Tokyo-Mita 2000.

Wie der Dichter vorm Bildschirm sitzt, nach Deutschland korrespondieren will, abends auf seinem Röhrenzimmer, wie er seinen Account öffnet, und wie der sich nicht öffnen l ä ß t. Die in ihm abgespeicherten Briefe niemals anderswo gespeichert, es mögen fünfhundert, vielleicht tausend gewesen sein. Vollgepackt mit Anhängen, aus den poetischen Dateien in die Korrespondenzen kopiert oder an sie angehängt. Wie er an gmx eine Hilfemail schickt und von gmx nie wieder hört. Ein kleiner Schuß Verzweiflung, ein Aufschrei… so hatte er fünfzehn Jahre vorher auch schon reagiert, als ihm sein erster Computer zusammenbrach und mitriß ins Vergessen, was an Entwürfen, an durchlaufendem Text gespeichert (aber nie „ge-back-upt“) worden war, nahezu die komplette Erste Abteilung des Wolpertinger-Romans, Hunderte Skizzennotate… es gab keine Rettung. Dasselbe jetzt mit den Emails. Welche wären wichtig gewesen? Welche hätte er ausdrucken müssen? Das Schulterzucken nun, und wieder geht der Mann an den poetischen Garten und pflanzt neu, was die orkanhafte, doch stille Cyberhose hinwegblies. Und wirklich: Nicht eine Mail wurde später vermißt, so daß ein Verdacht sich formte und als Stilles Wissen erhaltenblieb – ein Weißen Rauschen ganz hinten im Kopf: Meist ist, was wir wir sagen, was wir schreiben, in die Leere geschrieben und für die Leere gesprochen, und fehlende Leere tut nicht weh. Das ist kein trüber Gedanke, denn als die Mails ihre Empfänger erreichten, da waren sie noch voll. Sie sind nur wie Welt. Und vergehen.
Seit ich am Computer arbeite, zumal im Netz, bin ich, wie niemals zuvor, mit der Vergänglichkeit beschäftigt, auch wenn das Ziel des Mediums gerade binär gepökeltes Leben ist. Die Einweckgläser der Information. Und so wurde klar, daß der zweite Anderswelt-Band, den der Computer als Medium der Wahrnehmung leitet, auch vom Vergessen handeln mußte, von unmittelbar am Cafétisch Verschwindendem, das vielleicht anderswo wieder auftauchen würde – denn wer weiß, wer im kybernetischen All statt der seinen nun m e i n e Emails vorfand, verstümmelte, sicher, aber so rätselhaft-schön wie Fossilien, so voll von dem dunklen strohigfernen Duft eines vergangenen, noch mit Körper behafteten Mooses. Es ist ja nicht wahr, daß Emails keine Gerüche hätten; wer hätte früher von der fernen Geliebten einen Brief bekommen, der am Morgen nur eben mal leise rief: „Ich küsse Dich, Lieber, schnell“? Und wo wäre vorher geschehen, daß eine so etwas schreibt, die man real noch nie sah? Die Geste ist zur Erhaltung gar nicht gedacht; konserviert wird sie schal. Sie ist eben Geste, manche Email will nur momentlang im Raum stehn. Eben. Wie ein Geruch.
Dieser Gedanke spendete nicht Trost, nein, sondern Mut. Nun also erst recht weitermachen! Denn die Email setzte Zeiten und Räume außer Kraft, die entferntesten Freunde waren unmittelbar erreichbar, sofern sie online waren. Heute kann man sie auch sehen: Kleine lächelnde Avatare, die sich in einem imaginären Zwischenraum per Webcam realisieren. (Ich entsinne mich anfangs meiner Hilflosigkeit, weil so viele noch nicht mitmachen wollten, weil sie sich den Neuerungen verweigerten, so daß ich fühlte, dieses Instrument in meinen Händen dreht sich zwar, und sehr schnell, aber vergebens. Doch alle, fast alle, zogen nach – die Menschen brauchten sehr lange, um sich darauf einzustellen, daß ihre Weltauffassung draußen hinwegglitt. Die Entfernung von Berlin nach Bombay beträgt acht Stunden, für das Internet gibt es sie nicht. Die Email war der Pony Expreß der Globalisierung. Und die meisten ihrer ersten Reiter waren – wie damals – nicht älter als zwanzig.)
