Frankfurter Buchmesse 2017. Die Arbeitsjournale vom 11. bis 15. Oktober 2017.

VORABEND
Gestern im Literaturforum:

Meere. Lesung Litforum Mousonturm Frankfurtmain 10.10.2017. Mit Björn Jager.

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ERSTER TAG
Mittwoch, der 11. Oktober
[Bei den Pflanzen, die fleischlich, 8.26 Uhr
Strauss, Rosenkavalier, Terzett und Finale]

Seit kurz nach halb sieben auf, früher ging es nicht – und auch da nur, weil ich dringend wußte, den Wein aus dem Schädel bekommen zu müssen, der mir, ja, dieser, in den Bauch gerutscht war und sich drin drehte.
Es war eine wirklich wunderbare >>>> Veranstaltung gestern abend, was vor allem der hinreißend genauen Moderation Björn Jagers zu verdanken war, aber auch der konzentrierten und vor allem offenen Aufmerksamkeit des Publikums. Es war nicht so zahlreich erschienen, wie ich zu hoffen auch gar nicht gewagt hatte. Denn parallel, wie ich‘s Ihnen, Freundin, schon gestern geschrieben habe, fand die erste Lesung des neuen Buchpreisträgers, Robert Menasse, statt, flankiert überdies von der Frankfurtmainer Magnet- und -natin Eva Demski. Und in den Großen Saal des Hauses unten hatten Chartlie Hebdo und Titanic gerufen.
Dennoch die aufgestellten Stühle waren so gut wie alle besetzt, zumal teils hochkarätig. Deshalb konnte die Zartheit des Romans – eine Eigenschaft, die nur selten je zur Sprache gekommen ist, was selbstverständlich auch an dem oft wütigen Fichte liegt, ich also teils mitzuverschulden habe – zu Klang werden und sich eben auch als Klang übermitteln.
Ich erinnere mich noch heute früh genau, wie dies bereits durch den Raum ging, zuvor aber in meiner Stimme aufblühte, als ich das Motto… nein nicht las, sondern beinah sang. Das hatte ich nie zuvor getan. Es war von mir auch überhaupt nicht geplant gewesen, sondern drängte gleichsam – und leise – herauf. Deshalb war ich mindestens so überrascht wie die Hörer:innnen, und davon benommen. Imgrunde hat dieser kurze Gesang, drei Verse in Kiplings originalem Englisch, alle Weichen gestellt. Was halt auch die Funktion eines Mottos ist. Dem gab sich Björns empfindsame Präzision klug an die Seite; ich selbst mußte nur folgen. Sie mögen es, Geliebte, bei einem dominanten Typen wie mir nicht glauben, doch ich versichere Ihnen, daß es ausgesprochen erleichternd, mehr noch: befreiend für mich war. Denn nun sprach das Buch und nicht ich.
So hat diese Messe mit einer für einen Dichter Sternstunde begonnen, zu jener ich jetzt aufbrechen muß – also erst einmal raus aus den morgendlichen Abendklamotten, in den Zegna-Anzug und die polierten Schuhe hinein, dann zur UBahn. Mein erster Weg wird mich zu mare führen.
*

</div align=justify> ZWEITER TAG
Donnerstag, der 12. Oktober 2017

Ohne Titel

Da lag denn Meere wieder – unter dem Traumschiff, wohin es, wie Elvira Magometschnigg Gross nun schon mehrfach geäußert, gehört: „Die Verwandtschaften sind groß. Wie das neuere Buch versucht, den Spuren des Sterbens zu folgen, so das ältere denen der Liebe.“ Und sie zitierte Fichte: „So habe ich dir denn die Antwort gegeben.“
Ansonsten ist es in der Causa Meere vergleichsweise ruhig auf der Messe, öffentlich ruhig – privat freilich wurde ich mehrfach angesprochen, teils sogar beglückwünscht, von Leserinnen, Lesern auffällig weniger. Stärker ins Zentrum gerieten >>>> Helmut Schulzes und meine Nachdichtungen. Die anfangs gar nicht am Stand lagen; die Druckereien hatten geschludert; Verlegerfreund Haacker war also fuchsig. Statt nachher pünktlich auf der Messe zu sein, wird er heute erst einmal zur Poststelle fahren müssen, um die Pakete abzuholen.
Der Joyce aber kam – in zwanzig Vorab-Exemplaren; eine Mitarbeiterin der Druckerei brachte sie im Koffer vorbei. „Die packst jetzt du aus“: so Haacker:

