Novemberwien, Eins. Des Freitags bis Samstags Arbeitsjournal vom 13. 11. 2021.

[Wiener Schreibplatz Lorbeer, 7.18 Uhr]

Liebste Freundin,
erst einmal muß ich mich entschuldigen, fast bin ich ein wenig zerknirscht. Denn genau einen Tag, bevor vorgestern früh ich die Reise nach Wien antrat – präziser: am späten Nachmittag des Donnerstags – sah es so aus, als hätte ich die Videoarbeit zur zwölften Bamberger Elegie endlich, endlich, endlich fertig. Und entdeckte d o c h noch einen Fehler, leider, der sich am selben Tag nicht mehr hätte beheben lassen; eine Kleinigkeit nur, doch nach all der intensiven ja nun wochenlangen Arbeit an dem, muß ich schreiben, Film hätte sie mich sehr gestört, ich wäre unzufrieden geblieben. Also dachte ich, gut, du kopierst jetzt alles auf die transportable 2TB-Festplatte und löst das Problem am Wiener Schreibtisch, der zwar nur Sekretär, siehe Bild, ist und also nur wenig Arbeitsplatz bietet – aber nicht dies stellte sich nun als Hindernis dar, sondern daß meine mitgeführten Arbeitskopien in Adobes Schnittprogramm einzelne Clips entweder gar nicht oder aber, was noch schlimmer ist, verändert wiedergaben und -geben. Sie gaben mithin wider. S o, daß sich’s sinnvoll in keiner Weise arbeiten läßt und ich also doch meine Rückkehr nach Berlin, in sechs Tagen, abwarten muß. Und Sie müssen’s leider nun gleichfalls. Ein großes Hindernis ist aber auch schon der kleine Laptopbildschirm; für die sehr feinen Schnitte brauche ich wirklich einen großen Screen und am besten zwei Screens, wie ich sie halt auch habe in meiner Berliner Arbeitswohnung.
Insofern ist es gut, daß mir mein Elfenbein-Verleger gestern die eingescannte Digitalversion der “Verwirrung des Gemüts” zugeschickt hat, die, ähnlich dem → New-York-Buch, in deutlich überarbeiteteter Fassung im kommenden Frühjahr neuerscheinen soll – nach in diesem Textfall achtunddreißig Jahren. Ich war, meine Güte, sechsundzwanzig, als ich ihn schrieb! Und die Titelvariante, die ich damals gewählt habe, aber nicht durchsetzen konnte, wird jetzt verwendet werden, nämlich wird das Wort “Gemüt” → in kantschem Sinn mit “th” erscheinen: Gemüth. So nämlich steht es in meiner 19.-Jahrhundert-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. Um nun aber gewisse/ungewisse Unzulänglichkeiten meines seinerzeitigen Stils sensibel prüfend auszugleichen, wird → wie dort auch hier Elvira M. Gross alles noch einmal komplett neu lektorieren. Es geht tatsächlich nicht nur um die, in der 1983 erschienenen List-Ausgabe, vielen falschen Konjunktive, die mir damals Armin Ayren in der FAZ um die Ohren schlug – woraus ich dann radikal lernte (mich rächen für seine Vernichtungsattacke tat ich auf andere Weise; lesen Sie einfach die erste Abteilung des → Wolpertingers nochmal) –, sondern auch manch stilistisch Sprachliches dürfte revidiert oder sogar ins Eigentliche herausgeschnitzt werden müssen, ein seinerzeit nur Gewolltes, noch handwerklich nicht erreichbar Gewesenes, das sich aber jetzt mit fast leichter Hand herstellen könnte.
Insofern, wenn meine Videoarbeit nun aussetzen muß, bis ich an den eigenen Schreibtisch zurückbin (einem Bildschirm-Cockpit unterdessen), kann und will ich die Wiener Zeit zu meiner Bearbeitung dieses alten, doch, meine ich, nach wie vor wichtigen Textes nutzen (immerhin ist er der Nucleus des Wolpertingerromans und der Andersweltbücher, begründet die, sagen wir, “Serie”). Die Zeit bis zum Frühjahr ist ohnedies knapp.
Auch damit aber, dieser Überarbeitung, werde ich kaum fertig werden, da ich mit meinem Arco-Verleger über anderweitig gleichfalls anstehenden Projekten sitze (etwa die Herausgabe des großen nachgelassenen autobiografischen Romanes Der blaue Koffer von Gerd-Peter Eigner und einem geplanten Gedichtband Helmut Schulzes (→ Parallalie), für den aus der Menge der Gedichte ausgewählt werden muß; für letztres beides kam ich eigentlich her – und, selbstverständlich, um Elvira M. Gross endlich wiederzutreffen, die ganz wie ich darauf wartet, daß Die Brüste der Béart endlich herausgekommen sein werden, die aber leider von den gegenwärtigen Lieferengpässen, in ihrem Fall des ausgewählten Spezialpapiers, betroffen sind. Doch auch der nötige zweite Fahnengang ist noch nicht getan. Und hier, meine Freundin, werden Sie sich mitgedulden müssen, es tut mir wirklich leid. — Nein, keine Floskel!
Alles in diesen Zeiten der Corona verlangsamt sich, scheint’s. Sogar, vielleicht, die Liebe.

