu unterscheiden wäre noch die Qualität von Schöpfungskraft: Kommen die häßlichen Dinge schneller und kraftvoller in die Welt – oder die schönen?

    1. Es ist spätestens seit Artaud schwierig, von häßlich zu sprechen. Das Theater der Grausamkeit schuf, vermittelt über de Sade, einen höchst eigenwilligen “schönen Schein”. Profanierte Reflexe davon gibt es heute noch im sogenannten “Trash”. Abgesehen davon hielt etwa Goethe fast die komplette Architektur des Barocks für häßlich – eine ganz ähhnliche Haltung, wie man sie heute bei den meisten Kritikern gegenüber dem mit demBarock sehr verwandten modernen Manierismus findet. Ich kann mich dem Gedanken nicht ganz verschließen (was mir als Manierist unangenehm ist), daß sowohl Goethe als auch die gegenwärtigen Stilkritiker – recht gehabt haben und haben. Nur daß die Dinge sich entwickelten und schließlich schön w u r d e n (und werden). Für solche Entwicklungen haben Künstler einen Instinkt (oder einen Glauben). Wer ihn nicht hat, bedient den Zeitgeschmack.
      Ihr böser Satz mit dem Schöpfungspotential gilt übrigens auch für die Wissenschaft – und für jeden anderen Bewußtseins- und Objektbereich, in dem qualitativ Neues entsteht. (Das nur quanitativ Neue umschreibt das Feld dessen, wovon immer gesagt wird, alles sei schon einmal dagewesen. Für das qualitativ Neue ist dieser Satz schlichter Humbug. Man muß sich nur einmal in einer Zahnarztpraxis umschauen und an die bereits mit 30 maroden Gebisse des 18. Jahrhunderts denken.)

    2. Zur Definition von Häßlich bleibt anzumerken, dass selbst ein Poem von Baudelaire über die Schönheit einer verfaulenden Frauenleiche noch nicht häßlich ist in dem Sinne, wie ich es meine. Natürlichen Erscheinungen, wie etwa einer verfaulenden Leiche, kann man via Poesie und Dichtkunst ganz sicher noch eine Art Ästhetik abgewinnen, die ihre Berechtigung hat. (Ich habe mich intensiv mit der literarischen Décadence des Fin de Siècle befasst). De Sade war in meinen Augen weniger häßlich, als grausam, und er “legitimierte” diese Grausamkeit durch poetische Selbstinszenierung und Selbstüberhöhung. Dennoch war er krank, und die Dekadenten der Jahrhundertwende haben kaum auf ihn zurückgegriffen, ihnen ging es um Ästhetik. “Trash” wäre ihnen ein Gräuel gewesen, es fehlt die Exklusivität und die Verfeinerung der Sinne. Wo will ich eigentlich hin? Ach ja, Häßlichkeit entsteht als Resultat der Profanisierung der Welt durch entfesselte Massenkultur. Darauf wollte ich wohl hinaus. Und dabei fällt mir immer noch ein zeitgenössischer deutscher Komponist ein, der auf die Frage, warum er sein Leben zum großen Teil in Orvieto verbracht hat (er ist letztes Jahr gestorben), geantwortet hat: Ich wollte in Schönheit leben.

      Beste Grüße zur Nacht.

