Günter Grass (1), die Waffen-SS und Tullius. Aus dem elektronischen Briefwechsel.

habe eben >>>> den grass gelesen – für meine begriffe ein wunderbares erinnerungs- und geschichtenbuch. ich geb zu, seitdem ich in der ddr jeweils in einer nacht (länger kriegte ich es nicht geliehen) blechtrommel und hundejahre und butt gelesen habe, liebe ich den kerl. ich glaube, du magst ihn nicht besonders, obwohl ich mir sicher bin, daß du einiges von ihm mögen m u ß t. egal: die ss-diskussion, in der cdu-windelscheißer fordern, daß er den nobelpreis zurückgibt, in der die jürgs und die karaseks sich aufblasen wie der truthahn vorm schlachten, das geht mir gehörig auf die nerven. ich finde gerade diese verfehlung, diese lange verschleppte und deshalb quälende verfehlung so unglaublich menschlich. ich find sie nicht toll, aber ich versteh sie. können wir da nicht irgendwas in die welt setzen, um dem armen kerl beizuspringen?
und es gibt ein zweites. ich steh ja beim steidl nicht auf dem verteiler, und ich kauf jeden grass für ehrlich geld. aber augenscheinlich hat KEINER von unseren tonangebenden rezensenten auch nur einen blick ins leseexemplar geworfen, sonst hätt die ss-geschichte ja nicht erst im interview hochkochen können. quod erat demonstrandum: ALLE unsere rezensenten scheren sich augenscheinlich einen dreck um leseexemplare. wahrscheinlich geht das reihum: jeder ist mal dran, was zu lesen, was über die klappe hinausgeht, und alle schreiben dann argumentativ ab.
ich möchte da gern etwas tun: ein paar kollegen (auch gern so in unserem alter und darunter) anspitzen. ich denke, das darf man sich so nicht bieten lassen…

15 thoughts on “Günter Grass (1), die Waffen-SS und Tullius. Aus dem elektronischen Briefwechsel.

  1. Robert Schindel. Hat >>>> in seinem spiegel-online-Interview sehr klug und menschlich reagiert; ich wüßte nicht, was w i r nun dazu noch sagen sollten. Grass ist auch insgesamt zu mächtig, um von ihm als von einem „armen Kerl“ zu sprechen. Das ist er sicher nicht, so unschön man jetzt mit ihm auch verfährt. Man verfährt genau so, wie der Betrieb und wie die jeweilige politische Fraktion es grad brauchen. Das ist abgestandener und wie ein solcher immer wieder wirksamer Kaffee: es macht Sodbrennen. Aber nicht mehr. Dann nimmt man ein Riopan, und Ruhe ist. Deshalb eine moralische Gesundheitskampagne in die Gegen-Welt zu stellen, kommt mir nach Mäusen mit den Alpen geworfen vor.TULLIUSdu weißt schon, was ich mit “armen kerl” meine. und was ich meine: einfach argumentativ etwas dagegensetzen. und das sollten leute tun, von denen man eben nicht erwartet, daß sie grass “beispringen”. denn, wie du richtig erkannt hast: so es um grass geht, eigentlich geht es gar nicht um ihn, sondern mal wieder um den betrieb.

    1. Tullius: “Lies d a s mal.” seit der köppel da weg ist, hat sich das blatt aber von jeder liberalität verabschiedet. von intelligenz wohl auch. ein glück. daß der kerl schon so heißt, >>>> wie er schreibt. ANHDer Artikel i s t gar nicht schlecht, lieber Tullius, wenn man einmal die intentionale Demogagie daraus wegliest.TULLIUSja klar, aber wie ist denn genau diese demagogie hineingeraten: das isses doch.ANHEs ist DIE WELT, Tullius, das ist doch logisch, w e l c h e Hüfte da schießt. Doch zwischen den Zeilen ist der Artikel sehr gut, – gerade dort, wo (in der WELT!) psychoanalytisch argmentiert wird.TULLIUSnein, die welt hat sich verändert. es gibt einen journalisten namens rügemer, der jetzt krach wegen seines sal. oppenheim-bank-buches hat: der hat über korruptionssachen schon seitenweise für die welt geschrieben. und >>>> jetzt wird er dort als altstalinist angeschissen.

