Das Arbeitsjournal für Freitag, den 19., bis heute, Sonntag, den 21. August 2022. Aus Kassel.

[Kassel, Harleshausener Terrasse
7. 38 Uhr, Bach Cellosuiten, Jans Stalker]
Bin übers Wochenende zu → Ricarda Junge nach Kassel gereist, die soeben in erster Fassung ihren neuen Roman fertigbekommen hat, den sie wieder von mir lektorieren lassen möchte. Ich meinerseits war gespannt und nervös, was sie zu den bisherigen Triestbriefen sagen würde. Und so verging die Zeit denn bislang — auch, wenn sie mir eigentlich einiges von der Stadt und vor allem die so riesige wie herrliche englische Parkanlage des Bergparkes zeige wollte — allein damit, daß wir uns wechselweise gegenseitig vorlasen, und ich muß sagen … abgesehen davon, daß sie von den Triestbriefen geradezu geflasht ist .. daß aber auch ich, umgekehrt, wie benommen von der Kraft ihrer völlig anders als meine gebauten Erzählung ist und, vor allem, welch einen ungeheure Sprung allein die Kunst ihrer Dialogführung gemacht — wozu noch die im Wortsinn ungeheure (Betonung auf “heure”), weil nämlich Kraft ihres tief beklemmenden Themas kommt. Ich möchte hier aber noch nichts verraten, nur, daß selbst mir hartgesottenem Handwerker zuweilen die Tränen in den Augen standen, ohne daß Ricardas Stilistik auch nur leicht irgendwo auf die Gemütsdrüsen drücken würde … es ist fast, als wäre alles, ich sag mal, “action”, doch im verlorenen, fast verlorenen Sinn für sämtliche Beteiligten, was nicht nur die Figuren dieses Romans, sondern auch sie, die Autorin, selbst und dann mich, den wohl, wenn auch als Hörer, nun ersten Leser des Buches betrifft.
Ihr von mir est durchaus skeptisch gesehener Unmzug nach Kassel erweist sich nun, von der Wohnsituation ohnedies, allein diese ihre Terrasse rechtfertigt ihn, auf der wir quasi allezeit sitzen, auch als es gestern regnete, wir haben ja eine gute Markise … also dieser Umzug hat sich als genau das erwiesen, was nötig war, um ihren Roman endlich nicht nur zu einem Abschluß zu bringen, sondern auch diesen, wie ich es nannte, stilistischen und auch persönlich sich einlassenden Sprung, einen wirklich ganz, ganz enormen, wagen zu können und nun, wie es mehr als nur deutlich geworden, sogar mit Eleganz, Leidenschaft und auch, ja, Mission perfekt aufgekommen zu sein. Mir ist noch jetzt, da ich morgens noch allein draußen sitze, schwindlig vor Erstaunen und Achtung.

Selbstveständlich haben wir auch jede und jeder für uns gearbeitet, ich bekam sogar eine ganz neue Szene hin, die es in sich hatte. Und weil Ricarda heute, anders als geplant war, ihre kleine Tochter aus Berlin abholen und hier wieder herbringen muß — das Mädchen war bei ihrer besten Freundin, wollte eigentlich noch zu einer zweiten, aber da schob sich ein Coronafall dazwischen —, da ich hier also nun sechs oder sieben Stunden allein bleiben werde, werde ich gut Zeit haben, an dem nunmehr sechsunddreißigsten Brief nicht nur weiterzuschreiben, sondern ihn sogar zu Ende zu bringen. Dann werden’s nur noch drei sein, bis meinerseits ich die Erste Fassung fertig habe. Wobei es zur Zweiten noch einige Änderungen geben wird, auch aufgrund der jetzigen Gespräche.

Und es ist erholsam, auch für mich, auf dieser Terrasse zu sitzen, auf der Himbeeren wuchern, auch Brombeeren gibt es, und kraftvoll Tomaten, sogar Wein (mit kleinen, dennoch schmackhaften Trauben), einem durchaus kleinen Paradies. Grandios aber ist, wie sich mein Roman einfach weiterentwickelt, auch wenn “einfach” bedeutet, manchmal an nur einem Satz zwei bis drei Stunden zu sitzen.

Nächster Kaffee, Freundin, doch einen Joghurt zuvor, ich muß ja auf die Nahrungszufuhr achten:

Ihr ANH
[David Ramirer, → Ricercar à tre]

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