Als vierundzwanzigstes Coronajournal eine bedenkliche Beobachtung. Am Montagmorgen, den 27. April 2020. Und quasi zur — er- und gelebten — Theorie des Literarischen Weblogs, ff.

[Arbeitswohnung, 7.04 Uhr]
Über dem neununddreißigsten Nabokovlesen saß ich intensiv schon paar Stunden, kam, nach anfänglicher Weile, die es brauchte, Geliebte, einen guten Einstieg zu finden (die “Materie” und meine poetische Vorgehensweise sind hier recht komplex), auch gut voran. Zugleich war mir klar, daß ich am selben Tag nicht fertig würde. Und dennoch. Zwar, als der Freund anrief, um zu fragen, ob ich “nachher” auf einen Absacker zu ihm hinüberkommen möge, was mich erst sehr freut, sagte ich ihm spontan zu. Doch dann, da der Zeitpunkt gekommen war, wieder ab. Wobei ich mich für dies mein unentschlossenes Hin und her selbstverständlich entschuldigte: “Bitte hab Verständnis”.
Mit einem Mal nämlich war mir drückend bewußt geworden, wie unser Treffen ausgehen würde. Ich würde erneut zu klagen beginnen, wie neulich im Gespräch mit der Freundin (ja, es geht mir nach und nach): über die nun schon seit Jahrzehnten nichtrücknehmbar-verfahrene Situation meines nicht akzeptierten Stands, über die schlechten Buchverkäufe, die absichtsvolle Ignoranz der Betriebler, die Gegnerschaften, die schon Feindschaften sind, die lebenslange Randständigkeit, den zunehmend, fast körperlich spürbar, enge gewordenen  Zeithorizont, der meinem Werk und mir noch verbleibt; daß ich niemals auch nur gefragt worden bin, ob ich Mitglied einer der Akademien werden wolle, ob in Darmstadt, ob in Berlin – was sehr viel geringeren, als ich es bin, doch angepaßten Autorinnen und Autoren, solchen mit Stallgeruch, nahezu zwangsläufig angetragen wird – , ja nicht einmal, ob ich in dieser und/oder jener Jury mein poetisches Wissen mit einbringen wolle; daß ich auch zu größeren literarischen Symposien nicht eingeladen werde, selbst oder erst recht dann nicht, wenn solche Gastmähler sich mit den meiner Poetik “ureigenen” Themen beschäftigen werden (Literatur und Internet, poetische Kybernetik, “Realismus” und und und); daß ich schon gar nicht mehr öffentlich wirksame Anerkennung für meine Bücher bekommen und irgendwann, vielleicht schon bald, sterben werde, ohne daß irgendetwas von dem bleibt, was ich in vierzig Jahren vorgelegt habe und weiter noch vorlegen will. Abermals hörte wieder die Vertraute weinen, vor lauter Hilflosigkeit, weil ja auch sie nichts drehen kann, und erlebte erneut, wie sie das Gespräch, eben vor Hilflosigkeit, abbrach, abbrechen mußte, weil sie meine Depression mit nach unten zog. Und daß es schließlich allen so ergehen wird, die mir zu nah sind.
Ich würde mich, wußte ich, wenn ich denn drüben zu sprechen begänne, in diese Verzweiflung wieder erst richtig hineinreden und ihr einen Raum zugestehen, der niemandem und erst recht nicht meiner Arbeit hilft, die mir indes, wenn ich in ihr bin, große, große Ruhe gibt — wenn ich für mich allein, alleine mit ihr, bin. Wenn ich Nabokovs Sätzen folge, ihnen nachlausche, ihren Umfang begreife, so, wie seinen ausgefeilten, auf die gesamte Poetik eines Romans bezogene Harmonie, das Lächeln, immer wieder, in ihr, und ihr Einverständiges, darin Gutes, dabei gleichzeitiger Klarheit über was minder und was hoch. Inklusive der Irrtümer, die auch er, Nabokov, beging. Wie wir es halt alle hier und dort tun. Und die Schönheit! — Und wenn ich müde werde in der Arbeit, die Konzentration nach acht, zehn, zwölf Stunden nachläßt und wieder  das Persönliche hochsteigt, so daß sein Graues nicht mehr von dieser Schönheit überstrahlt wird, einfach weil halt am Ende eines Tages die Sonne untergeht und die Nacht kommt, aus der doch die Schönheit der Morgensonne immer wieder aufsteigt — wenn also die Erschöpfung sich meldet, in der auch der Seele Immunsystem sich erschöpft hat, so daß man vielleicht zu trinken begönne, dann schaue ich halt einen Film, bis mich rein physiologisch die Müdigkeit zu Bett bringt. Ich ziehe mich aus, putz dann nicht einmal mehr meine Zähne, kann ich morgen früh dann tun und noch drei-/viermal über den Tag, sondern ziehe die Decken vom Lager, entkleide auch es, bis auf das Bettzeug, und mit einem inneren Jubel, der nicht einmal nur gedacht, sondern tatsächlich ausgerufen wird: “Ins Traumreich, ins Traumreich!” leg ich mich hin und schlüpfe in meinen Kokon. Drin bett’ ich den Kopf in das Kissen, doch an der Luft, möglichst kühler, muß er bleiben, und strecke die Füße lang, lang aus, weil ich nicht mag, wenn die Zehen irgendetwas dann noch berühren, vielmehr da nur noch Freiheit sein soll, und ich falle binnen wahrscheinlich Sekunden hinab ins Andere Reich: Ich bin so schnell im Schlaf, daß ich’s nicht merke, also erst dann, wenn ich wieder erwache, meist momentan gegen sechs, spätestens halb sieben. Einen Wecker stelle ich schon lange nicht mehr.
Jemand hat bei mir geschlafen. Noch wenn ich mich aufgerichtet habe — was immer sehr schnell geht, weil’s mich an den Schreibtisch zieht —, spüre ich den Abdruck Ihres edlen Haupts auf der Brust.