  2. Ich war von gestern von der Grass-Beilage in der FAZ hingerissen “…diese lange verschleppte und deshalb quälende verfehlung so unglaublich menschlich. ich find sie nicht toll, aber ich versteh sie.”
    Ich bin einer Meinung mit Tullius.
    Diese mangelnde Einfühlung mancher “Krikitker” in Lebenszusammenhänge, sie rotzen ihre Sätze in die Welt, ohne Gespür für die Leichen im eigenen Keller.

    1. Das ist falsch. Sie tun’s ebenfalls aus Abwehr, u m die eigenen Leichen – auch mögliche gewesene Leichen – zu vergraben: meist vor sich selbst. Das Referenzprodukt eines solchen Verhaltens führte seinerzeit Iris Radisch vor, als sie, eine ausgewiesene “Wessi”, bundesweit das moralische Fanal gegen Sascha Anderson schürte. Es ist fast immer ein Stellvertreterkrieg, der beweisen will, man selbst wäre anders gewesen – und hat historisch nicht die Chance gehabt, es zu beweisen. Genau das wird den ‘Übeltätern’ verübelt, als wären sie d a r a n schuld. Was immer einer von dem “Fall Anderson” hält – als Wessi wär da leise zu beobachten gewesen, wie die Betroffenen selbst damit umgehn. Und es hätte gesehen werden müssen und m u ß gesehen werden, welche L y r i k da vorliegt. Offenbar halten es Menschen aber in solcher Ambivalenz nicht aus; fanatisch erzwingen sie “Reinheit” – ein gerade in Deutschland höchst prekäres Unternehmen.

    2. ja – ANH und weil sie den Namen Anderson nennen… eine Abschweifung, die an einen Text von Lutz Hesse über Anderson erinnert. (Ich zitiere mit Genehmigung des Autors.) Leider kann ich den Text nicht gesperrt eingeben und auch die Gedichtformatierung ist anders.

      “So ist es. Ich habe meine Geheimnisse verloren und werde nicht mehr erkannt.” (Anderson in einem Stern -Interview)

      Sascha Anderson

      Kartenspiele

      E VII

      Wirst Du, Kartenhaus, mich mit dem dreiunddreißigsten
      Deiner Bilder betrüben, oder ist es naiv
      Wenn die Grenze mir einstürzt, das Äußerste, zu wagen
      das Medium, das Herz, für die noch schönere Münze
      Vor dem Gartenhaus stehen drei Birken, die heißen
      Schuld und Sühne, ich weiß, welche die Liebste mir ist

      Emblematisch, wie in einem barocken Gedicht des 17.Jahrhundert, setzt der Autor die Worte. Strukturale Grundlage ist ihm die Zahl 3, die noch bis in das Rokoko hinein, als sakrale Zahl gilt. Wer als Kind Kartenhäuser gebaut hat, erinnert sich sicher an die Verlockung, immer noch eine Karte mehr aufzulegen, weiß von der Spannung, der Erregung beim Bauen und kennt die prickelnde Lust der Angst vorm Einsturz. Der Homo ludens gerät in diesem Text zum Zocker um Leben und Tod. Welches Bild die dreiunddreißigste Karte ziert, die offenbar in einem fremden Ärmel steckt, wird nicht verraten. Zum Schluss dieses Gedichtes sind wir erschüttert von den Folgen des Einsturzes. Glaube, Liebe, Hoffnung zerfallen, in Leere, Schuld und Sühne. Aus dem Hintergrund grüßen die Dichter des „Pegnesischen Blumenordens“(gegr.1644). Drei weiße Birken stehen vor Goethes Gartenhaus und winken uns in Unschuld zu. Sie heißen Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj und Sigmund von Birken. Dreistimmig singen sie: Ende, wende/Meine Schmerzen/In dem Herzen/Ob den Sünden/Laß mich deine Gnad’ empfinden. Bei Andersons Gedicht ist der Gott der Dichtkunst, vorausgesetzt es gäbe einen solchen, vermutlich gut lutherisch. Er braucht keine Stellvertreter und niemals Beichtväter und gewährt seine Gnade allen, die sich um Poesie bemühen. In späteren Zeiten, wenn die Biografie Andersons keine Wellen mehr schlägt und genug Wasser Pegnitz, Ilm und Spree hinab geflossen sind, werden manche Leser, von der doppellsinnigen Schönheit des Textes vielleicht überrascht, benommen auf ihr Kartenhaus schauen. © Lutz Hesse

