Kubrick, Maria & Der Sanfte. Engführung. Argo. Anderswelt. (194).

„Der Kaffee ist fein“, sagte Andreas. Noch immer hielt er die Gitarre. Jetzt erst legte er sie wieder hin. Eine mitteltönig dunkle, etwas metallische Resonanz rührte davon, die, so schien es Brem, allezeit in der Stimme des Jungen mitschwang, auch vorher schon, auch jetzt wieder. Das hatte in der Tat etwas Erstaunliches, etwas, das nicht innen entstand, sondern von außen kam, als wäre es nicht eine Eigenart der Stimmbänder, sondern G a b e vielmehr, und zwar im Wortsinn: Der Junge schläft, vielleicht nach einer Flucht, er ist vielleicht ohnmächtig umgesunken, ein Haus im hintersten Osten, dachte Cordes, das die Schänder überfielen eines Nachts. Metzeln nieder, was da atmet, links rechts schwingen die Krallen durch Hals, Gesicht und Brust. Oder: MANN ERSCHIESST FRAU UND KINDER, doch ein Kind überlebt, ein schwarzer Vorhang fällt ihm über die Augen und bleibt zwischen Blick und Erinnerung für Jahre, Jahrzehnte unten oder hebt sich n i e mehr, dachte Brem. Denn aus irgend einem Grund riß eines der Ungeheuer das Kleine an sich und schleppte es mit, setzte es aus, man weiß nicht warum, vielleicht sind selbst die Schänder bisweilen ihres Blutrausches müde. Vielleicht nur gesättigt. Und da liegt dann der Junge. Er will nicht mehr schreien, will nicht mehr weinen. Nichts als schlafen will er und rollt sich zusammen. Da erscheint die Jungfrau Maria, persönlich, phantasmatisch indes, selbstverständlich, in einer Aura barocken gelben Lichts. Die Aura schwebt, sie berührt nicht den Boden. Das ist das Geheimnis aller Heiligkeit. Doch sie berührt die Stirn des Jungen, der ihr – außerdem hält sie ihr eigenes Kind – zu schwer ist, um ihn zu tragen. Und es ist nicht der Vorhang, der gütig von der Erinnerung fernhält, auch wenn man merkt, dahinter sei das Entsetzen versteckt, sondern ein Licht: der Funke, ebenso gelb wie die Aura, der sich vom Zeigefinger der Gebenedeiten löst wie ein Tropfen Wasser aus den Millionen Geschwistern, so e r von den göttlichen Zellen, den anderen, und er verschmilzt dem Jungen mit der Stirn.
Es war sehr seltsam, Brem kniff die Augen zusammen, dort, an Andreas’ Stirn, gab es in der Tat einen hellen Fleck, eine Pigmentstörung, selbstverständlich, und doch ein Drittes Auge, nicht in der Mitte der Stirn, ein Muster muß nicht perfekt sein, sondern ein wenig versetzt. Dort, dachte Brem, war der Funke eingedrungen und hatte den Geist des Jungen zur Gnade verwirrt. Zur Gnade und, offenbar, zur Musik. Hätte Brem, wie Kignčrs, Gedichte gelesen oder auch nur ein wenig von Rilke gekannt, er wäre deshalb gewarnt gewesen und hätte gewußt, wer das ist, der unversehrt, wenn auch allein, aus dem Hades zurückkehren kann. Aber vielleicht, dachte ich, weiß Andreas ja selbst nichts davon und nicht, woher er stammt und wer ihm seine Gabe vererbte? Wer hat ihm denn von seinem Vater erzählt? Wo wuchs er auf und bei wem? Bei seinem Vater nämlich nicht, ganz sicher nicht. Und die Mutter? Ach, die Mütter! Letztlich, dachte Cordes, war Andreas nach ihrem furchtbaren Tod wie Deters in seiner Archivdatei zu sich gekommen: tastend, die Augen völlig weich, ja die Augen, nicht etwa die Konturen der äußeren Gegenwart, mochte sie software sein, wie sie wollte, die A u g e n waren es, denn sie hatten jeder das opale Opake des heiligen Tropfens, in dem zu Straussens Zarathustrafanfare sich das Kind mit riesigem fötalem Blick dem Zuschauer zudreht am Ende dieses ungeheueren Films.

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