So bin ich mit Ihnen, der Imaginären, allein, deren Wirklichkeit aus der Distanz meiner Ansprache, aus diesem “Sie”, klingt, das, hier geschrieben, Sie anspricht und mich beruhigt, mich sanft hält, ja unverzweifelt einverstanden, beinah, Geliebte, mit allem. Zeilen wie diese hier sind mein Vademecum. (Dennoch müßte ich dringend zu rauchen aufhören, wenn ich, was ich noch vorhabe, auch fertigbringen will.) — Aber, was mir nicht  nur gestern halbnachts, als ich dem Freund absagte, auffiel, sondern jetzt wieder und erneut auffällt, während ich nun schreibe: – daß ich mich, um bei mir zu bleiben und dem Unglück nicht die Hand noch von mir selbst aus zu reichen, von meinen Nahsten nun fernhalten muß. (Bei ferneren Bekannten ist es anders; mit denen spreche ich aber auch nicht über das, was mir eigentlich wichtig; den Smalltalk beherrsche ich souverän nach wie vor. Deshalb kann mit Ferneren ich ohne jede Depressionsnot parlieren. Und auch mit meinen Kommentatorinnen und Kommentatoren läßt sich’s gut, auch über Inneres, “sprechen”, indem sie in DER DSCHUNGEL ganz wie Figuren sind aus Romanen, also wie selber wie Literatur.)

Da hatte ich diesen Gedanken: Ist dieser eigenwillige Umstand vielleicht eine Verarbeitungsform, mit der mein Unbewußtes auf Corona zumindest mitreagiert, indem es die, ob nun vermeintlich oder tatsächlich, “hygienische” Notwendigkeit (Schutzmasken tragen, keine Berührung, ja die räumliche Anderthalb- bis Zweimeterdistanz, möglichst wenig die Wohnung verlassen) ins seelisch innere im Wortsinn verkehrt? Das wäre ziemlich infam. Aus der gleichzeitig erzwungenen wie als angemessen eingesehenen Entkörperung würde ein gewollter Prozeß. Dieser Befund, in der Tat, alarmierte.

Selbstverständlich kann ich mich irren. Es steht ja auch objektiv Ungutes an, das mich nervös macht. Heute mittag Vorbesprechung wegen der anstehenden erst Magen-, dann Darmspiegelung. Mein Bauch ist noch durchaus nicht in Ordnung. Und nächste Woche erst die Vorbesprechung zum Nachlasern der Augen, dann Kontrolltermin bei der Angiologin, um die Gefäße der Beine zu checken und auch das Herz, das seit einzwei Wochen ebenfalls muckt. Immer mal wieder ein nicht schöner Stich. Der mögliche Befund ist ganz offen. – Dazu die Magen- und Darmspiegelungen selbst, die in diesen nächsten zwei Wochen dann folgen, alles dicht aufeinander, wovor ich mich schon deshalb fürchte, weil ich zum einen Hilflosigkeit nicht aushalte und mich deshalb zum anderen Betäubungen zu verweigern pflege und lieber den Schmerz aushalte, als mich wehrlos darzubieten – was ich aber ja sowieso tun muß. Dagegen, wenn ich bewußt bleibe und alles mitverfolgen kann, habe ich zumindest die Illusion der Kontrolle. Immerhin kenne ich, diesbezüglich, keine Probleme der Scham; dazu bin ich zu körperlich. (Sie glauben nicht, wie sehr’s mich jetzt, hier, zu schreiben beruhigt!)

