Seirēn | Exposé eines Kammeropernlibrettos

Vorbemerkung, 14. 1. 2021
Dies wurde für einen Wettbewerb nach mehreren Gesprächen mit dem Komponisten entworfen, der dieserhalb auf mich zukam; dem jetzigen Exposé ging ein anderes voraus, dessen Ausführung für kleine Besetzung nicht funktioniert hätte. Dennoch halte ich auch an dem anderen, nämlich für eine große Oper, fest, die nicht nur ein vielstimmiges Orchester, sondern vor allem auch einen Chor hat, ohne den sich das mit dem Mythos verknüpfte Unheil meiner Meinung nach nicht angemessen darstellen läßt, weil es eben um eine Massenbewegung geht.
Wie auch immer, wie schon das erste Exposé ist nun auch dieses hier vom Komponisten abgelehnt worden, aus Gründen, die mir deutlich machten, daß, so sehr ich es mir wünschte, eine tatsächliche Zusammenarbeit mit ihm aus politischen, bzw. ideologischen Gründen niemals stattfinden kann. Das hängt auch – in weitestem Sinn – mit den Genderdiskussionen zusammen. Etwa war die Idee der Besetzung mit einem Counter die seine; ich fand sie stimmlich reizvoll, nicht hingegen in, wie e r wollte, Transgender-Betracht. Als darstellerische Besetzung wäre mir tatsächlich eine Frau lieber. Ich belasse das Exposé dennoch erstmal so und arbeite n i c h t um – auch weil mich die möglicherweise provozierten Diskussionen interessieren. Daß ich weder den Namen des von mir hochgeschätzten Komponisten nenne noch den tatsächlichen Anlaß kenntlich mache, versteht sich von selbst. Nach meinem Fortgang aus der Welt werden eventuelle Biografinnen oder Biografen die zugrundeliegenden Korrespondenzen ohne Schwierigkeiten in meinem Nachlaß finden.
ANH, Berlin

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S E I R 
Ē N

Ort
Küste
Lehrlingsbude
Küste

Personen
Seirēn (Counter)
Edvard (Tenor)
Sängerin (Alt)

Vorspiel

Nur Musik

Szene 1 (Küste)
Am Bühnenrand steht die Sängerin und sieht – von Seirēn und Edvard unbemerkt – stumm zu.

Edvard findet am Strand eine junge, völlig durchnäßte – anscheinend: – Frau und versucht, sie zu Bewußtsein zu bringen. Dabei überrascht ihn ihre gelbbraune, vor allem glitzrige Haut. Er streift mit der Hand darüber: Ob sich das Glitzern abreiben läßt? Doch: „Aua!” Ir­gend etwas scheint vorgestanden zu haben, an dem er sich schnitt. Er lutscht das bißchen Blut ab. Da kommt Seirēn zu sich, auf Edvards Finger schauend. Der fragt;: „Was tust du hier, du kannst doch nicht mitten im Winter, bei dieser Käl­te …‟ – Sie antwortet, aber er ver­steht die Sprache nicht.i „Woher bist du, was ist gesche­hen?‟ Was sie erwidert, versteht er neuerlich nicht. Aber, meine Güte, diese Augen! Eigent­lich müßte er einen Rettungswagen rufen. Doch Seirēn, wie wenn sie es verhindern wollte, klammert sich an ihn. Er möchte ihren Namen wissen, zeigt auf sich selbst, sagt „Edvard‟, zeigt auf sie, fragt: „Und wie heißt du?‟ Sie scheint zu begreifen und gibt, sehr langgezogen, etwas wie: „Eyeeeeen‟ von sich. – Er nimmt sie erstmal mit zu sich.

Während des Szenenwechsels kommentiert die Sängerin das Geschehen mit der menschli­chen Naivetät und dem Mutwillen des Sirenengeschlechts.

Szene 2 (Edvards Bude)

Edvard reibt Seirēn notdürftig trocken, wobei er entdeckt, daß sie sich die – schon, als er sie fand – nackten Fußsohlen verletzt hat. Sie wird sie sich an offen klaffenden Muscheln geritzt haben. Sie bluten. Auch sein Finger scheint wieder zu bluten, als er ihre Wunden säubert, „hier, drück das drauf, wir beide brauchen Pflaster drauf. ” Er eilt, welche zu suchen und bringt gleich von sich trockene Kleidung für sie mit. – Als er die Pflaster auf ihre Wunden heftet, beugt sie sich vor, legte zwei Finger unter sein Kinn und hebt sein Gesicht. Sie schau­en sich an. Da nimmt sie seine von ihrem und seinem Blut benetzten Finger in den Mund, lutscht sie ab. Dabei beginnt sie, in ihrer unverständlichen Sprache zu singen. Indem – davon? ja, es scheint so zu sein – die Dämmerung zu Dunkel wird, tritt die Sängerin ein, von den zweien so wenig bemerkt, wie irgend jemand sonst sie bemerken würde (der nicht grad als Publikum dasitzt):