Was mich tatsächlich beschwert allerdings, z u d e m, was meine hiesige Arbeit beschwert, ist, daß ich meine Pfeife nicht rauchen darf; der Tabakgeruch belästigt den Freund zu sehr, bei dem ich untergekommen bin, setzt ihm lähmend zu. Dabei hatte er meine Pfeifen bisher immer unproblematisch gefunden. Mit einem Mal ist es anders. — Für mich war’s wie ein Schock. Spontan (aber ich verschwieg es) wollte ich abreisen, sofort nach Berlin zurückreisen, aber ich muß am kommenden Donnerstag noch nach Frankfurtmain und habe die Fahrscheine schon alle gekauft, sehr preiswert, ja billig, doch deshalb nicht stornierbar; doch zusammengerechnet nicht nur ein riesiger Zeit-, sondern auch Geldverlust eben doch. Also habe ich, was mir gar nicht bekommt, wenn ich sie rauche, wieder Zigaretten gekauft, für die ich mkich nun von Zeit zu Zeit in den Hausflur anm einj geöffnetes Fenster stelle. Es geht auf einen ummauerten Hof hinaus, in dem sich immerhin eine Taubenkolonie eingehend beobachten läßt. Ihr Gurren füllt den siloartigen Raum bis zu den Dächern hinauf.
Wie auch immer, für meine nächsten Wienaufenthalte werde ich mir etwas anderes überlegen müssen. Klar, ich habe noch vorgestern nacht nach AirBnbs in Wien gesucht, für sofort, aber die Preise übersteigen auch da meine Verhältnisse. So grollte ich heimlich dem Freund und weiß doch zugleich, wie unrecht es ist. Auch deshalb schwieg ich, schweige – nicht ohne Schuldgefühl – nach wie vor. Aber na gut, vielleicht finde ich in Wien ein Raucherlokal, wo sich’s am Laptop arbeiten läßt.

Heute mittag nun, oder frühnachmittags, eine Veranstaltung auf der “Buch Wien”, nicht meine eigne, sondern eine, auf der der Freund moderiert. So werd ich diese Messe denn auch einmal sehn und hoffe zudem, dort meinen Septime-Verleger anzutreffen, der auf meine letzten Nachrichten schlichtweg geschwiegen hat, schon seit Wochen, eine Art Nachrichtensperre, die ich schon deshalb nicht begreife, weil er immerhin → eine meiner mit wichtigsten Ausgaben herausgebracht hat. Ich weiß, er hatte sich einen besseren Verkauf vorgestellt, aber das der nicht war, jedenfalls bislang nicht, sondern traurig dümpelt, läßt sich schwerlich m i r anlasten, der ich im Gegenteil immer gewarnt habe, indem ich den Mann wieder und wieder auf meine problematische Stellung im deutschsprachigen Literaturbetrieb hinwies. Und solange der Buchhandel nicht angemessen bestellt, können Leserinnen  und Leser kaum  von mir, also meiner Arbeit, wissen. Niemanden muß das wundern.
Das Problem betrifft auch den New-York-Roman oder könnte ihn betreffen. Auf der Frankfurter Buchmesse war es so, daß geradezu jede und jeder, die und der den Roman durchblätterte, von der Ausstattung derart becirct war, und zwar zu recht, daß man ihn sofort kaufte. Am Ende der Messe war  nicht ein einziges Buch mehr da, selbst der Verleger fuhr ohne ein Exemplar für sich selbst heim, ließ mir Bücher sofort von der Auslieferung schicken, damit ich die numerierten Widmungsexemplare an alle jene auf den Weg bringen konnte, die diese ungewöhnliche Ausgabe maßgeblich mitermöglicht haben; und von dem, was dann bei mir noch blieb, habe ich zehn Exemplare eingepackt und mit hierher gescheppt. – Doch was ich sagen will: Wenn der Roman nicht im Buchhandel liegt und niemand ihn also aufschlagen kann, kann er genauso wenig wie meine anderen Bücher gut verkauft werden; die Menschen wissen ja nichts von ihm. Solange aber ich mich den scheinmoralischen “Gender”-Diktaten nicht beuge, zudem, b l e i b e ich Kritik und Betrieb das schwarzes Tuch und Schaf. Da kann man Wolf sein, wie man will.
Allerdings ist auch das ein Grund zu klagen immer noch nicht. Ich spüre vielmehr in den letzten Monaten deutlich, daß sich etwas ändert und mehr und mehr Leute begreifen, was ich poetisch tue und getan habe. Nur sind solche Prozesse des Umdenkens quasi naturgemäß langwierig zäh, gar eines Umschwenkens dann. Es ist eine Art Evolution, nicht etwa Mutation, und in den Künsten fast wie ein Gesetz. Doch daß ich das heute so sehen kann und imgrunde beruhigt bin, also nicht mehr in schwarze Galle verfalle, habe ich letztlich → Liligeia zu danken. Es klingt absurd, ja bizarr, aber die Krebsin, irgendwie, hat mir gutgetan.