Ach, in diese helle, wie sie aus dem Horizont steigt, Morgenröte des Romanes und also zu ADA zurück!

Nachdem auch sie ihr Frühstück beendete hatte, lauerte er er ihr, vollgestopft mit süßer Butter, am Treppenabsatz auf. Sie hatten einen einzigen Augenblick, um die Dinge zu planen, alles lag, historisch gesprochen, in der Morgenröte des Romans, der immer noch in den Händen von Pfarrhausdamen und französischen Akademiemitgliedern lag, daher waren solche Augenblicke kostbar. Sie stand und kratzte ihr erhobenes Knie. Sie kamen überein, vor dem Lunch spazierenzugehen und ein abgeschiedenes Plätzchen zu suchen. Sie mußte eine Übersetzung für Mlle Larivière zu Ende bringen. Sie zeigte ihm ihre Kladde. François Coppée? Ja.

Ihr Sturz ist langsam. Der Holzfäller
Weiß vor dem Aufschlag in der Flut
Die Eiche an dem Kupferblattwerk,
Den Ahorn an dem Blatt aus Blut.

Leur chute est lente“, sagte Van, “on peut les suivre du regard en reconnaussant – der umschreibende Gestus von ‘-fäller’ und ‘Flut’ ist selbstverständlich reiner Lowden (zweitrangiger Dichter und Übersetzer, 1815 – 1895). Die erste Hälfte der Strophe zu verraten, um die zweite zu retten, das sieht jenem russischen Edelmann gleich, der seinen Kutscher den Wölfen zum Fraße vorwarf und dann selber vom Schlitten fiel.”
“Ich finde dich grausam und dumm,” sagt Ada.
Nabokov, Ada oder Das Verlangen, 158
(Dtsch. v. Dieter E. Zimmer)

Ihr ANH

6 thoughts on “Als vierundzwanzigstes Coronajournal eine bedenkliche Beobachtung. Am Montagmorgen, den 27. April 2020. Und quasi zur — er- und gelebten — Theorie des Literarischen Weblogs, ff.

  1. ah, die akademien, oh werte damen und herren der akademie, denke ich rotpeter und denke auch, ignore the ignorant. ich stand mal mit einem ihrer leiter beisammen, mit dem ich mich beinahe befreundet wähnte, aber dann müsste er mal den arsch hochkriegen und sich mal wieder melden. und dessen freunde fragten ihn, als er darüber sinnierte, wen er denn vorschlagen könne: schlag doch die xo vor. in unkenntnis, dass die xo neben ihnen stand. betretenes schweigen allerseits. was sich nur durch meine flucht nach vorn noch lockern ließ: ich glaube, ich bin nicht die richtige für akademien. was auch stimmt. nur füge ich hier entschieden dazu: aber die akademien wären mit mir ein stück richtiger. checken sie alle nur wieder zu spät. ähnlich ist es mit dir. sie wollen kontrolle. und du und ich, nicht abzusehen, was wir dann treiben. nur könnte jetzt auch mal dem letzten klar werden, die zeiten der kontrolle sind eh dahin und gab es nie.

    1. Wovor haben die denn solche Angst? Es käme nur – Bewegung hinein, und auch nur vielleicht. Das Museale fiele weg. Aber womöglich mottet man sich in der gegenseitigen Zusicherung von Bedeutung ein. Ich habe keine Ahnung. Dennoch macht sich’s ignore the ignorant zu leicht, und zwar auch dann, wenn Füchse Trauben gar nicht mögen.
      Nein, ich glaube nicht an deren Angst. Sie mögen nur nicht, daß der überall herumliegende Staub auch noch aufgewirbelt wird. Bei schweren Allergikern ist das verständlich; sie müssen Frischluft meiden.

  2. by the way: Magen- Darmspiegelungen sind wunderbar auszuhalten, in diesem kurzzeitigen Tiefschlaf – und wie SCHÖN wieder aufzuwachen – es wird einem ein Kaffee serviert, der doppelt köstlich schmeckt und dazu ein zarter krümeliger, knuspriger Keks gereicht – irgendwann schält man sich wieder in die Klamotten hinein, bindet sich die Schuhe zu und denkt sich: alles halb so schlimm und gefunden wurde auch nix(was schwere Krankheiten angeht)…man ist ja so sensibel, das schlägt einem auf den Magen bzw. Darm – unter Umständen (allerdings: nicht jeder leidet, leidenschaftlich) –  wobei wir schon leicht am Thema “Psychosomatik” entlangschrammen – – ok  – It is –  like it is …..jetzt hätte ich gerne direkt einen Text von Edgar Allan Poe  HIER hineinkopiert – na ja…..GENAU…hatten wir schon —- zum Thema Akademie kann ich nix Ergiebiges beisteuern – ich weiß von einer mir bekannten Gesangssolistin (Barock), das ihr der Kontakt zu einem Bremer Domkantor sehr hilfreich war – da hat sich auf geheimnisvolle Weise ein besonderer Weg geebnet, allerdings an der “Hochschule für Künste”(Vertretungsprofessur) Lehrtätigkeit/Gesang –  nun  hat sie aus privaten Gründen, diesen Weg nicht gewählt.. und wie sagte neulich in einem Fernseh-Porträt ” Sir Peter Jonas(Staatsintendant der Bayrischen Staatsoper)” …er sei vom Glück SEHR begünstigt gewesen…was die Arbeit angeht (1946-2020)..gesundheitlich lief’s nicht so gut – RIvS