Wehe dem Menschen, der Seirēnes nicht hält
Weh einem jeden, der Seirēn verfällt
Weh wird die Lockung, zu Weh der Gesang,
Den Menschen, denen zu nahe er klang

Szene 3

Edvard muß zur Arbeit, er steht im zweiten Jahr einer Zimmermannslehre. Schwärmend erzählt er Seirēn davon. Sein Ausbildungsbetrieb ist eine Yachtbaufirma. – Sie, die in seinem Bett (er auf dem Sofa) geschlafen hat, will ihn aber nicht gehen lassen. Er ist hin- und hergerissen. Noch, schließlich, setzt er sich durch und verläßt sie.

Szene 4 (Maledizione)

Seirēn erst allein. Sie begibt sich – leise Wehlaute: die Fußsohlen schmerzen so – ins Bad, läßt, wie wir hören, Wasser in die Wanne. Als sie ins Zimmer zurückkehrt, steht zu ihrem Er­schrecken die Sängerin da und spricht sie an, mit Blick auf die wehen Füße deutlich war­nend: Ein jeder Schritt, als ginge Seirēn auf Messerklingen (Andersen zitieren, aber ins Vers­maß übertragen?). Seirēn soll ins Meer zurückkehren, ehe es zu spät ist. In deutlicher An­spielung auf Seirēns ambivalentes Hermaphroditengeschlecht:

Meer ist Mutter und Vater, Du fehlst
Meer ist nicht Mann, ist nicht Weib
Meer ist, was Du verhehlst
Er wird ihn verschmähn, Deinen Leib

Seirēn antwortet in ihrer uns weiterhin unverständlichen Sprache, die die Sängerin aber für sich selbst übersetzt und zugleich immer kommentiert, so daß sich ein großes Duo ergibt. Als Seirēn geendet hat, dringt die Sängerin nochmals in sie. Vergebens. Schon im Gehen und in­dem sie sich noch einmal herumdreht, sagt sie: „Du weißt, was du tun mußt, wenn er sich von dir wieder löst.” Mit diesen Worten legt sie einen Dolch auf den Tisch. Sie, Seirēn, müs­se, schlage Edvards Herz für jemanden anderes, ihn erstechen, und zwar so, daß sein Blut auf ihre Füße spritzt. Das gäbe ihren Beinen die Meeresform zurück. Nur dann könne sie heim­kehren. – Die Sängerin ab.

Szene 5

Nächster Morgen. Wieder will Edvard zur Arbeit, diesmal aber gibt er Seirēn nach, die ihn zu sich aufs Bett zieht. Als sie kuscheln, springt er plötzlich erschrocken auf, aber auch be­schämt. „Bist du ein – Mann?” – Seirēn kann wieder nur in ihrer unverständlichen Sprache antworten. Um aus der Situation irgendwie herauszukommen, gesteht er ihr, eine Freundin zu haben, Yvonne, der er jetzt untreu geworden sei. „Bitte verzeih, verzeih, verzeih!” Dann wird er wütend: „Du hast mich verführt, verführt, verführt!” Von ferne hinter der Bühne ist erneut die Sängerin zu hören:

Wehe dem Menschen, der Seirēnes nicht hält
Weh einem jeden, der Seirēn verfällt
Weh wird die Lockung, zu Weh der Gesang,
Den Menschen, denen zu nahe er klang

Als würde sie antworten, singt Seirēn über den Nachhall der Sängerin hinweg, fließt auf den hilflosen Edvard zu, schließt ihn in die Arme. Umschlungen sinken sie aufs Sofa.

Musikalisches Zwischenspiel: Wochen vergehen. (Arie als Erzählung der Sängerin?)

