Moral. Dritte Heidelberger Vorlesung (4). Aus den nächsten Skizzen der Fortsetzung.

Wir leben in einer Zeit direkter aufeinandertreffender Widersprüche und A-Historizitäten, als das jemals anderswo der Fall gewesen ist. Man könnte allenfalls, aber selbst da sind die historischen Ungleichzeitigkeiten vergleichsweise lächerlich, das 16. Jahrhundert und den Einfall der technologisch überlegenen Spanier in die mittel- und südamerikanischen Kulturen zum Vergleich herbeiziehen. Den Prozeß aufeinanderrückender Ungleichzeitigkeiten nennen wir heute Globalisierung. Es scheint mir, um eine literarische Leitbedeutung wiederzuerringen, unabdingbar zu sein, daß die poetische Ästhetik sich nicht nur den Globalisierungsprozessen, sondern den von ihnen betroffenen Seelen anzunähern und ihnen zu entsprechen versucht. Das geht nicht ohne ein spürbares und oft schmerzhaftes Knirschen im Gefüge der Konstruktionen ab. Es hat aber zugleich den ungemein poetischen Reiz eines Stromes der Erzählungen von Gleichzeitigkeiten.
Stellen Sie sich einen letztlich in mittelalterlichen, ja vormittelalterlich-tribalen Sozialstrukturen lebenden gläubigen Islami vor, über den die volle Flut der westlichen… ich bin mir nicht sicher, ob ich „Freizügigkeit“ schreiben darf… über den jedenfalls so etwas mit vollen Pranken hinüberschwappt. Und stellen Sie sich vor, daß derselbe Mann Waffen an die Hand bekommt, die dem historischen Stand seiner Entwicklung in gar keiner Weise entsprechen, schon allein, weil er die bewußte Erfahrung von Abschreckung und Kaltem Krieg nicht in einer Weise hat mitmachen können, wie sie uns geradezu schon in die Genetik gerutscht ist. Stellen Sie sich also sein Recht vor, und stellen Sie sich gleichzeitig unser Recht vor mitsamt den Errungenschaften eines Gesellschaftsvertrages und überhaupt der Entwicklung imaginärer autonomer Subjekte. Beide Rechte s i n d Rechte, aber sie schließen einander praktisch aus. Das gilt insgesamt für verschieden geerdete Moralsysteme, die nun alle hautnahst aneinanderhocken und miteinander einen Modus finden müssen, sich weiterzuentfalten – oder aber sie sterben ab. Das ergibt einen ungemein reichen Stoff. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Griffe uns eine außerirdische, uns technisch weit überlegene Zivilisation an und verlangte, wir möchten doch, weil wir noch unentwickelt seien, auf unsere moralischen Errungenschaften, etwa die Menschenrechte, verzichten, gar kein Zweifel, daß wir das als eine hochfeindliche Intervention betrachten und uns mit sämtlichen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen zur Wehr setzen würden. Um sich klarzumachen, was ein multiperspektivisches Erzählen bedeutet, wie es der Kybernetische Realismus im Sinn trägt, und worauf es hinauswill, müssen Sie sich nur eben in eine solche Situation, aber auch in diejenigen hineinversetzen, die wir als Usurpatoren erleben würden, indem sie über unsere Kultur mit der massiven, auch durchaus mit Militär drohenden Gewalt ihrer Form von Befreiung herfallen. Das ist auf b e i d e n Seiten ein enormer tragödischer Stoff. Es läßt sich bereits hier erkennen, wie der antike Tragik-Begriff bis in unsere Tage ungebrochen hineinstrahlt. Um ihn allerdings herauszulösen, bedarf es eines hochrelativierenden Blicks auf die Moralsysteme, also auch auf uns selbst, die wir mindestens einem davon tief angehören. Die geforderte Relativität ist insofern auch eine des Ichs, also des Erzählers oder besser: der Erzählfigur – und sie führt abermals in die alte Fragestellung nach dem auktorialen oder subjektivistischen Erzähler zurück. Auch hier ist das Grundmodell ein nach Spiralenart ausgedrehter, vorantreibender Zirkel.

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2 thoughts on “Moral. Dritte Heidelberger Vorlesung (4). Aus den nächsten Skizzen der Fortsetzung.

  1. Ich finde, der sogenannte aufgeklärte westen ist doch noch ungleich schlimmer :
    nicht nur dass er mit brachialer miltitärgewalt in islamische gebiete eindringt, man
    findet ihn in seiner hochmoralischen präsenz doch nur da, wos was zu holen gibt,
    eingeschlossen strategisch bedeutsamer gebiete.
    DEN islami gibt es aber nicht, genausowenig wie DEN deutschen, por favor.
    Faschisten und auch christen versuchen ihren herrschaftsanpruch doch immer über einen effizienzgedanken zu legitimieren : wer die stärkeren waffen hat & wer fleissiger ist hätte demzufolge das recht, anderen was wegzunehmen.
    ( da machen die moslemi keinen unterschied )
    Woher aber effizienz wirklich kommt interessiert eigentlich keinen, konkurrenz ist
    asynchron und akzeptanz scheitert an materialität, selbst da wo die leute an ihrem
    überfluss ständig zu ersticken drohen.
    Globalisierung ist nichts anderes als das westliche gesellschaftsmodell aus der gesamten
    welt herauszulesen.
    Hätten wir keine leute aus dem migrationsfenster hier, wären wir garantiert nicht
    homogener, vielleicht nur noch etwas verlogener.

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