Coronas Alltag II: Im Lichte hängende Schuhe. Das dreiundzwanzigste Coronajournal des Sonntags, den 26. Apil 2020.

 

[Arbeitswohnung, 8.45 Uhr]

Ein bißchen was ist nahzutragen → zu gestern, auch wenn mein Waschtag vorüber. Hinweisen möchte ich zuvor auf → Bruno Lampes neuen Tagebucheintrag, weil er zeigt wie ähnlich wir uns offenbar momentan sind, aber auch auf → Xos längeren Kommentar, den ich soeben – gleich darunter – einigermaßen ausführlich beantwortet habe. Und daß Sie mich jetzt mit Maske sehen, etwas mir bei mir wie fast noch mehr bei anderen, dräuend Unangenehmes, liegt einfach darin, daß mein türkischer Bäcker (!) sie im Angebot hat, weil er einer Freundin helfen will, die diese Dinger in Heimarbeit herstellt. Als ich sie sah, lockte mich bei einer die Schlangenprägung.
Ob solche Masken überhaupt was helfen, steht in den Sternen; die Angaben sind widersprüchlich, ja horoskophaft und haben vor allem etwas, das auffällig auf Beruhigung formuliert wird, zumal tatsächlich schützende Masken dem sich um Kranke kümmernden Personal vorbehalten bleiben sollen, wohl auch müssen — was durchweg einzusehen ist. Wir stochern in Wähnungen, durchschreiten sie wie durch dichten Neben, sind angewiesen darauf zu glauben, was wir hören und lesen; überprüfen, wir selbst, können gar nichts, und sind so an Fäden bewegt; auch politisch wissen wir nicht, was tatsächlich “abläuft”, müssen “Vertrauen” in eine Struktur haben, die ein Vertrauen ständig mißbraucht hat und weiter mißbraucht, wie nicht allein → abgeordnetenwatch.de zeigt. Es zeigt sich real, was ich bereits → vor zwanzig Jahren formulierte, quasi erkenntnispoetisch. Um wieder mal Hubert Winkels zu zitieren: ANHs “utopistisches Tamtam”.
Sei’s drum, es gibt auch beinah Märchenhaftes, zum Beispiel dieses “Corona | doof“, auf eine Blechdose geschrieben, die in der Ahlbecker von einem Balkon im dritten Stock auf Kopfhöhe herabhängt, an einem Band, und im 10 Cents bittet:

Auf den dazugehängten Blättern sind Buntstiftzeichnungen zu sehen, wie Kinder sie malen.
Ich warf 50 ct hinein.
In meiner Gehrichtung (zu PENNY), dreivier Meter weiter vorn, hing etwas anderes herab, ein offenbar Buch, doch insofern geschlossen als so in weißes Papier eingeschlagen und von dem Bändel, das mehrfach verknotet, umwunden, daß es ein Rätsel blieb, da den Umschlag aufzureißen niemand unternehmen mochte — aus Scheu, aus Achtung oder eben, um das Geheimnis nicht zu entweihen.
Ich war nur noch mal losspaziert, um meine Maske auszuprobieren und wie sich’s drunter anfühlt. – Praktisch fühlt sich’s an, weil die Schals, die ich mir beim Einkaufen neuerdings um die untere Gesichtshälfte schlug, worin ich sie einschlug, arg das Sichtfeld behinderten. Nun kann ich immerhin frei gucken. Wobei ich das Zeichen, mehr ist es nicht, dafür, daß ich nicht andere anstecken möchte, an freier Luft nach wie vor nicht vor mir her trage. Es käme mir wie ein Verrat an unseren Körpern vor, grad auch an dem meinen, der sehen und gesehen werden will. Ohne Gesicht aber gibt es die Körper nicht mehr. Die Gesichter, grad in ihrer Offenbarung, tragen unser Geheimnis als Mensch.

