Fünfzehnter Ranhadam. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 30. Mai 2016.


[Arbeitswohnung, 21.30 Uhr
Schubert, Quartettsatz c-moll]

Die Béart-Nr. XV erweist sich als zäher, komplizierter, als ich geglaubt habe; jedenfalls friemele ich immer noch daran herum. Der Text ist mir für ein Langgedicht noch zu abstrakt, das heißt: zu rationalistisch. Zu wenig sinnliche Bilder, zuviel Meinung. Da muß mehr Sonne hinein, mehr Schwitzen, mehr Autoabgas (die Grundszene spielt auf der 8th Ave); zudem flirren die Béart-Anrufungen noch nicht genug; was in der XIV gelang, das Changieren zwischen Mutter, Tochter, Demeter, Kore, ja einer, die das lyrische ErinnerungsIch „Orfea“ nennt, geht hier noch nicht auf.
Nach einigen Mühen zum Schwimmen gefahren; zum ersten Mal in meinem Leben mehr als zwei Stunden zügig am Stück brustgeschwommen, und nicht mal erschöpft war ich hinterher, sondern hätte locker noch eine halbe Stunde länger schwimmen können. Doch ich war verabredet.
>>>> Phyllis Kiehl, die für ein paar Tage in Berlin weilt, war hier, um mit mir die Ausstellung zu besprechen, an der sie ab 19. August, dem Datum der Vernissage, beteiligt sein wird; ich wurde, wie ich bereits schrieb, gebeten, im September eine Veranstaltung der beteiligten Künstler zu moderieren. Nun konnte ich die Texte sehen, die zu der Ausstellung geschrieben wurden, auch einen Entwurf des Kunstbuches, das zu dem Zweck entstehen soll. Also, ich habe zugesagt, und wir gingen schließlich Sushi, sie, und Sashimi essen, ich. Meine erste Mahlzeit des Tages. Kurz hatte ich vorher mit dem Gedanken geliebäugelt, überhaupt nichts zu essen heute, aber solch eine Einladung schlägt nur ein schwerer Masochist aus.
In Bezug auf meine Bemerkung anläßlich wiederum einer Bemerkung der Löwin, die ich in einem vorigen Arbeitsjournal verpetzt habe, spitzte Kiehl mitten im Gewitter, das während wir unter der Markise aßen hereinbrach: „Also zum Asketen brauchst du noch etwas, momentan wirkst du eher wie ein kompletter Genußmensch.“ Es macht aber auch Spaß, Wasabi pur zu… nun jà, „lutschen“? Und es befreit die Nasengänge.
Wir lachten viel. Ich brachte sie noch zur SBahn.

Tagsüber ein bißchen Emailverkehr mit der Staatsoper wegen meines verlorenen Notizbuches. Man suchte, fand nicht. Morgen werde ich beim Fundbüro anrufen. Falls es sowas gibt in Berlin. Gibt es sicher, wahrscheinlich sogar mehrere. Also das Charlottenburger, das in Mitte, das des Prenzlauer Berges. Hab ich sonst noch einen Kiez gekreuzt?
Doch ist es absolut unwahrscheinlich, daß es mir während der Radfahrt aus dem Jackett gefallen sein soll, ohne daß ich es merkte. Und aus dem verschlossenen Arbeitsrucksack hüpft so etwas wohl auch nicht von allein.
Rätselhaft.
„Junge, es sind nur Dinge“, pflegte mein Vater zu sagen.

Ich las Kiehl auch aus den Gedichten in der Zusammenstellungsversion vor, die ich nach Benjamin Steins Ratschlag erstellt (aber nach wie vor nicht in die „richtige“ Ordnung gebracht) habe; sie mag die Texte sehr und findet wie Stein meine Bedenken, sie seien formal nicht modern, unbegründet. Es beruhigt mich sehr, wenn ich dennoch weiterhin denke, genau so etwas werde mir zum Vorwurf gemacht werden, neben den Themen selbstverständlich, ihrer „Incorrectness“, man kann auch sagen: unverstellten Wahrhaftigkeit. Und selbstverständlich neben dem Pathos. Nichtironisch reimen: wie kann man sich erdreisten?!

Und ein langer Brief >>>> Christopher Eckers erreichte mich, eines der für mein Dafürhalten wichtigsten deutschsprachigen Romanciers der Gegenwart, neben Krausser, von dem aber auch kaum noch etwas zu hören ist. Aber auch hier gilt: thematisch incorrektes Schreiben jenseits der Modethemen. Wir werden immer sauberer: moralischer Veganismus. Ich sagte zu Kiehl: „Meine Güte, Wondratschek hat doch auch nichts anderes gemacht.“ „Ja“, entgegnete sie, „aber was man in den Siebzigern durfte, ist heute nicht mehr erlaubt.“ Es folgten meinerseits spitze Bemerkungen über den sog. freien Rhythmus, dem so viele gegenwärtige Lyriker anhängen. „Rhythmus“, sagte ich, „ist klingende Mathematik, jeder Musiker weiß das.“ „Aber wie willst du die Texte sonst nennen?“ „Zeilengebrochene Prosa“, sagte ich. Außerdem ist es ein Irrtum anzunehmen, Gedichte hätten mehr „Bilder“ als eine gute Prosa; das stimmte nur dann, wenn sich Prosa im Erzählen von „Plot“s erschöpfte, was allerdings zur Zeit, so dummer- wie einträglicherweise, meistens der Fall ist.
Ich werde Ecker morgen antworten.

Ja, Sie haben recht. Es wird Zeit, daß ich mich wieder deutlich positioniere. Das will ich wieder tun:


Bei nachdrücklich Schubert ff:
Guten Abend.

5 thoughts on “Fünfzehnter Ranhadam. Das Arbeitsjournal des Montags, dem 30. Mai 2016.

  1. In den 70ern war ja nicht unbedingt mehr “erlaubt”. Es scheint mir nur, als hätten – während einer gewissen Zeitspanne – mehr Menschen über Freiräume verhandelt und für sie gekämpft, die sie für sich in Anspruch nehmen wollten. Für die sie auch bereit waren, einen Verlust an Sicherheit und Akzeptanz in Kauf zu nehmen.
    Es gab auch noch Lebenskünstler:innen, die über längere Zeiträume die Idee von Improvisation präsent hielten. Heute scheint mir das Ausprobieren den sehr jungen Leuten vorbehalten, bei den Älteren geht es sehr viel um Konsens in Bezug auf Strategien und Methoden. Die Bandbreite an Expression offenzuhalten haben wir an öffentliche Personen delegiert, die das persönliche Freiheitsbedürfnis stellvertretend ausleben. Dieses komische “Star” und “Fan” Konstrukt.
    Muss darüber noch weiter nachdenken.

    1. “Die Bandbreite an Expression offenzuhalten haben wir an öffentliche Personen delegiert”: Genau dies scheint mir das politische Problem zu sein, daß wir delegieren, anstelle uns, wie Sie einmal schrieben, selbstzuermächtigen – in meinen Worten: selbst frei zu sein, wozu eben auch gehört, Meinungen zu verteten (Haltungen zu haben), die >>>> nicht über einen (gesellschaftlichen) Konsens gedeckt sind. Man muß ja fragen, was und wer diese Konsense in Gang gesetzt hat.

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