Szene 7 (Christians Zimmer, heruntergekommen zur Kifferbude)
Sprechszene bis Duo Sängerin/Seirēn

Die Sängerin, in Edvards Mutter verkleidet, klingelt, Edvard schlurft zur Tür. Erschrocken: „Mutter?” Sie tritt ein, schaut herum: „Wie sieht es denn hier aus?! Junge, was tust du? Und du gehst seit Wochen nicht mehr zur Arbeit, ich bin schon dreimal angerufen worden des­halb. Auch Yvonne hat mich mehrmals angerufen” Er steht hängender Arme vor ihr, fragt nur noch einmal, wie zweifelnd: „Mutter?”
Seirēn erscheint, sieht die Sängerin an. Diese zu Edvard, mit ihrerseits Blick auf Seirēn und sowohl in zwiefacher Hinsicht entschieden wie hämisch: „Ah, du hast einen Freund … einen Freund, soso. – Weißt du, was dein Vater denken wird ..?” Edvard ringt sich durch: „Sie ist kein … kein Junge, Eyeeen ist kein Junge!” Worauf die Mutter, wobei sie wie drohend in Ge­sang übergeht: „Nicht einmal das!”
Davon hebt Seirēns Klagegesang an. Edvard deutlich hypnotisiert: sehr langsamer, doch spürbarer Lichtwechsel, einer Dämmerung gleich. Als wäre nun auch sie gefährdet, weicht die Sängerin paar Schritte zurück. Die Verkleidung fällt von ihr ab und sie beginnt – die rea­listische Szene strömt in den mythischen Raum –, gegen Seirēns Stimme anzusingen. Edvard abwesend starr. Auf dem Tisch blitzt der Dolch. Dunkelheit, Stille.

Szene 8
Wieder Licht.

Edvard an selber Stelle. Seirēn sitzt auf dem Sofa, das Gesicht in den Händen. Edvard, wie erwachend und tastend: „Mutter?” Wendet sich Seirēn zu: „Meine Mutter war hier?” Sich besinnend: „Mutter!” Ohne Blick auf Seirēn stürzt er der vermeintlichen Mutter nach, hinaus.
Seirēn beginnt zu singen, übernimmt das Hauptthema der Sängerin, aber nur melodisch. Doch wir verstehen die Worte der unverständlichen Sprache jetzt, haben die Sängerin im Ohr:

Wehe dem Menschen, der Seirēnes nicht hält
Weh einem jeden, der Seirēn verfällt
Weh wird die Lockung, zu Weh der Gesang,
Den Menschen, denen zu nahe er klang

Dabei geht sie zum Tisch, nimmt den Dolch, als würd sie ihn wiegen, legt ihn zurück. Dann fängt sie, summend, an, das Zimmer aufzuräumen.

Szene 9

Edvard kehrt zurück. „Ich muß mit dir reden. Mutter hat recht, es geht so nicht, es geht so nicht weiter. – Nein, ich hab sie nicht mehr eingeholt. Aber schau doch, mein ganzes Leben ist durcheinander. Eyeeen, wir gehen so unter.iv” Worauf Seirēn sich direkt vor ihn stellt und ihn nur anschaut. Nicht sichtbar die Sängerin:

Meer ist Mutter und Vater, Du fehlst
Meer ist nicht Mann, ist nicht Weib
Meer ist, was Du verhehlst
Er wird ihn verschmähn, Deinen Leib

Edvard kann nichts mehr sagen, läßt sich an der Hand nehmen. Seirēn zieht ihn sanft aus dem Zimmer nach draußen. Licht weg, außer einem Spot, der den Dolch erst aufblitzen, dann verglimmen läßt.

Szene 10 (Küste)

Heller Tag, grelle Wintersonne. Edvard weiter an Seirēns Hand. Am Bühnenrand die Sänge­rin. Edvard: „Wo willst du hin, wo willst du hin? Es ist kalt, es ist kalt, und ich friere.” Seirēn küßt ihn, zieht ihn weiter. Er folgt wie im Traum. Wenn er kurz zu sich kommt, küßt ihn Seirēn abermals. Sie schreitet, ihn sanft mitziehend, ins Meer. Er scheint zu taumeln.

Die Sängerin rezitiert:

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
da war’s um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
und ward nicht mehr gesehn*.

Dann schreitet sie den beiden, die versinken, nach. Wobei sie – aber nicht mehr in Richtung Publikum, sondern der Fläche des Meeres zu und also verhallend – ihr erstes Hauptthema singt:

Wehe dem Menschen, der Seirēnes nicht hält
Weh einem jeden, der Seirēn verfällt
Weh wird die Lockung, zu Weh der Gesang,
Den Menschen, denen zu nahe er klang

Nur noch das Meer und die Dünung.

 

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ANH, 5. – 8. Jan. 2021
Berlin

*) Goethe, Der Fischer

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