    3. Es hat seinen Grund, daß ich von „profanierten Reflexen“ schrieb. De Sade war ein Enzyklopädist, also „Aufklärer“, deshalb die endlosen Kataloge (die sich auffälligerweise nun bei der aus mir schleierhaften Gründen berühmt gewordenen Millet wiederholten). Den Krankheitsbegriff halte ich in der Kunstbetrachtung für nicht für sehr geeignet; ganz sicher wäre ebenfalls Huymans „gesunderseitig“ als krank anzusehen, Kafka übrigens auch. Genau gegen diese gesunde, „bürgerliche“ Betrachtungsweise, die spätestens seit der Industrialisierung die Erde ziemlich krank macht, war u. a. die Décadence ein Widerstand, auf den sich nachher der Surrealismus um Breton bezog. De Sade „ging“ es um eine Erkenntnis, deren ästhetische Seite die Décadence ausprägte, später der Surrealismus, teilweise vorher auch der Symbolismus (das sind alles sehr verwandte Felder). Daran schließt tatsächlich die Moderne, und zwar die triviale, etwa bei Giger, an, dessen Farbgebung in den frühen Bildern ganz deutlich von Max Ernst hergenommen ist. Ich schrieb darüber, aber das Buch ist ja verboten.
      Den Vertretern der Décadence wäre der Trash mit Sicherheit ein Greuel gewesen, da haben Sie recht. Aber über die ist auch nicht der Massenvernichtungskrieg, ist nicht Auschwitz, ist nicht die mediale Revolution hinweggefegt: Das volle Ausmaß der Verdinglichung kannten sie nicht. Sie müssen sich, Elsa, nur vor Augen halten, daß etwa noch Ernst Jünger in den ersten Weltkrieg wie in einen zog, für den ritterliche (also romantische) „Gesetze“ gelten. Das Trauma der (Menschen-)Materialschlacht ist er nie losgeworden, hat zäh gegen das Trauma – aber völlig in der Dynamik eines Traumas – an seinen „Rittergesetzen“ festgehalten, denen er – wie Baudelaire der Leiche – in dem Stahlgewitter-Buch Schönheit abringen wollte. Auch D’Annunzio hat den Ersten Weltkrieg noch als ein ziemlich privates Scharmützel voller Mut und Ehrbewußtsein mitgeführt. Schon der zweite Weltkrieg, der, wie sämtliche folgenden Kriege, ganz bewußt Zivilisten nach Tausenden vernichtete und vernichten wollte, hätte solch eine Haltung nicht mehr erlaubt.
      So etwas hinterläßt Spuren in der Wahrnehmung, ich glaube sogar: in der Hirnphysiologie. Deshalb sehe ich eine Linie von, mit Lautréamont gesprochen, Maldoror über Huysmans „Là Bas“ und Artaud zu Lovecraft und schließlich dem jungen Ridley Scott, die tatsächlich eine Entsprechung in den Bewegungen des Punks, Gothics, Metallic und Techno, sowie den modernen Vampir-Fandoms etc. hat und sich – dem medialen Massenzeitalter sehr angemessen – wiederum im Trash affirmativ ästhetisiert. Der Einzug des Sadomasochismus in den sichtbaren Alltag steht auf demselben Blatt.

    4. Nun kann man ja Alles ästhetisch verbrämen, ohne dadurch der Ästhetik weh zu tun – mittels Übereinkunft, appunto! -, stellt sich also die Frage nach dem Inhalt eher als die nach dem ästhetischen Schein. So daß sich m.E. das, was Einer sich vorzustellen vermag, nichts über das Vorgestellte aussagt, um so mehr aber über den, der sich etwas vorstellt, sowie über das Umfeld, in dem solche Vorstellungen entstehen. Eine Frage des Sich-In-Beziehung-setzens: ob aus der Distanz, ob Miteinbeziehen-Lassen und schlimmstenfalls Sichanspannen-Lassen.
      “Zu unterscheiden wäre noch die Qualität von Schöpfungskraft: Kommen die häßlichen Dinge schneller und kraftvoller in die Welt – oder die schönen” (ElsaLaska) – – – Kraft ist an sich weder häßlich noch schön. Man könnte genauso fragen: Kommen die häßlichen Kinder schneller und kraftvoller in die Welt – oder die schönen. Antwort: beide kommen gleichschnell und gleichkraftvoll in die Welt. Eine Mutter ist eine Mutter ist eine Mutter.
      Und wenn man dann auf einen Libuda trifft, dann kommt da keiner vorbei, dann muß man sich damit eben auseinandersetzen, ob man will oder nicht. Das Wie bleibt jedem selbst überlassen. (Libuda: legendärer Fußballer von Borussia Dortmund, von dem es hieß: “An Libuda kommt keiner vorbei”). Sinnbildlich gesehen, selbstverfreilich und sowieso.

    5. Liebe parallallie “Kraft ist an sich weder häßlich noch schön. Man könnte genauso fragen: Kommen die häßlichen Kinder schneller und kraftvoller in die Welt – oder die schönen.”
      Wenn du meinen Beitrag nochmals aufmerksam liest, wirst du feststellen, dass es nicht die Häßlichkeit oder Schönheit der Kraft ging, sondern um ihr Tempo.

      In sofern war dieser Teil deines Beitrags obsolet.

      Beste Grüße
      Elsa

    6. @ Elsa
      Wenn ich Ihren Beitrag lese, dann lese ich, daß es um die “Qualität der Schöpfungskraft” geht, und daß es im gleichen Atemzug um Eigenschaften wie “schnell” und “kraftvoll” geht, die qualitativ nicht unterschieden werden. Insofern betrachte ich diesen Teil weder als “obsolet” (veraltet) noch als “überflüssig” oder sonst “vergeigt”.

      @ Anobella
      Ich bin schon 100 Jahre alt. Dieserhalb und desterwegen.

      Nachtrag: Es ist nämlich immer wieder derselbe Käse: Ist ein Jahr zu Ende, muß ich’s wiederholen, sprich: Nachsitzen!

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