Auspacken

Ich habe, wie Sie, Freundin, wissen, gegen das Querformat starke Vorbehalte gehabt, nun mußte ich Abbitte leisten. Selbst >>>> Friedrich Forssmann war entzückt, mit dem ich bei Suhrkamp wieder zusammensaß – auch übrigens von der Idee eines von zwei verschiedenen Ichs, nämlich Schulzes und meinem, verfaßten Nachworts („In zwei Kammern musizieren“).
Benoit kam vorbei, ich erzählte ihm, in Radebrochen aus Französisch und Italienisch, die Geschichte von Meere. Wär doch für Frankreich ein ideales Buch. Als er weg war, eine SMS an Elvira getippt, die muttersprachlich Französisch spricht: „Kannst du um 15 Uhr bitte hier sein?“ Da saß sie noch im Flugzeug und eilte dann quasi fliegender Koffer herbei, schaffte es nicht pünktlich, aber Benoit war ohnedies nicht erschienen. Ich hatte, als er den neuen Termin hinzupreßte zwischen zwei Zeilen, seinen Timer gesehen; er war also irgendwo hängengeblieben. Is‘ messenormal, tat mir nur wegen Elvira leid, mit der ich nun erst einmal zu den Österreichern abzog – aber nicht, bevor wir auf die Kammermusik nicht alle angestoßen hatten: 

Auspacken

 

Mit Meere zu „den Franzosen“ ziehen würden wir ohnedies am kommenden Nachmittag, also heute; Haacker hat mir eine Einladung zu einem Empfang zugespielt, die ich an Elvira sogleich duplizierte. Für sie wiederum war noch eine Messekarte für den Freitag zu organisieren, was sie selbst, bei den Österreichern, tat. Für den striktsprachlichen Deutschen eine – wie zerstritten auch immer nach innen – in- und umeinander gebundene Gemeinschaft, Sprachgemeinschaft: Es sind nicht so sehr die tatsächlichen Ausdrucksgebilde, also das Vokabular, sondern der Klang ist es, was Identität schafft. Wieder einmal der Klang. Ich erwischte mich dabei, wie ich aus, sagen wir, >>>> Heimat bzw. Zugehörigkeitssehnsucht den Impuls hatte, ihn zu kopieren, und mußte mich wirklich beherrschen, es nicht zu tun. Ich weiß aus Erfahrung, wie ungut sowas bei den Menschen ankommt. Es wär in der Tat auch Nachlässigkeit, letztlich Kitsch, mit dem Einsamkeit ja gerne verschmiert wird. Nietzsche schreibt, es sei kalt in den Höhen. Damit müssen wir es aushalten, weil eben auch mit ihr.
So auch mit Vergeblichkeit, ja Fügung & Verpflichtung. Mit Treue, Klarheit & Ambivalenz – ein indirekt ständiges Thema zwischen Haacker und mir. Selbstverständlich bekam Elvira es mit.
Ich sah sie an.
Sie sah mich an. Nachts schon, der Freund und ich hatten sie zur SBahn gebracht.
„Leben“, sagte ich.
„Leben“, sagte sie.
Davor ein „das“ wäre redundant gewesen, zumal der Freund beiseite stand; doch gibt es herrlich-innige Bilder der beiden, wie sie Rücken an Rücken die nächtliche Skyline fotografieren, ihr, der zarten Frau, schmaler Hinterkopf auf einer seiner mächtigen Schultern. Kurze Momente einer ungeheuren Wahrheit, „ungeheuer“ ist keine Stanze, denn sie in ihrer gewissen Helligkeit um so viel mächtiger als er. Da stand ich abseits, aber anders als er nicht diskret, sondern dabei, mir das Bild präzise in mein Bewußtsein zu brennen.
Sie stieg ein, winkte vorgebeugt und, sich im Voranschreiten dabei rückdrehend, mehrmals, fuhr fort. Wir zwei Männer wie von der Bühne ab, VORHANG. Wobei hinter ihm dann noch gesprochen wurde, vor der erleuchteten Silhouette des nach wie vor eindrucksvollen Bahnhofs schräg gegenüber den ehemaligen Verlagsräumen von Schöffling & Co. Zu „meiner“ Zeit war es hier noch wild gewesen, und „wahrer“: Die Banken, darunter die Puffs und Stripschuppen, vor denen wiederum die Junkies. Ich habe damals sehr dafür gekämpft, daß diese Wahrheit erhalten blieb. Heute finden sich von ihr nur noch Spuren – in der parallelen Münchener Straße etwa, der einzigen kulturell wirklich pluralistischen dieser Stadt neben den sexbrösligen Nebenstraßen von Mosel und Elbe. Die, wie ich sie damals nannte, Kathedrale des Fleischs hingegen ist fort; die romanästhetisch wahrscheinlich – zugleich als Faktur wie in der leidenschaftlichen Innigkeit- getriebenste und vorrangetiebenste Szene der >>>> Verwirrung des Gemüts spielt dort:

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Schließlich brach der Verlegerfreund in die eine Richtung, Gallusviertel, auf, und ich schritt noch einmal die alten Inspirations- und Imaginationsräume ab, dann über die gleiche phantastisch geschwungene Fußgängerbrücke im Nachtgeglitz sachsenhausenauf weiter bis zu meiner Bleibe.
Nur eines ist noch nachzutragen. Wie die Lektorin und ich auf dem Österreichempfang zu Herbert Wiesner über poetische Nähe sprachen gerade für das Lektorat. Thomas Kunst stand dabei, der sich wie Gerd-Peter Eigner lektorieren lassen nicht mag, während ich diese Arbeit ja liebe – aber sie nun erleben darf ohne künstlerische Distanzen. Elvira selbst ist mein Text – das habe ich zuvor nie erlebt; sie ist näher in ihm als ich selbst. Eine grandiose, auch herzschnürende Erfahrung… viel zu klein das Wort: sondern:: ein Erleben.
Wie sich Wiesners Gesicht, ein ohnedies schmales, noch verschmalte, als ich das Gebot der Distanz derart unterlief. Er war es ja auch, der zu den Bamberger Elegien nicht ohne Überheblichkeit gesagt hatte, „moderne Gedichte sind das ja nicht“, und auch da schon irritiert gewesen war, weil mich der Vorwurf nicht scherte. Ganz unruhig wurde er aber, als ich fest erklärte, wer immer fortan von mir ein Buch haben wolle, müsse mir diese Lektorin geben. „Na gut, sowas mögen kleine Verlage tun – aber große? Was machst du da? Ich meine, die haben ihre eigenen Lektoren…“ „Wenn Sie mir nicht Elvira geben, mache ich auch kein Buch.“
Ich weiß gar nicht, wie seinen Blick zu nennen, mit dem er mich da ansah. Man muß sich doch strecken nach Decke und Tisch. – Wer muß? — Jetzt aber auf! Wenn ich um halb elf auf der Messe sein werde, ist‘s freilich früh genug.
Ohne Titel

DRITTER TAG
Freitag, der 13. Oktober 2017

Chamber Music Pages
Joyce, Schulze, ANH: Kammermusiken II

 

Das härteste für einen obsessiv-leidenschaftlichen,
also egomanen künstler ist, sich kleinzumachen lernen –
aus liebe aber, nicht kalkül.

