Melusine Walser (9). Alternativer Romananfang.

Geschichten wie meine können nicht bei armen Leuten beginnen. Deshalb entstamme ich einem begüterten, vielleicht sogar reichen Elternhaus. Wobei Sie nicht vergessen dürfen, daß zur Zeit meiner Geburt Krieg war. Was unser heutiges Leben beobachtet und schützt, war deshalb ganz außer Kraft. Wahrscheinlich wuchs ich in der Kleinkindheit auch völlig abgelegen auf. Anders ist es nicht zu erklären, daß ich mich weder an Schüsse noch gar Bomberangriffe erinnere. Meine ersten Erinnerungen sind dennoch, friedvolle aber, Geräusche, nicht etwa Düfte, wie das bei anderen Menschen der Fall ist. Ich erinnere mich an Pferdegetrappel, an das Schreien von Kühen, an ein Quietschen wie von ledernem Zaumzeug. Ich erinnere mich auch an – seltene – unrund klopfende Autogeräusche. Ich erinnere mich, daß mit den Autogeräuschen das Gefühl von Händen verbunden ist. Ich spüre, wann immer ich ein altes Auto, einen Oldtimer, höre, diese Hände noch immer. Ich erinnere mich nicht an Schmerzen und nicht an Angst.
Mit all dem ist kein Licht verbunden. Die hellen Erinnerungen meiner Kindheit beginnen etwa mit meinem fünften Lebensjahr. Ich habe das Gefühl, daß meine Eltern, die ich seitdem meine Eltern nenne, nicht meine Eltern waren. Dafür gibt es keinen objektiven Grund. Nur den, daß sie immer bestritten, jemals auf dem Land gelebt zu haben. Meine Geburtsurkunde gibt auch tatsächlich Augsburg an. Ich bin einmal nach Augsburg gefahren. Es gab nicht das geringste Moment eines Wiedererkennens. Ich habe auf meiner Suche Bayern durchfahren. Es gab Moment des Widererkennens. Nahe den Alpen. Meine Eltern haben bestritten, jemals dort gelebt zu haben.
Ich glaube, daß ich im Alter von fünf Jahren weggeben worden bin. Ich wuchs nicht allein auf. Es waren viele Kinder um mich, denn ich erinnere mich an das Lachen vieler Kinder. Ich glaube, daß all diese Kinder ebenfalls nicht von ihren Eltern stammten. Ich glaube, daß all diese Kinder als Säuglinge auf den Landsitz kamen. Ich erinnere mich an eine Amme. Ich sage Amme zu ihr, weil ich keinen deutlicheren Begriff für sie habe. Sie war Wärme und Fleisch, sie war Duft und Nähe. Ich würde sie wiedererkennen. Könnte ich zeichnen, ich würde sie zeichnen.
Ich glaube, daß ich als Säugling und Waise auf diesen Landsitz gebracht worden bin. Vielleicht bin ich meinen wirklichen Eltern weggenommen worden. Sie sehen, welch ein schwarzes Haar ich habe. Sie sehen ja, welch Haar ich habe. Vielleicht bin ich von meinen Eltern freiwillig weggeben worden, vielleicht für Geld. Es war Krieg. Es war Not. Ich glaube, daß ich mit fünf ein zweites Mal nach Augsburg weggegeben worden bin. Nach dem Krieg und in den frühsten Kinderjahren, während des Krieges, für mein späteres Leben vorbereitet. Noch scheue ich mich, den Begriff Erziehung zu verwenden. Das kam erst später. Ich glaube, daß meine Geburtsurkunde gefälscht ist. Da die eigentlichen Unterlagen in den Bomberangriffen verbrannt sind, läßt sich nichts mehr nachweisen.

Nein, ich habe einen genetischen Test nie gewollt. Ich liebe meine Eltern, von denen ich meine, daß sie nicht meine Eltern sind. Meine Mutter lebt noch, das ist richtig. Ja, sie lebt seit zwanzig Jahren in Meran. Ich habe sie auf all das nie angesprochen und werde das auch niemals tun. Ich habe das Bedürfnis, sie, da sie so alt ist, zu schützen. Sie ist auf erbarmenwürdige Weise hilflos. Aber ich möchte erzählen. Ich möchte nicht mehr warten.

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