Freitag, der 30. Dezember 2005.

8.58 Uhr:
[Skrjabin, Achte Klaviersonate.]
Lange mit G., dem Freund, und U. zusammengesessen am Abend, hingestapft durch den Schnee, die Abendvorstellung von Woody Allen’s Matchpoint war in zwei Kinos, wo wir’s also vergeblich versuchten, ausverkauft; so löste ich Ticketts für die Spätvorstellung im Kino in der Kulturbrauerei, wühlte mich durch den Schnee zu G’s wartendem Wagen zurück, wir gingen noch etwas essen und trinken, sprachen über das Ribbentrop-Rhizom und Usha Rebers Dissertation, die ich ebenfalls auf die fiktionäre Website stellen werde – es muß sie erst nur noch verteidigt werden -: jedenfalls über die Aufmerksamkeit, die meine Arbeit seit einiger Zeit an den Universitäten bekommt und wie so anders der Literaturbetrieb reagiert, dem es um Macht, nicht um Erkenntnis geht. (Das wäre mit den Universitäten nicht anders, griffe ihr Gegenstand auf ihre Struktur über; so etwas ist aber nicht zu erwarten. Im Literaturbetrieb hingegen wird jemand, der starke Aufmerksamkeit genießt, sofort seinerseits zu einem kräftigen Mitspieler. Lobt der Literaturbetrieb also, dann holt er sich den Gelobten sofort mit in die Steuerzentrale. Das ist an den Universitäten – jedenfalls gegenüber einem dichterischen Werk und seinem Autor – klarerweise anders.)
Allen’s (ich füge das genitive ‚s’ hier deshalb auf US-amerkanische Weise an, weil Allen US-Amerikaner i s t; ansonsten schriebe ich selbstverständlich ‚Allens’) Matchpoint hat gute Momente, besonders Nol’s und Chris’ Liebesobsession ist wundervoll und, ja, w a h r, auch daß sie dann schwanger wird und vollkommen zu recht sagt: „Das ist ein Liebeskind, es entstand aus der Leidenschaft“ – jajaja, das ist absolut richtig und in allem Schrecken großartig. Und auch die Klammer, die Allen um den Film legt – ein hochsymbolischer Realismus, der sich in Tennisball einerseits und Ehering andererseits manifestiert – , hat große künstlerische Ausdruckskraft, ABER: daß Chris in seiner Ausweglosigkeit hingeht und einen dilettantischen Doppelmord begeht, der nur deshalb nicht aufgeklärt wird, weil er – letzten Endes – Glück hat, ist nicht nur in der Herleitung seiner Aussage allzu durchschaubar (hier w o l l t e jemand einen pessimistischen Film drehen), sondern vor allem hängt die psychologische Charakterführung – als hätte Allen mitten in einem realistischen Spielset, damit alles auch recht funktioniert, die Welt von Twin Peaks in Gang gesetzt, die er aber dann gleich wieder verläßt. Für die psychologische Struktur von Matchpoint gilt nämlich etwas anderes: Jemand, der so feige ist, wie Chris dargestellt wird, hätte zum einen weder das Zeug zur sich gegen alle Widerstände durchsetzenden obsessiven Leidenschaft, noch würde er einen solch einfach aufzuklärenden Mord begehen, da er doch aus der billigsten Fernsehsendung wüßte, wie hoch selbst bei professionellen Morden die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers ist. Aber auch der Polizeipparat würde anders reagieren, als hier dargestellt wird, und zwar nicht aus Klugheit, sondern weil die Routine es vorschreibt, der auch dann – vorschriftshalber – gefolgt wird, wenn die Sachlage selbst es gar nicht mehr zu erfordern scheint. Im übrigen wären auch Spuren am Tatort gefunden worde (Fussel, Hautschuppen usw.). Allen ‚arbeitet’, über so etwas hinwegwischend, mit dem Unwahrscheinlichen, was für sich genommen g e h t, nicht aber in einem realistischen Setting aus der ‚normalen’ Umgangsgesetzen folgenden Welt der Reichen und Schönen, in die sich ein Aufsteiger hineinprotegieren läßt. Selbstverständlich hätte Allen einen Blick auf Lynch werfen können, aber dann wäre seine banale realistische Blickweise gefährdet gewesen, an der er gegen alle künstlerische Notwendigkeit offenbar festzuhängen scheint.
Wir stritten hinterher ein wenig, U., G. und ich; beide schienen Allen’s Personenführung zu glauben, ich meinerseits war verärgert darüber, daß es sich jemand künstlerisch derart einfach macht. „Menschen sind halt so“, sagte G. über Chris und tat einzwei Beispiele seiner juristischen Erfahrung bei, darunter war der wunderbare, erschreckende Satz: „Manche trifft ein Schicksal, das gar nicht ihres ist; deshalb sind sie dem nicht gewachsen.“ Das verhalf aber dem Film nicht zur Größe und nicht Chris zur Glaubwürdigkeit. (Es gibt noch ein paar andere, ich will sagen: emphatische Regie-Probeme, zum Beispiel mangelnder Einfühlung in Frauen oder eine schreckliche Dialogführung im Gespräch der beiden Polizisten. Da konnte man nur erschaudern. Und, aber das ist jetzt sehr weit gefaßt, die unterliegende Moral: Obsessive Liebe führe in einen Mord. Sowas paßt zu Allen, klar; deshalb merkt er, glaub ich, gar nicht, wie unwillentlich er dabei US-amerikanische, nämlich puritanische Sexualmoral mittransportiert, – eine internalisierte, da er selbst ja nun jüdischer Abkunft und nicht etwa Calvinist ist.)
Es gab kurz vor Ende des Films eine Chance für Allen, das Ruder noch herumzureißen: da erscheinen die beiden Ermordeten dem Mörder in einer Art nächtlicher Halluzination. Die Szene selbst wäre großartig, hinge sie nicht nur leer da. Hier wäre der Ansatz gewesen, ein tatsächliches Motiv zu finden, ein weiteres, will ich mal sagen, ein psychologisch und ästhetisch schlüssiges, – aber Allen, logischerweise, vertut auch das. Mag sein, er hat plötzlich die Angst aller sog. Realisten vor der eigenen Courage bekommen und wollte seine ihm vertraute ‚kritische’ Erzähldynamik nicht verlassen, obwohl der Stoff ganz deutlich etwas anderes von ihm forderte… schließlich läßt er den Stoff selbst in der Gestalt der Ermordeten an Chris herantreten… aber Allen wischt genau da eine Möglichkeit weg, die diesen Film nicht nur gerettet, sondern ihn zu einem vielleicht bedeutenden gemacht haben könne.