Saul Cechy, reflections
Irgendetwas muß geschehen sein, von dem ich noch nichts weiß. Selbst aber im Netz findet sich nichts. So bin ich auf tiefruhige Weise unruhig. Doch irgendeiner hat was gedreht oder eine Perspektive hat sich gedreht; bis sous mon peau ist es spürbar. („J‘ai toi sous le peau.“) Ich darf Ihnen, liebe Freundin, die vielen Begebnisse aber konkret nicht berichten – nicht in meinen öffentlichen Briefen an Sie, sehr wohl aber gelegentlich, wenn wir beieinanderliegen. Freilich ist auch dies eine ganz eigene Erfahrung, daß sich, wenn wir klug sind, manch Öffentliches nur intim erzählen läßt, um sein Erstehen nämlich nicht zu verhindern.
Späte Lehre der Tausenden Seiten, die Die Dschungel mittlerweise ist.
Nur soviel, immerhin, daß das Gespräch mit der Agentur – Sie wissen schon, des Ghostromans wegen -, exakt so ablief, wie ich es vorauserspürt hatte. Hunderte Tische, übrigens, parzelliert nach Ordnungszahlen („divisions!) wie die Gräber auf Père Lachaise, und auf einem jeden eine imaginäre Stechuhr, auf Viertelstunden getaktet. Zeit ist für das nötigste nur; selbst aber sie läßt sich mit unausgesprochen Angedeutetem unterlaufen. Persönliche Mitteilungen in Blicksekunden; ein Wimpernschlag genügt. Man sitzt ja auch eng an eng und hört die Gespräche der anderen – anderen Agenturen, anderen Verlagen, anderen Produktionsfirmen mit. So kann ich mir denken, daß jeder einen so eigenen Code der Verständigung verwendet wie die Gesangszeilen sind der catanesischen Fischverkäufer, aus jenen Hans Werner Henze eigene Komposition gemacht.
Der zweite Agenturtermin, abermals in Sachen Contessa, heute, und morgen, zusammen mit meiner französischflüssigen Lektorin, in eigener Sache bei „den“ Franzosen: Traumschiffs- und Meeressache. Dazu wird abends schließlich >>>> Peter Grimes gut passen, wohin ich eingeladen bin. Wobei Monsieu B., mit dem wir uns gestern verabredeten, noch enger getaktet war: nach zehn Sekunden. Allerdings auf einem Empfang. Es läßt sich behaupten, er sei umlagert gewesen.
Elvira und ich sind uns einig: Wir mögen die Frankfurter Messe, anders als viele andere, die sehr schnell klagen und den kommoderen Leipziger Leseteppich vermissen, den fast nur freundlichen Austausch quasi Gleichgesinnter (gleich Gesonnener); da aber eben geht kaum Geschäft. Wenn wir von den Tausenden absehn, die sich in Frankfurt ihre Patchworktapeten zusammenstellen (einem anderen Zweck kann die geradezu in Koffer gepreßte Sammelei von Verlagsprospekten kaum dienen), liegt hier – und zieht auch – das business blank. Da ist wenig Zeit für Getüdel. Dies eben macht diese Buchmesse wahr. Und wir, die Dichter, spüren: Wir sind Objekt. Mehr noch vielleicht spüren es die Dichterinnen, die indessen gelernt haben, auf ihre Erfahrungen mit Männern zurückzugreifen und wo man die Wünsche am Schwanz zieht, der, wenn es gutgeht, ganz unerfüllt bleibt, umso mehr will und sich schließlich im Sublimieren befriedigt, nämlich dem Buch. Und befriedet für einige Zeit.
So fiel mir zum einen, wieder und wieder, Man Ray ein („Die Banane ist groß, doch ihre Schale ist größer“), zum anderen – siehe oben – die nichtironische Perspektive Saul Cechys.
Jedenfalls nahm die Lektorin mich zur Standlesung eines anderen, jüngeren Schriftstellers mit, den sie betreute und betreut: >>>> Paul Auer. Er las für einen kleinen Sender ein; die Hörer:innen daheim werden mehr verstanden haben als die wenigen live auf den Stühlen, diese umbrandet vom Lärm der Passierenden und dem Lautsprechertosen einer anderen Lesung gleich hinter der Wand. Doch was ich spürte, war, der Junge hat Kraft – also sein Text hat sie, erschienen soeben bei Septime:

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Hinterher ein nettes Plaudern, nur kurz, freundlich, freilich fremd: verschiedene Generationen. Aber doch wirklich Talent, und der Bursche hat auch wirklich was zu sagen. So kommt es zu zumindest Momenten romanpoetischer Wahrheit. Soweit ich‘s, Freundin, hören konnte; immer wieder beugte sich die Lektorin, neben mir sitzend, mir zu, um meine Aufmerksamkeit zu lenken. Dieser Lärm halt um uns her. Ich werde mir das Buch nachher bei Septime besorgen; das beste wäre, Sie tun‘s auch.Später, am Nachmittag, stellte Arcos Haaker bei den Georgiern Grigor Robakidse und Nikolos Baratschwili in deutscher Übersetzung vor; letztren fand ich fade, der erstre schlug bei mir ein. Icch müßte etwas ausholen, um zu erklären, vielleicht. Dazu ist die Zeit nicht. Vielleicht werde ich es in einer Messen-Nachbetrachtung tun oder dann, wenn ich das Buch gelesen habe. Was aber plötzlich mich ansprang, war: Dahin willst du reisen, das willst du sehen, riechen schmecken. Denn Kolchis sah ich plötzlich, sah die in den Acker gesäten Fafnirszähne – und auch schon Daniela Danz hat in mir eine vibrierende Imago des Schwarzen Meeres bewirkt, die ich „nur“ vergessen hatte. Dieser ganze Bereich Europas ist für mich ein völlig verborgener Kontinentteil.
Doch etwas anderes noch war hier bemerkenswert.
Ich habe Haacker einen nachgelassenen Koffer des großen Gerd-Peter Eigners geschenkt. Sie machen sich, Freundin, keine Vorstellung von seiner, Haackers, Freude. Dieser Koffer nun, und mit und ihm Eigner selbst, setzt sein Leben so fort:

Ohne Titel

Dies nun ist auch mir selbst eine Freude. Es gibt nämlich eine Poesie der Dinge, die allen Menschen verschlossen ist, wenn sie nicht glauben können, vor allem aber nicht verstehen, ihre Glaubensgründe sich selbst zu erschaffen. Die nicht aufladen können.
Und schon wieder muß ich mich sputen. Aber doch dies noch: Als ich im Frankfurter Literaturhaus stand. Welch ein Pomp! Welch ein falscher Vorschein in dieser grauenvollen Innenarchitektur:

Auer Arco Messe17 ff

 

Restauriertes Gründerzeitsgehochmetz umgekehrt proportional zur tatsächlichen Bedeutung. Dabei war dieses Gebäude, als jahrzehntelang nur der Portikus stand und dahinter daran ein Container eines der bemerkenswertesten Architekturen Frankfurtmains gewesen; immer hatte ich damals davor die Salomé inszenieren wollen. Jetzt wär es ein ebensolcher Kitsch wie die neue „alte“ Römerzeile – und selbst der Römer, gestern zur Langen Nacht der Literatur (bestimmt einzwei Kilometer Warteschlange davor), war auf eine derart geschmacklos-süße Weise angestrahlt, daß sich Dichter:innen von Rang weigern müßten, dort aufzutreten. Doch alle – na gut, fast alle – machen das falsche Spiel gegen Münze und Bedeutungswahn mit. Am Ende liegen aber auch sie „zusammengekauert wie nie zur Welt gekommene Tiere“ (Artur Lundkvist; aus einer Lese-Erinnerung zitiert, deren für den sehr jungen Mann enorme Erfahrung vier Jahrzehnte zurückliegt. Hier nun, gestern, aktivierte sie sich.
*

