Azreds Buch. Eine Erzählung. Drei.

[3. Fortsetzung. Von >>>> hier:
Mielke verstummt. Ich sehe zur Uhr. Es geht bereits gegen eins. „Und weiter?“]

„Keinen Moment,“ sagt er, „bin ich be­reit, was ich sehe, für Natura­lität zu halten. Ich kapiere jedoch nicht, was sol­che Halluzinatio­nen begründet. Deshalb verlege ich mich, während ich träume, auf die Inter­pretation, es sei ein Traum. Meine Imago strudelt vor sich hin, bis die Wirbel plötzlich kontraktieren. Es folgt ihr Kollaps, und erschöpft komme ich aus meiner Ohnmacht zur Besin­nung. – Ich liege tatsächlich am Bo­den, huste in Staub, richte mich auf. Jetzt ist es so dun­kel, wie es sich, will ich einmal sagen, gehört. Ich trage ein Feuerzeug bei mir, damit leuchte ich um mich. Das Funzellicht gestattet einen nur ver­schwomme­nen Eindruck des Ortes. Tatsächlich steht ein Op­ferstein da. Ich weiß sofort, um was es sich han­delt. Auch den Kürschnerrah­men gibt es, in­dessen ist er leer. An­sonsten ist hier drinnen nichts. Glaube ich je­denfalls erst. Dann ein Ge­räusch. Ein erschöpf­tes Seuf­zen. ‘Ist hier jemand?’ frage ich. Wie­derum das Seuf­zen. Es bricht, wimmert. Ich taste mich heran, finde zwei junge Menschen. Das werden die beiden Camper sein. Wie Krempel sind sie in eine Ecke geworfen, ein Mäd­chen, ein Jungen, beide höchstens siebzehnjährig. Nur noch das Mädchen lebt. ‘Töten Sie mich,’ bittet sie. ‘So töten Sie mich doch.’ Die Leiber zusammengekrümmt, Arme und Beine mehrfach ge­brochen. Am entsetz­lichsten jedoch, daß der Junge abgehäutet ist. Blutig, haarig, verschmiert liegt die Haut neben dem blühenden Fleisch­kadaver. Ich würge. – ‘Töten Sie mich!’ Die Stimme verstummt. Ich schnappe das Feuerzeug zu. Ach, Herr Baumann, was bin ich feige! Und anstatt dem Ge­schöpf den Gnadenstoß zu geben oder wenigstens doch hinauszurennen und nach Hilfe zu rufen, bleib ich starr. Und außer­dem… da ist so etwas… etwas wie Neugier. Verstehen Sie recht: Mir kommt das Grauen als irgendwie in Ordnung vor, – in einer fremden, widerwärti­gen, aber doch harmoni­schen Ord­nung, und dem Gefühl, was hier geschieht, gehöre sich so, läßt sich nicht widerstehen. Wer bin ich, den Gang solcher Dinge zu ändern?! Es ist das Ritual einer andren Kultur, dessen Zeuge ich bin. Und wenn sie mich auch ekelt, so habe ich doch kein Recht, ihr den Prozeß zu machen.“ Er sieht auf, weinerlich: „Halten Sie mich jetzt für verworfen?“
Ich antworte nicht. Er will auch keine Antwort hö­ren.
