Schwebende Bäume. Weihnachtsjournal 2, 2011. Irreversibilität ODER Nie mehr gutmachen können.

9.23 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bach, BWV 831, Courante. Koroliev.]

Das Geheimnis des Baums, wie zu schmücken er, mir ein Erbe, s e i: in die Tiefe. Beginnend vom Stamm her, um den sich, n u r dort, eine glimmende Lichterkette winden darf, müssen sich Geschichten erzählen, kleiner Figuren, halbversteckter Türen, Eingänge in andere Reiche, Schätze, Drachen & Zwerge, nie sofort sichtbar, weil immer halb oder zweidrittels in den Schatten des Gezweiges verborgen, fragmentierte Lebkuchenhäuschen, was immer der märchenhaften Fantasie einfällt, heidnisch meist, nur selten mal ein Engel; und später, wichtig: nur wenige Kunstkugeln, alles andere Gebäck und Frucht. Als erstes werden die schweren Äpfel gehängt, dann die schweren Lebuchen mit der Schokolade, Zimtstangen auch, Nüsse; und es gibt keine künstliche Spitze des Baums, sondern oben sind Tannenzapfen angebracht, direkt am Stamm, selbstverständlich, so etwas hängt nicht einfach herum, und überhaupt, bevor man hängt, werden die Zweige mit Lebkuchen bestückt und mit weiteren Figuren, so daß sich Täler, das heißt: Ebenen ergeben volle Schütten und süßester Verwehungen, die perspektivisch immer weiter in die Tiefe weisen, in die es Blicke, rutschende, lockt. Alles ist immer mehr, als der erste Blick uns sagt, sehr v i e l mehr: überall Versprechen, naive Utopie und doch auch Ambivalenz, indem der Schauer bleibt vertreten, muß vertreten bleiben: Schleier, die sich nicht gänzlich heben, Ahnungen, Lockungen. Wenn wir dann soweit sind, daß wir hängen können, vorbereitet in Stunden: jedes Teilchen eingefädelt, man glaubt nicht, was so ein Baum schluckt – auch Gefräßigkeit gehört zur Ambivalenz, müssen wir noch ganz besonders sorgsam werden: kein hängendes Gebilde, sei es Lebkuchen, Apfel, Spekulatius, darf, wenn es hängt, irgendetwas berühren; ein jedes muß ganz frei den leichten Luftzügen ausgesetzt sein, die durch die Wohnung gehen, allein, wenn man sich bewegt, und von ihnen bewegt werden können. Nunmehr die Glaskugeln, auch sie völlig frei und möglichst ihre Hängung gar nicht sichtbar, weshalb für jede Hängung wichtig ist, welchen Zwirn man nimmt und wo: er darf nicht mit den Hintergründen kontrastieren, sondern muß mit ihnen verschmelzen.
Meist nach fünf oder sechs Stunden sorgfältigster Arbeit, die eher als ihr einer schmückenden Liebkosung gleicht, ist es soweit, daß die Kerzenhalter befestigt werden können: von oben bis unten herab: man braucht schon da die genaue Vorstellung von Licht- und Schattenwurf, und erst zum Schluß kommt das Lametta: immer einzelne Fäden, nie, auf keinen Fall, niemals, geklumpt, sondern nur als weitere Schimmergeber. Wenn man Kinder hat, ist das schwierig durchzusetzen, ebenso, wie daß nirgends etwas Hängendes aufliegt und Hängendes nicht zu nahe aneinanderhängt: Kinder wollen‘s meistens dick und bunt; die Fülle muß sich aber anders herstellen als durch Ballung. So viel in einem solchen Baum auch ist, und es ist jedesmal s e h r viel, muß doch der Eindruck sein, daß jedes, wirklich jedes Teilchen ein Erwähltes ist.
Wenn dann, später, die Kerzendochte entzündet werden, fängt der Baum zu leben eigentlich erst an. Denn die freien Gebilde bewegen sich, wie wenn sie schwebten, und es geht in dem Baum nun dauernd etwas vor. Immer wieder verliert sich der Blick in abgewendete Wege, immer wieder erstaunt ihn ein neuer Glanz von irgendwo her, wir vergaßen ja fast, daß wir‘s selbst arrangiert. Solche Bäume wachsen dann auch mit den Tagen, sie füllen sich von sich selbst auf, als hätten die Teilchen begonnen, sich zu erkennen, und spielten nun miteinander. Dazu beginnt er, selbstverständlich, mehr und mehr zu duften, und diese Düfte mischen sich.
So wurde mir irgendwann, als mein Vater noch da war, also ganz sicher vor meinem vierten Lebensjahr, die Kunst vermittelt, daß ein Baum zu schmücken sei, und so gebe ich es meinen Kindern weiter.

Es ist selbstverständlich ein solcher Baum nicht wirklich abbildbar, allein, weil der Fotografie die Beweglichkeit fehlt; hingegen sie, wiederum, für einen Film zu gering ist: Schwingungen nur, die allein versunkener Betrachtung sich öffnen; dieses genau ist es, was solche Bäume Heiligtümern ähnlich macht, die allein aus diesem Grund nicht fotografiert werden sollten: denn ihr Wesen verschwindet in ihnen, und so werden sie profan. Aber wir bekommen, vielleicht, eine Ahnung.

[Bach, BWV 805, Duett a-moll, welches
die tragische Tonart. Korovliev.]
Über Einsamkeit aber… darüber spreche ich nicht: Irreversibilität. Sondern radele hinüber, gleich. Muß mich jetzt nur noch kleiden: in Anzug und in Haltung.

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