VIERTER TAG
Freitag, der 14. Oktober 2017
Zu spät und schwer hinein, zu schwer und spät hinaus und willens nicht genüge, heute von gestern viel zu erzählen. Doch saßen wir im kalten Herz der Messe, das ihr Treibstoff zugleich ist. So verbrennt es sich selbst:

Agenten, unter der Messe das Herz

Stellen Sie sich Freundin, dieses Bild nach rechts gespiegelt vor und beide Bilder dann noch einmal hinter Ihren Rücken. So gewinnen Sie ungefähr einen Eindruck.
Es war lehrreich, kalt, orientiert auf ein Ziel; man kann damit leben, weil es so klar ist. Verlangt wird Kalkül. Was Dichtung eigentlich ausmacht, hat keinen Raum; um Literaturen geht es, die Menschen führen: Sie bestimmt auf den Punkt, was sie fühlen. Hier wird gemacht. Daß ausgerechnet ich da hineinkam, die hochsensible Elvira zur Seite – die aber ungeheuer wütend werden kann, was ich vorher und anderswo erlebte. Da ging‘s um, nein, ich sage es nicht.
Morgens auf dem ledernen Futteral des Ipättchens eine Notiz, die ich des nachts geschrieben habe, ich weiß nicht mehr, wie und warum:

Nachtzettel

 

Wie „Mensch“ durch „Welt“ hier ersetzt ist. Wie in dem „lebst“ das „i“ des „wie“es mitschwingt; eine Subversion des Gefühls, eine Mahnung. Nach >>>> Marie-Thérèse Kerschbaumer geschaut, von der Elvira mir sprach, sie solle Meere lesen; ich dachte nun, als ich eben schaute, ob nicht die Elegien „besser“ paßten? Und legte ein Bändchen dazu. (Wie mir Betonungen zu Kursivierungen werden; doch müßten sie Sperrungen sein). Am Abend mit Christoph bei >>>> Phyllis gewesen; da nahmen wir die Aeolia: Seit langem, langem las ich wieder draus vor. Es gibt dieses Buch nicht mehr; im Handel war‘s ja auch nie. Nun überlegt der Verlegerfreund, des‘ Schmerzen und Freuden ich teile. Wer immer behauptet Melancholie | sei voll der Süße | spürte sie nie.(Eine andere Freundin zu einer, Freundin, Freundin einst: „Was hilft gegen Männer? – Mehr Männer.“)

*

FÜNFTER TAG
Sonntag, der 15. Oktober 2017

[9 Uhr
Keith Jarretts Schostakovitsch, Präludien und Fugen op.87]

… und so klang gestern, nach >>>> einer grandiosen Aufführung von Brittens Peter Grimes, die Nacht aus:

Main

 