Ich bin nicht allein. Die meisten Menschen draußen tragen keine Masken, jedenfalls nicht auf dem Prenzlauer Berg. Komisch, welch eine Wendung das Vermummungsverbot genommen hat und welch eine Kehre die Burka. Verschleierte Frauen? Hoch modern! Entdecken wir nun (und tun es die Modeschöpfer, und -innen, vor uns) die Erotik des Tschadors? Es wäre, scheint’s mir, die Zeit. Oh seltsamer Sieg des Islams! (Wenn auch nur dessen, der fundamentalistisch treu dem Wortlaut des Texts).
Bald laufen lauter Darth Vadors herum, oh dunkele, dunkelste Seite der Macht. Stellen Sie sich, Geliebte, nur vor, wir liefen bald alle so herum, und daß manche es begrüßten … Der Widerstand, der sich grad in Berlin hier und da zeigt, ist nicht nur dumm, ist nicht nur verantwortungslos. Sondern da ist ein Instinkt, der uns warnt.
Also freue ich mich, wenn im Thälmannpark die nicht nur jungen Leute beisammensitzen unter der Sonne (die dem Virus übrigens, so heißt’s jedenfalls, gar nicht guttut), und es fliegen auch tatsächlich Blicke von Weib zu Mann und Mann zu Weib hin und her, die nicht nur fragen, sondern tasten, was wir wohl noch dürfen, um sich und uns zu vergewissern, was wir denn noch sind.
Auf dem Helmi wiederum ballen sich nach wie vor die Obdachlosen, freundlich, wenn auch manchmal grölend, zwischen frisbeewerfenden Vätern und Söhnen, zwischen den auf hartem Granit tischtennisspielenden Anrainern, und gen Osten fahren im abgegrenzten Bereich die kleinen Kinder auf Bobby Cars herum. Und aber die Spatzen! Die Spatzen!
Ich kam vom Waschsalon, mochte aber noch nicht an den Schreibtisch, weil Mme LaPutz noch herumwuselte, möglicherweise war der Boden noch vom Feudeln naß. So blieb mindestens noch eine halbe Stunde Zeit, die ich für ADA nutzen wollte. So daß ich den schweren Rucksack auf eine der Bänke wuchtete, das Buch herausnahm, mich setzte, um zu lesen. Was ich aber dann nicht mehr tun mochte. Die Sonne schien zu warm, und solch lebendiges Leben war um mich herum. Ich war Zuschauer ganz vorne im Parkett. Legte das Buch also neben mich und meinen Kopf gen Wärme in den Nacken, ruhte. Schaute wieder aus mir heraus und sah zu, gleich gegenüber der Drachenbrunnen, Neunzehntes Jahrhundert (allerdings ein Nachbau von 1987), dessen Pumpe nach wie vor funktioniert:

Ein Obdachloser, seltsam verrenkt im Beingang, schlurfte nicht, nein, er ging, aber wie verzerrt … also näherte sich und, bevor er mich passierte, grüßte. Ich tat’s zurück. Wir waren beide völlig einig. Gutes, menschengemäßes Gefühl. – Er nahm auf der Nebenbank Platz und begann ein Selbstgespräch, aber laut — teils sogar, den Anschluß suchend, gerufen. Schließlich stand er wieder auf und stakte, wie in der Körperdiagonale durch ein künstliches Gelenk zusatzbewegt, zum Obdachlosenpulk zur andren Seite des (recht schmalen) Parks hinüber, von wo ihm endlich zurückgerufen worden war.
Da fielen mir erstmals die Schuhe auf (wie oft schon mochte ich drunter merklos durchspaziert sein?), Hunderte, die in der Luft hingen, von einem Gebilde herabhingen, das häßlich genug war — wie quasi alle Kunst am Bau, bzw. im Öffentlichen Raum; meine Güte, solch ein Elend, das auch noch mit Steuergeldern finanziert wird: Man kastriere diese Künstler, sterilisiere die Künstlerinnen, und die Juroren enthaupte man bloß schnell! — … das also häßlich genug war, um von diesen Schuhen, meist Sneakers, tatsächlich verschönt zu werden. Ja, dieses Gebilde kommt nun erst zu sich, weil Menschen mit ihm tun, das sie dem Elend immer antun, wenn sie es ertragen wollen: Sie überhöhen’s künstlerisch.
Ein pures Sinnbild der Hoffnung. Ich habe Ihnen die Installation vergrößert, damit Sie sie besser erkennen können:

Wie es zu den Schuhen kam, (noch) keine Ahnung. Habe bereits im Netz recherchiert; es war nur nichts herauszubekommen, jedenfalls bislang. Am besten, ich frage jemanden direkt.
Kiezgeschichte. Wo leben ich, wie ist es geworden? Auch das, in der Tat, sind Coronageschichten — da wir vielleicht zu verlieren beginnen. Ich begann, mir die Füße vorzustellen, nackt, die einst, meist wohl mit Socken dann, in diese Schuhe schlüpften, von ihnen gehalten waren, geschützt. Die Zehen sah ich mir an, die Fersen, Ballen, die gliederigen Höhlungsgewölbe der Plantaraponeurose – einer erotisch enorm empfänglichen Körperpartie. Das Wort “Gewölbe” selbst stellt schon einen Zusammenhang zwischen sinnlicher Sakralität und Raum her.
All das auf einer Parkbank. Mehrmals flatterten zwei kecke Spatzen vor meine Füße, sahen mit ruckenden Köpfchen hoch. “Na”, fragte ich, “ihr kommt aus Guf?” — Sie hatten nicht vor, ihre Schleier zu heben. Und taten’s also nicht, schon gar nicht so frisch vom Baum der Seelen geflogen. Aber zeigten mir doch, es gebe ihn noch – ja, mehr!: Denn unversehens begriff ich, daß dieses potthäßliche Kunstding, das durch die vielen daranhängenden Schuh, die sich, wenn Wind geht, gleich aber stillen Klangspielen bewegen,  zum Sinnbild des Lebensbaumes (עץ החיים) geworden war, von dem die zwei Spatzen herabgeflattert.
Auf einer Parkbank all das. An eines Samstags — שבתs, ecco! — Mittag.

Da wurde es Zeit, wieder weltlich zu werden, was aber nur pragmatisch heißt. Denn die Zeit war längst da, daß Mme LaPutz ihre Arbeit beendet und Anrecht hätte auf die dreißig Euro, um derentwillen sie ihre Coronaisolation ja durchbrochen und sich meiner seit fast zwei Monaten in hygienischer Hinsicht arg vernachlässigten Arbeitswohnung angenommen hatte. Tatsächlich bekam ich auch einen Rüffel von ihr, den ich gelassen hinnahm (normalerweise braus’ ich bei so etwas auf). Sie hatte ja recht, was sollt’ ich es leugnen? “So viel Staub!” rief sie aus, wahrscheinlich das Schlimmste mir verschweigend, besonders Gekläe (: ein → Wort Else Eggers’) im Küchenbereich.
Aber recht wohlgemut zog sie ab, nicht ohne, coronahalber, noch allerlei “Theorien” zum besten zu geben, etwa die der künstlichen Laborerzeugung (aus vermutet militärischen Zwecken) seitens der a) Chinesen, b) Russen (klar, sie ist Lettin), c) US-Amerikaner, denen auch ich sowas zutrauen würde; dann, daß man nun sämtliche Fledermäuse – ja, auf der Welt – vernichten müsse, worauf ich in noch immer mythischer Sanftheit mit den ökologischen Folgen entgegnete, die so etwas dann erst recht nach sich zöge. Und wie teuer, rief sie, alles hier sei! — “Weshalb arbeiten Sie dann hier?” “Na, weil man hier mehr verdient!” Der aus ihren Aussagen leuchtende Widerspruch war ihr nicht klarzumachen. — Ob sie zwei Rechnungen ausdrucken dürfe, je in drei Exemplaren … Und die Mieten seien in Deutschland mindestens zehnmal so hoch wie daheim … “Aber Sie können sie hier mit Ihrer Arbeit bezahlen.” Ja, aber das Essen sei so teuer. Und vor allem dürfe sie jetzt nicht mehr nachhaus, ja nicht einmal in Lübeck die Freundin besuchen. “Wie lange soll das so weitergehen?!”
Wenn ich schon zweifle, spürte ich, wie schlimm muß es um “einfache” Menschen da stehen, die doch die meisten von uns sind? und möchten nichts, als einfach zu leben: zu essen, zu schlafen, jemanden zu haben, die oder der sie in den Arm nimmt, und abends rosane Shows in den Fernsehgeräten. Die gar keinen Ehrgeiz haben, “etwas zu sein“. Und wählen blind sich die Meinungen aus, getreue dem, was sie prägte, früh schon prägte und bleibend.
Demokratie … (Lesen Sie → dort).
Nein, ich bin nicht arrogant, wenn ich – “Correctness” hin, “Correctness” nun her – die Unterschiede nenne.

Ihr ANH

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