Dennoch, mich erreichen nun vermehrt besorgte Mails, weil es kaum noch Arbeitsjournale gibt; manche Menschen bringen zum Ausdruck, wie sehr sie ihnen, ja, fehlten, und es wird befürchtet, mein Schweigen hänge mit meinem gesundheitlichen Zustand zusammen. Die Wahrheit indes ist anders. Ich bin einfach zu sehr von den Videoarbeiten, besonders → denen zu den Bamberger Elegien, aufgesogen, um noch fürs Plaudern Zeit zu haben. Außerdem, was soll ich Ihnen erzählen? Daß ein Leben ohne Magen auch seine Schwierigkeiten hat? – geringe, wenn Sie bedenken, daß ich noch lebe und zwar gerne, nach wie vor wahnsinnig gerne. Sie nerven dennoch, besonders die Polyneuropathie in den Füßen. Doch drüber zu schreiben, gar, sagen wir, “leidend” – es wäre Blasphemie. Nein, sowas mache ich alleine mit m i r aus. Dazu gehören auch meine Einsamkeiten und das Bewußtsein, daß mir – der  solch einen Wunsch hatte, noch einmal Vater zu werden – die Chemo jede Chance darauf zerstört haben dürfte. Und also ward ausgerechnet ich, der hingegebene, leidenschaftlich wilde Erotomane, an die R ä n d e r des Eros gerückt, von wo aus ich heute,doch jedesmal beglückt, beobachte, wie zweie von der Aphrodite an der Hand, den Händen ihrer Geschlechter, genommen und dorthin geführt werden, wo sie sich in ihnen begibt. Und wenn der Vorhang fällt, zwischen die beiden und mich, die Venus selbst läßt ihn herab, dann muß ich ein jedes Mal lächeln. Als wäre ich es, der nun liebt. So daß auf durchaus magische, jedenfalls so empfundene Weise das Glück der andern meines wird. Es ist egal, ob es mich meint. Es soll nur weitergehen, immer weitergehen, so, wie ein Fluß fließt zwischen unbegradigten Ufern. Das ist es,was ich will.
So also, Freundin, mein seelischer Grundzustand zur Zeit. Er ist voller Dankbarkeit. Denn was die zwei da nun erleben, habe ich selbst so oft erlebt, erleben dürfen, und wenn es nun halt vorbei ist, so war es eben doch und wird so in mir bleiben. Nein, es gilt weiterhin, was ich schon oft gesagt: Ich werd das Leben nicht beklagen.
Also machen auch Sie, liebste Freundin, sich bitte um mich keine Sorgen. Unterm Strich habe ich alles an Leben (und also nämlich Liebe) bekommen, was ich nur wollte, und bin von daher privilegiert, nach wie vor. Dazu muß ich nur einmal meinen Sohn betrachten und zuschaun wie jetzt e r lebt. Das ist für mich ein rasendes Glück. Ich selbst muß es gar mehr sein — und eben deshalb bin ich’s.
Jetzt vielmehr geht’s um ein andres, nämlich irgendwie eine Formklammer um mein Leben, das heißt besonders: meine Arbeit, zu legen, es sozusagen einzurahmen, um Bild zu werden für das, an was ich glaubte und glaube. Dazu braucht es keine Vollständigkeit, es genügt der tätige, also weiterhandelnde Wille. Alle Leben, notwendigerweise, enden fragmentarisch, wenn wir sie als einzelne sehen. Betrachten wir jedoch die Generationenfolgen, dann sind sie, siehe oben, ein unabgerissener, unabreißbarer Fluß, und wenn es gutgeht, dann zwischen, ecco!, unbegradigten Ufern. Darum, denk ich, gilt es zu kämpfen: daß niemand von uns begradigt wird. Nicht Weibchen, nicht Männchen, nicht, was es dazwischen noch alles gibt. Und meinethalben nennen Sie’s “queer”. Ich werd mir nur sagen nicht lassen, was ich (noch) sagen darf und was nicht. Und wenn’s mich n o c h so viel kostet —

Ihr ANH

 

1 thought on “Novemberwien, Eins. Des Freitags bis Samstags Arbeitsjournal vom 13. 11. 2021.

  1. “In New York” kann man inzwischen auch bei Amazon bestellen, es liegt schon auf meiner Kommode, funkelt wie ein kleines Schmuckstück und wird demnächst gelesen, Sie sollten Ihren Verleger beruhigen, gut Ding will Weile haben.

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