Drei Freunde, jeder auf seine Weise melancholisch, sprechen über die Frauen und Musik, jede auf seine Weise zärtlich. Es roch von der Nachbarbank gewürzig-süß nach Haschisch. Wiewohl von völlig anderer Art, hätten wir nur fragen müssen. Da ich den Duft zwar mag, sogar sehr, aber selbst nicht kiffe, nahm ich nicht die Initiative, und den drei arabischkehligen Jünglingen, die auf Kunden warteten oder weiblichen Wildes harrten, waren wir drei Männer zu fremd, als daß sie uns angesprochen hätten. Zugleich fanden sie uns offenbar durchaus akzeptabel. Des Mainglitzers Wasser, wie ich‘s in einem frühen Gedicht einst formuliert, umhüllt uns sechs in Magie. Jemand radelte hindurch, der nachts Getränke aus einer Sporttasche vertickt. Ich erstand ein Bier, überließ den guten, sehr guten Wein den Freunden; ich mag den kleinen Schwarzhandel, den ungeordneten, spontanen – der „einfachen“ Menschen, die sich wehren, nicht etwa der großen Firmen mit ihren Steuerfluchten. Gesetze dürften nicht gleich, sondern verschieden müssen sie sein: ganz wie die Menschen selbst. Anders sind Gesetze nicht gerecht, sondern was sie teils seit jeher waren: Ausdruck von Macht.
Tags die letzten Gespräche, ein wichtigstes dabei – wieder oben im Saale der Agenten. Elvira, auf Französisch, führte es eindringlich intensiv. Es ging um die Übersetzung, erst einmal, von Meere. Jetzt wird wieder >>>> Prunier gefragt sein; ich werde ihm morgen schreiben. Soweit ich mich erinnere, hatte er seinerzeit schon angefangen, das Buch zu übertragen; Madame P. möchte nun gerne Proben sehen. Viel wichtiger aber ist, daß sie sich, falls sich ihr Interesse bestätigen sollte, die Weltrechte sichern möchte – für mein ganzes Werk. Da habe ich nun einige Gespräche mit meinen Verlagen vor|zu führen. Wiederum >>> Wieser möchte meine Gedichte sehen. Zwar sagte er gleich, „denk aber bloß nicht, daß sich von sowas viel verkauft“, doch geht es mir auch um etwas anderes: Ich hätte nämlich dann ein Standbein in Österreich und fiele nicht immer durch die dortzulande auf Österreich selbstkonzentrierten Regelungen der Förderungen durch. Was eben auch Lesungen anbelangt, Auftritte insgesamt. Und dann liegt Klagenfurt auch noch einem Europa nahe, das mir bis heute fast verschlossen: in den Balkan hinunter. Und sowieso hat Kärnten nun schon einige Male sinnelockend ge- —� droht wollte ich schreiben, was aber nur zum Teil stimmt. Ich assoziierte Liebe immer mit Verlust und Leben mit nicht Tod, nein, prozesssual dem Sterben – wobei, liebe Freundin, erstens „dem“ schon falsch ist und der Impuls-selbst ganz ohne Absicht, vielmehr ein Instinkt ist.
Für die Gedichte taten sich noch zwei weitere Möglichkeiten, mögliche Möglichkeiten auf; sie, die Gedichte, müssen unter Dach & Fach sein, bevor der Béartzyklus fertig ist, für den ich dann ebenfalls werde suchen müssen, für ihn aus anderen Gründen als für die vorherigen Gedichte heikel. In Berlin wird die Ablehnung durch den Deutschen Literaturfonds liegen; mein Sohn öffnet meine Post ja nicht, sondern legt sie nur zu einem Haufen auf meinem Schreibtisch zusammen.
Dielmann huschte vorüber, arg das freundlichste Gesicht. Ich (fiel und) falle wieder darauf rein. Er bestätigte mir denn auch, daß der Wolpertingerroman seit über einem halben Jahr nicht mehr lieferbar sei. Auch hier nun werde ich handeln müssen. Schon Meere, in der persischen Fassung, ist ihm ja nun aus den Händen genommen.Heute abend Essen mit Do. Auf der Messe, gleich, nur noch Buchschnäppchen, für die Geliebten, die Freunde, die Kinder, vielleicht auch ein bißchen was für mich. Und morgen, dann noch einmal hier, eine Abschluß-Nachbetrachtung, bevor ich mich auf den Weg >>> nach Karlsruhe machen werde, zur dritten Meerelesung des ersten Meere-Veeranstaltungsblocks.

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3 thoughts on “Frankfurter Buchmesse 2017. Die Arbeitsjournale vom 11. bis 15. Oktober 2017.

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