Nun ist die Email nicht das Medium, große künstlerische Ideen zu gestalten, aber sie gab doch das Tempo vor und drehte die Gedanken. Längst ist ihr, was die Schnelligkeit anbelangt, ein jeder Chat voraus, der sie allerdings auch im Vergessen überholt: Sind erhaltene Email-Accounts nach einigen Monaten, sofern man sie nicht straff organisiert, wie die Hunderte Seiten eines als zerfledernder Stoß zu Boden gefallenen Manuskripts durcheinandergeraten – die Mühe, sie zu ordnen, wäre größer als jede neue WiederErfindung -, so ist, was in den Chat gesprochen wird, geradezu im Nu vorüber. Emails dienen der unmittelbaren, doch immerhin, so man sie ausdruckt oder anderswie versteint, bleibenden Korrespondenz, es sind Praktikabilitäten, die sich verwalten lassen. Einige aber behalten den Wert eines Fundstücks bei und schillern. In den Brocken Einschlüsse, Kristall. Die werden mühelos in den durchlaufenden Romantext kopiert. Und schon da, wie im Chat, ist zu erleben, wie fremd die Sprache wurde, die plötzlich mit Objektivierungen arbeitet, wie sie von Kleinkindern angewandt werden. Eigentlich verbal ein Regreß, ist es scharfes Indiz für eine neue, sich unabweisbar erhebende Kultur, die die alte wo nicht verdrängt, so doch ihr die Bedeutung bestreitet; es ist nicht jeder dumm, der in diese Verwandlung, die eine Sprachverwandlung ist, gerät. Ganz im Gegenteil. Und schon wird versucht, die neue, gegen Eleganz sperrige Idiomatik, der übrigens die der SMS ziemlich entspricht, für die Dichtung gangbar zu machen. Die W e b l o g s entstanden, siebenachtel von ihnen privatester Klatsch, doch selbst das legt Finger auf die Schnittstellen zwischen getippt-gesprochenem und getippt-geschriebenem, also bewußt gestaltetem Wort. „Digital“ h e i ß t ja „fingernd“. Auch i h r Anfang, ganz sicher, war die Email, die heute beim Geschäftsverkehr abgesattelt hat, worin sie sich wahrscheinlich bleibend möbliert, da sie die schnelle, nachweisbare Bestellung erlaubt. Aber auch – eine kybernetische Padmische Hymne – fremdgeht: Liebesbriefe werden von Sizilien nach Deutschland geschickt, mal eine kleine Notiz, auf die sogleich eine andre zurückkommt, bis über die Ohren ist man vollgeschüttet mit Lärm und dem Geruch nach Bier und Zigaretten im Internet Point und hält, Palermo November 2003, Innengespräche, in der die Stimme der Frau leise lacht, unweit des Massimo-Theaters, wo ich dann las:

„Sitze hier und bin ergriffen, die Hitze verbrennt mir fast die Haut.“

Das schnelle Spiel sofort, in den nächstbesten Chatraum zu kommen, die italienischen Programme wolln aber nicht, „nehmen Sie den andren Computer“, doch der hat Java nicht installiert, so gehen wieder Emails her und hin und zu allem SMS’ und darin einmal ein Aufschrei von früher, aus einer Realzeit, die sich fast schon vergaß:

„MIR IST DAS ZU SCHRILL/SCHRÄG/VERFÄLSCHT. ICH WILL DICH!“

[Westdeutscher Rundfunk, “Resonanzen”, am 5. August 2004.]

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