„Ich bin… unvoreingenommener Beobachter, wenn Sie so wollen, bin Experimentator, ein…“, er kichert, „Tierversucher. Das trifft es. Sowie ich zu dieser Inter­pretation gefunden habe, ist es auch gar nicht mehr schwer, meinen Ekel zu fassen und das Feuerzeug abermals anzuschnipsen. Ich lasse die Menschenbün­del beiseite liegen, wider­stehe indes dem unvermit­telt in mir kei­menden Im­puls, die Haut des Jungen auf den Rahmen zu span­nen. Sie dürfen mir glauben, Herr Baumann, daß dies wirklich eine Lei­stung ist. Sie erfüllt mich noch heute mit Stolz. Denn der Vorstellung, dergleichen zu tun, inhäriert ein ich möchte einmal sagen: durchweg erotischer Reiz. Es hat etwas Konvulsivisches, Dio­nysisches, eine glattweg göttliche Erhebung, so etwas… so etwas zu tun und sich derart aus allem, was man darf, ja was auch nur zu denken und sich vorzu­stellen erlaubt ist, herauszuheben. Doch, wie gesagt, ich widerstehe dem. – Üb­rigens: Nur daß ich das vermag, begründet wahrscheinlich, daß ich noch lebe und den Dämon wenigstens vorübergehend zu be­zwingen weiß. Denn eines ist mir bewußt: Mit alledem, was mir begegnet, steht er in Kontakt. Er weiß, was hier ge­schieht. Und dann kommt er sogar selbst.“
„Wer kommt?“
„Nein nein!, er ist schon da. Er ist alle Zeit über hier. ‘So tun Sie es doch’, sagt er. Ich sehe ihn nicht, aber höre seine Fiste­lstimme. ‘Helfen Sie mir mit dem Ein­band. Es wird höchste Zeit.’ – Ich bin durchaus nicht erschreckt und drehe mich ihr zu. Hazegnehad trägt noch sein Cape und auf dem Kopf die Schiebermütze. Er schaltet eine batterie­be­triebene Höhlen­lampe ein, stellt sie auf den Altar. ‘Ich brauche einen ge­bildeten Assistenten.’ Er streift die Mütze ab, schlüpft aus dem Cape, hängt bei­des über in die Wand geschlagene Haken. ‘Nun helfen Sie schon, sonst taugt das da zu nichts mehr.’ – Ich starre ihn an. ‘Wer sind Sie?’ frage ich. – ‘Blake’, sagt er und schürzt die Oberlippe. Das gibt seinem Gesicht einen zugleich komischen wie fei­erlichen Ausdruck. Ich bin sprachlos. Er ergänzt: ‘Und auch al Azred nennt man mich. Und Anposenho­tep. Oder Anu­bis-Sachme, – dies aller­dings vor meiner Geburt, denn daß ich Araber bin, ei­gentlich, schließt den Ägypter aus. Man gibt mir den alten Namen erst in Ch­tullhu.’ Er bückt sich, zieht aus einem Re­gal zwei Kittel, wirft mir einen davon zu. ‘Wir müssen uns jetzt wirklich beeilen, sonst ver­dirbt uns die hübsche Haut. Das Buch braucht einen neuen Einband. Und ich brauch einen neuen Körper. Merken Sie nicht, wie abgenutzt meine Ge­lenke sind? Ach, Sie ahnen ja nicht, wie ich auf meine Erneue­rung warte! – Sie werden mir doch Ihren Körper zur Verfü­gung stellen?’ – Für einen Moment nur erstarre ich. – ‘Das Buch ist genügsam, aber irgendwann fordert auch seine astrale Mechanik ihr Recht. – Reichen Sie die Haut herüber! Und seien Sie doch so gut und bringen endlich das Mädel zum Schwei­gen. Es ist sowieso keine Seele mehr drin.’ Und auf meinen irritierten Blick: ‘Ich trinke sie aus und stoße ein Sur­rogat hinein. So erhalten sich die Leiber länger. Es ist, als ent­zöge man Pflanzen ihr Chlorophyll und ersetzte es durch Formalin, – nur daß eben die Haut ziemlich spröd wird mit der Zeit, weshalb wir uns jetzt wirklich,’ er hebt die Stimme, ‘ wirklich wirklich sputen müssen!’ – ‘Was muß ich tun?’ frage ich, aber Sie können mir glauben, Herr Baumann, daß ich längst nur noch weglaufen will. – ‘Zuerst einmal,’ erklärt er in sachlichem Ton, ‘häuten wir auch das Mädchen, dann binden wir das arme Buch, und schließlich bringen Sie mich um. – Nein, nein, sein Sie nicht so entsetzt, Sie opfern nur mei­nen Leib. Ich selbst werde, wenn die Hülle abgestoßen ist, in Sie übergehen. Wir werden dann, glauben Sie mir, viel Freude haben aneinander.’“ Mielke atmet schnell und wird geradezu im Wortsinn kleiner, so sehr versinkt er im Sessel.
„Ihre Situation scheint mir im­merhin ei­nigermaßen aussichtslos zu sein.“ Ich benutze ganz bewußt den ironischen Ton.