      Quelle: Sascha Anderson: Herbstzerreißen
      Gedichte
      mit Abbildung einer Schießscheibe, fester Einband, Fadenheftung
      72 Seiten; 12,50 €, 23,- SFR, ISBN 3-910161-83-9

    3. Ich ahne so ungefähr, worauf sie abzielen. Natürlich sind Grass und Anderson in keinen Zusammenhang zu bringen. Das wäre , um einigermaßen im Bild von ANH zu bleiben, als würde man die Alpen mit dem Taunus vergleichen. Aber richtig ist, meiner Meinung nach, dass ein Kunstwerk, unabhängig von der Biographie seines Schöpfers betrachtet werden muss. Die Blechtrommel und nicht nur sie, werden nicht schlechter, nur weil ihr Autor als 17-jähriger “Volk, Reich und Führer ” anhing. Andersons “Nachwendegedichte” haben ihre Schönheit, vielleicht weil der Autor vorher so fehlte. Das moralinsaure Gehabe mancher Leute würde heute Vergil, wegen seiner Staatsnähe an den Pranger stellen. Ob Balzac, dessen royal-reaktionäre Haltung sattsam bekannt ist, gegenwärtig einen Verleger fände ist fraglich.

    4. da hat ihr findiger redakteur als gewiefter verkäufer auch bloß den tauschwert ermittelt und dabei die galeristin hereingelegt, in dem er vortäuschte, es handele sich um gold. nein, das hat mit der untersuchung, was kunst ist, nun gar nichts zu tun, ebensowenig wie meldungen über die preise für gemälde bei auktionen. da ist nur noch von ware die rede.
      biographien werden dann wichtig, wenn man sich näher mit einem werk beschäftigen will, das seinen stellenwert (und nicht: geldwert) als solches schon bewiesen hat. denn im vordergrund steht das werk, nicht die person, die es verfaßt hat. umgekehrt wäre es auch gar nicht möglich. es sei denn, man wolle von der person aus deren werk aufwerten, wie im fall der “worte des vorsitzenden mao tse tung” (allerdings hat auch ER gedichte geschrieben)! den anderen nenne ich nicht, der mir jetzt grad einfällt (allerdings hat auch ER bilder gemalt, der anstreicher).

      “Ein unterhaltsames Beispiel aus der Welt der Kunst”

      event, event, event, event… hauptsach’, die leut’ amüsier’n sich!

      anfangs behaupten sie auch:
      “Aber richtig ist, meiner Meinung nach, dass ein Kunstwerk unabhängig von der Biographie seines Schöpfers betrachtet werden muss.“

      Bei dieser Aussage habe ich aber so meine berechtigten Zweifel. Schließlich geht es bei Kunst(rezeption) auch o f t um das Umfeld, in dem Kunst entstanden ist.

      am ende behaupten sie, daß man im falle Grass differenzieren müsse…

      was nun?

    5. Bilde Künstler, rede nicht! … kann man dem Pfeifenraucher da nur zurufen. Das ist ja alles ganz menschlich und anrührend, aber auch ganz schrecklich langweilig. Der Vergleich mit dem Kindergarten-Bild trifft es recht gut. Das Zwiebel-Buch lag gestern in dicken Stapeln in der Bahnhofsbuchhandlung, aber ich habe mir dann doch lieber Albrecht Müllers “Machtwahn” gekauft.

    6. @martin pätzold exakt…in einem jahr hat das sowieso jeder vergessen…das sommerloch 2006 und es bleibt ein hauch von menschlicher schwäche…da war doch was mit dem grass?was war es doch?
      ich habe mich sehr amüsiert über die rosa eiscreme…aber genau das trifft den punkt von kunst…oder besser einem abgehobenem elitärem kunstverständnis,wo ständig gewertet wird..ist es oder ist es nicht?das definiert sich von selbst über die zeit…insofern sollte jeder künstler entweder geduld lernen zu üben oder sich dem zen hingeben…aber eigentlich würde ich die these in den raum stellen wollen…
      einem künstler ist es völlig egal,ob und wie gewertet wird…er schafft unabhängig davon….er muß….denn das lebensgfühl ist der prozess des schaffens…
      schön ,wenn anerkennung kommt,aber es beeinflusst nicht den prozess im eigentlichen…