     

     

    1. Nun jà, ich gehöre halt zu den Typen, die sich betäuben lassen nicht wollen.
      Aber war soeben bei der Ärztin, die mich auf folgenden Kompromiß breitschlug: Auf dem Hinweg der Koloskopie Betäubung, auf dem Rückweg ohne. Dafür werden gleich beide Spiegelungen an ein- und demselben Tag, nämlich schon übermorgen, durchgeführt. Der Praxis sind zwei Termine geplatzt, ich schätze mal coronahalber, und die bekomme nun ich. Dieses Sehrschnell und Aufeinmal entspricht mir; die Ärztin (die nicht meine Hausärztin ist, klar, mich also eigentlich noch gar nicht richtig kennt) scheint einen guten Instinkt für Charaktere zu haben. – Nun also ab heute abend schon die Vorbereitungsarien. (Normalerweise geht es vier Tage vor den Spiegelungen los.)
      Aber ich realisiere gerade ein logistisches Problem: Für die Koloskopie, die um neun Uhr stattfinden soll, soll ich von 5 bis 7 Uhr zwei Liter Flüssigkeit trinken, vor der Magenspiegelung aber sechs Stunden gar nichts. Da diese zuerst “dran” sein soll, lassen sich die Anweisungen nicht verwirklichen – oder man kehrt die Reihenfolge um, und die Magenspiegelung – berechnet, daß die Koloskopie eine Stunde dauert – findet frühestens um 13 Uhr statt. Dann aber ginge der Tag bis mindestens frühem Nachmittag flöten. – Blöd, in der Praxis geht niemand ans Telefon; also morgen noch mal hinradeln.

  3. ach,  wie kompliziert – diese Kombi hatte ich vor etlichen Jahren – weiß aber nicht mehr wie es war – Ich verschlief es ja – so ganz und gar – – die Vorbereitungen finde ich echt nervig, an NachtSchlaf ist ja kaum zu denken – aber wenn man es dann hinter sich hat ….- na, auf jeden Fall wünsche ich alles Gute  … sprich: wenig Stress – keine Probleme mit dem Ergebnis usw.  —  fällt mir das Thema RAUCHEN ein – wenn ich gestresst bin, ” schlägt”  mir das Rauchen auf den Magen (boah – klingt schon so, wie es da steht echt brutal…) – lach –  RIvS

  4. “Aber womöglich mottet man sich in der gegenseitigen Zusicherung von Bedeutung ein. Ich habe keine Ahnung.” … den eindruck habe ich auch, es ist der wunsch danach, irgendwo einen verbrieften ort für seinen bedeutungsstatus zu haben, der einem so nicht so leicht ausgestellt wird. verständlich. aber viel mehr ist es nicht und damit beginnen erhebliche probleme dieser institutionen selbst. originalgespräch dazu verlief ja recht ähnlich. wenn ich eingewendet habe, wenn ihr verkrustete strukturen aufbrechen wollt, dann müsst ihr leute hinzuladen, die das können, veranstalten etc, dann wiederum wird gesagt, ja, man habe ja sein publikum, man brauche diese leute gar nicht und frau grütters würde wohl kaum zu ner kneipenlesung kommen. da staub aufzuwirbeln ist ne lebensaufgabe, die mit dem gängigen einladungsprinzip und ohne geld eh nicht zu bewerkstelligen ist. das kommt ja noch dazu, unterfinanziert sind die läden ja auch. was läuft denn da an lesungen, es ist doch zum heulen, dass man sich schon gar nicht mehr drum reißen muss, hineinzugelangen, denn es bringt doch buchstäblich null, die nächsten enttäuschungen wären doch vorprogrammiert, wenn man sich davon irgendetwas verspräche und man nur deutlicher mitbekäme, welchem bedeutungsverlust die akademien selber entgegensehen, was aber wiederum, eben, auch ein hausgemachtes problem ist und sie sollten sich dringend mal was einfallen lassen. so kommt es mir eher vor.

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