„Aussichtslos?“ Er schüttelt langsam den Kopf. „Ist es nicht offensichtlich, daß er mich braucht und nicht ich ihn? Zudem scheint er auf mein freies Zutun angewiesen zu sein. Seine Macht ist also nicht unbe­grenzt und wohl allenfalls hypnotischen Cha­rakters. Und wenn er, will er zu seinem Ziel gelangen, das Buch neu binden und dann sich von mir töten lassen muß, um in mich schlüpfen zu können, dann muß ich mich ja dem bloß verweigern. Verstehen Sie?“
„Na ja.“
„‘Warum gehst du nicht einfach? frage ich mich. Warum drehst du dich nicht kurzerhand um und verläßt diese Höhle?’ – Die Vorstellung, das zu tun, ernüchtert mich über alle Maßen. Hazegnehad spürt das sofort. Er flü­stert et­was, das nach einem Fluch klingt. Und… quiekt, ja: quiekt. – Dann geht alles überaus schnell.“ Mielke zer­drückt den Zigarrenstummel im Aschenbecher. „Urplötzlich nämlich greift er mich an. Schießt auf mich zu, springt – ich sage Ihnen: er springt mir an die Brust, umklammert meinen Rücken und beißt mir seit­lich in den Hals. Doch er hat wohl auf meine Verblüf­fung ge­rechnet. Denn er ist nicht kräftig. Es ist ein leichtes, ihn an den Haaren zu packen und von mir ab­zuziehen. Ich bin voller Triumph! Wie ein nasses Wäschestück schwinge ich seinen Zwergenkörper über meinem Kopf. Er quiekt und winselt. Ich schleudere ihn quer durchs Ge­wölbe gegen eine Wand, wo er mit einem unsäglich häßlichen Laut aufprallt. – Im selben Mo­ment komme ich zu mir.“
„Bitte?“
„Erinnern Sie sich nicht, daß ich beim Betreten des Gewölbes den Halt verliere und zu Bo­den schlage? Ich bin ziemlich benommen von dem Sturz. Stockdunkel ist es um mich her und schrecklich still. Ich mache mit meinem Feuerzeug Licht. Ein starker Schmerz zieht von der linken Schläfe inwärts. Offenbar blute ich.“
„Keine Toten, keine Gehäuteten, – nichts?“ Ich lache verlegen.
„O, schon etwas, durchaus. Es gibt nämlich den Op­ferstein, einen rohen, derben Basalt­block. Und darauf… bitte sehr, Herr Baumann: Darauf liegt das Buch. Ein uralter, schwerer Foliant, der sich unan­genehm anfaßt und tatsächlich…“, er seufzt, „und tatsächlich mit ge­gerb­ter Haut gebunden ist. Ein Blick hinein über­zeugt mich sofort, daß der Wert meines Fundes gar nicht ab­geschätzt werden kann. Die Seiten mit altägyptischen Schriftzeichen gefüllt; überdies sind mit offenbar Tinte arabische Kommentare dazugeschrieben. Geradezu instinktiv und im Fieber nehme ich den Folianten an mich, stecke ihn in meinen Rucksack und mache mich eiligst davon.“
„Und Haze..?“
„Hazegnehad? – Das eben ist ja das Seltsame! Ich er­warte eigentlich, er sei mir nachgegan­gen oder erwarte mich wenigstens dort, wo wir uns trennen. Aber er ist weg, und auch im Dorf will um sein Verblei­ben niemand wissen. Bis heute ist er wie verschollen… oder nein: er­scheint bisweilen, und ich flüchte dann.“
„Sie haben das Buch noch?“
„Deshalb ja erzähle ich davon.“ Schwer stützt er sich aus dem Sessel. Schleppt sich quer durch den mittlerweile sehr dunklen Raum. Schaltet über dem Sideboard die Standlampe an, schlurft weiter auf das Bild zu, das in Brusthöhe gegenüber hängt. Es ist sehr auf­fällig, will in diese Spießerstube einfach nicht passen: Eine billiggerahmte Kopie der Anto­nius-Versuchung aus dem Isenheimer Altar. Mielke dreht den Rah­men bei­seite. Auch ich steh auf, geh zu ihm rüber, guck Mielke über die Schulter. Er zeigt, ohne was hinauszuziehen, in eine kastenförmige Öffnung. Ich kann nichts sehen, aber etwas Kühles, Lockendes weht heraus. Mielke schließt dreht den Rahmen wieder zurück. „Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“

[Die vierte Fortsetzung wiederum morgen.]


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