    7. der künstler und die anerkennung @china-blue: da kennen sie aber seltsame künstler. unter denen die ich kenne, ist kein einziger dabei, dem egal wäre, ob und wie er bzw. das werk gewertet wird. ich befürchte, sie lassen sich hierbei von einem kreuzverlogenen romantischen ideal anleiten, dass bevorzugt von denen kolportiert wird, denen die produktion von kunst im weitesten sinn eher fremd ist. es sei denn als privates hobby derer, denen es ansonsten wichtiger ist, einem wie auch immer geregelten leben nachzugehen. nein, anerkennung ist schon alleine dafür wichtig, sich überhaupt das dach über dem kopf und ähnliche lebensnotwendigkeiten leisten zu können. und glauben sie mir, wenn sie dann und wann keine ahnung haben, woher sie die nächste monatsmiete nehmen sollen, den krankenkassenbeitrag und ähnliche kinkerlitzchen, wovon sie das zum arbeiten notwendige material bezahlen sollen, die ganze infrastruktur etc. dann beeinflusst das den prozess ganz gewaltig.

    8. @pätzold
      ich fürchte, Sie haben mein “was nun?” nicht verstanden. ich kann’s ja noch mal wiederholen:

      Sie stellten die in anführungsstrichen stehende behauptung:
      “Aber richtig ist, meiner Meinung nach, dass ein Kunstwerk unabhängig von der Biographie seines Schöpfers betrachtet werden muss.“
      mit dieser Aussage:
      Bei dieser Aussage habe ich aber so meine berechtigten Zweifel. Schließlich geht es bei Kunst(rezeption) auch o f t um das Umfeld, in dem Kunst entstanden ist.
      in Frage, d.h. Sie bezweifelten, daß man von der Biographie absehen könne. gleichzeitig machen Sie im falle Grass eine Ausnahme.
      aber ich merke schon: ihr “oft” in Ihrer bezweiflung ist so eine aalglatte hintertür, da können Sie natürlich alles mögliche behaupten… aber immerhin haben Sie dieses “oft”!
      Sie sind nur auf tauschwert aus… hauptsache, der mann hat einen namen und wird gekauft, dann taugt er was, und es kann differenziert werden…
      was die galeristin betrifft: die galeristin ist für mich eine marktteilnehmerin, wie Sie und Ihr gewiefter redakteur… und für solche gelten nur die gesetze des marktes! ein witz läßt sich immer besser verkaufen.

      by the way: es geht mir um die art der argumentation, die sich widerspricht. denn Sie negieren das, worauf Sie dann aber in der replik pochen. das ist nicht glaubwürdig!

    9. Muss man Byrons Biographie kennen…? Da meine Bemerkung der Anlass war, hier ein Text von Byron. Als ich ihn vor langer Zeit las, wußte ich vom Autor noch nichts. Es war auch nicht nötig, wochenlang schwangen die Verse in mir.

      “She walks in beauty, like the night”

      SHE walks in beauty, like the night
      Of cloudless climes and starry skies,
      And all that’s best of dark and bright
      Meets in her aspect and her eyes:
      Thus mellow’d to that tender light
      Which Heaven to gaudy day denies.

      One shade the more, one ray the less,
      Had half impair’d the nameless grace
      Which waves in every raven tress
      Or softly lightens o’er her face;
      Where thoughts serenely sweet express
      How pure, how dear their dwelling-place.

      And on that cheek and o’er that brow
      So soft, so calm, yet eloquent,
      The smiles that win, the tints that glow,
      But tell of days in goodness spent,
      A mind at peace with all below,
      A heart whose love is innocent.

    10. Wir sind alle irgendwie ge(b)eschlagen Jetzt stelle ick mir mal janz dumm und nehme das Bilderverbot ( das Vorurteilsverbot) ganz ernst. Ein Nichtkennen persönlicher Lebensdaten eines Künstlers erleichtert den unverfälschten Blick, der von Wissenschaft und öffentlicher Meinung beeinflusst, eher trüber, statt klarer wird. Ich bin ein bewußt naiver Leser und folge in der Regel dem “Recht des ersten Satzes”.
      Das geht manchmal schief, wie meine Walser-Lektüre beweist, aber dies muss ich hinnehmen.
      Der Vater aller Musen schütze ANH’s Trilogie vor meinem Tagebuch und mich vor der ANDERSWELT, denn meine Welt ist anders. Kleiner.

      Guten Abend !
      Paul Reichenbach

    11. ich saß vorhin draußen, den blick abgewandt vom haus richtung gelände, das abfällt, der hund ließ meine nähe nicht, und wühlte im kompost, der aufgewühlte kompost roch nach modernder erde… in diesem sinne

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