Aufgestanden erst gegen Viertel vor neun. Jetzt muß ich Sachen zusammensuchen, über Silvester fahr ich nachher mit G. und U. an den Döllnsee. Ob ich dann ins Netz kommen werde, ist ungewiß; es gibt in dem Hotel, auf dessen Grundstück G.’s Wochenendhaus steht, zwar WLan, aber kostenpflichtig… das wird mir dann sicher zu teuer sein.
Ich nehme den ARGO-Ausdruck mit für die Arbeit, den Laptop sowieso, Badehose und Sportzeug. Vielleicht renn ich im festgetretenen Schnee einmal die elf Kilometer um den See.

14.10 Uhr:
[Wagner, Das Liebesverbot.]
Sò, Laptop ausschalten und verpacken. Aufbruch an den Döllnsee. Sollte ich von dort nicht mehr ins Netz kommen, wünsche ich allen meinen Leserinnen und Lesern einen wundervollen Übergang nach 2006.
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Nachtrag:
Einkaufen. Döllnsee. Sauna. Zu,wie Ursula liebevoll spottete, „einfachen ehrlichen Menschen“ Abendessen gefahren, der einfache ehrliche Wirt rief, als er G. sah, zu seinen Leuten: „Der Profi ist wieder da!“ Mit welcher Charakterisierung er ausdrücken wollte, daß G. einen Rheingau von einem Bordeaux zu unterscheiden weiß. Jedenfalls hat G. nun seinen Namen weg; ich werd das für Die Dschungel augenzwinkernd beibehalten.
Langes langes schönes Gespräch dann im Wochenendhäuschen bei Bauerndank und Keksen. Und nachts noch, zu anderthalb Flaschen roten Weins, darunter den schwarzen aus Avola/Sicilia, Malaparte vorgelesen.