Zeit ohne Ufer. Über Thomas Pynchons Against the Day, “Gegen den Tag“.

[Geschrieben für den Freitag und
dort am 16. Mai 2008 veröffentlicht.]

“Sie fliegen der Gnade entgegen.”

 

Es gibt Bücher, deren Lektüre nicht unbedingt klüger, uns indessen größer macht. Ada or Ardor gehört dazu. Daß Nabokov Pynchons Lehrer gewesen, die Emphase dieser Legende ist mit GEGEN DEN TAG in die Verwirklichung geschrieben; niemand kann jetzt mehr Zweifel haben. Zwar ist „der ganze Pynchon“ nach wie vor da mit Entro­pie und Dekonstruktivismus und von Verschwörungstheorien so voll wie von der düstersten Zivilisationskritik – ja einem Zivilisationspessimismus, der defätistisch wirkte, wäre er in seinen Spielen und Ideen nicht so atemberaubend verrückt — — > ABER: ein Ton von Einfühlung, von Menschlichkeit und Mitleid klingt jetzt hinzu, den die eingeschworenen Pynchonleser so nicht kannten. Es werden Menschen erzählt, nicht länger Figuren. Daß sich das in dieses Werk organisch hineinfügt, ist allein schon ein Grund zur Achtung; doch nimmt sie das Ausmaß poetischer Demut an, weil man eben nicht auf Distanz gehalten, sondern in Nähe gebracht wird. Wobei das auch aus seinen Vorgängern deutlich einen Zyklus macht. GEGEN DEN TAG schließt die historische Erzähllücke zwischen MASON & DICKSON und V., das seinerseits in GRAVITY’S RAINBOW die grandiose Fortsetzung fand.

Man kann von GEGEN DEN TAG nicht lassen. Weder von den Verhäng­nissen und Verfallenheiten noch dem „einfachen“ Menschenglück und so wenig von den „einfachen“ Leiden wie den verwickelten Räuschen der höheren Mathematik, die nicht nur am Anfang der modernen Massenvernichtungswaffen gestanden haben, sondern der industrietechnischen Zivilisation an sich. Es sind ero­tische Verwicklungen auch, und zwar perverse. Auch das haben bereits V. und GRAVITY’S RAINBOW durchdekliniert. Pornographie findet hier ihren Grund: in der Entfremdung. Rein magisch wäre es anzunehmen, schaffte Pornographie sich ab, heilten die Verhängnisse auch; wahrscheinlich würden sie schlimmer. So daß wir Sätze wie „Die politische Krise in Europa korrespondiert mit der Krise in der Mathematik“ gleichberechtigt neben den Jauchzern der schönen Domina Yash­meen vernehmen: „Du hast mein Herz gegessen!“

GEGEN DEN TAG ist beides, ist Phantasti­schen Literatur ebenso wie intensiv und einfühlsam realistisch. Erzählt werden einerseits bittere Kapitel US-amerikanischer Geschichte und andererseits der Umbruch, der das Abendland in die Krisen und Kriege hineinfahren ließ, die der kapitalmodernen Weltwirtschaft den Boden durchkultivierten – Kultivierung im alten Agrarsinn verstanden: inklusive barbarischer Rodung, antihumaner Radi­kalität und sowieso existentiellem Raubbau. Dies steht in Pynchons Blickfeld seit langem; neu hinzugekommen ist die Rolle des Individuums, dessen Ökonomien es mitzutun zwingt – ein Weg hinaus führt nur in die Luft … gäb es denn den Äther, auf dessen Wellen die Aero­nautinnen reiten, nicht in Maschinen, sondern vermittels „perfekt gearbeiteter, ellipti­scher Federn“, körperlich also, und hybrid. In ihrer phantastischen Gegenwelt versprechen sie der Adoleszenz Erlösung und Gnade – man wird eben doch erwachsen und die ZWEI JAHRE FERIEN gehen vorbei, auf die sich Pynchon wie auf ROBUR bezieht, den Eroberer. Obwohl man es wird.

Über die Verzweiflungen, das Elend und eine durchaus machiavell-politische Lust hat Thomas Pynchon ein Sonnendach gespannt, das zur Spielzeit des Romans noch ernstlich vagierenden Theorien des Weltäthers, der Hohlerde usw. sowie utopischen Orten wie Shambhala oder dem mosaischen Shekhinah abgezogen ist und anderer­seits auf bisweilen urkomische Weise mit den technischen Fantasien, ecco, Jules Vernes spielt, was gelegentlich zu einem etwas zopfigen Witz führt, wenn sich das Sprachpar­odistische allzu vorschiebt. Es mag dies an der Übersetzung liegen; an­ders als jene Kritiker, die bereits das amerikanischsprachige Original im deutschen Feuilleton besprachen, trau ich mir Überprüfung nicht zu, da schon US-amerikanische Muttersprachler die besonderen (Verständnis-)Probleme beklagten, vor die sie Pynchons imitative Sprachlust gestellt. Lieber häng ich an Sätzen, wie sie Nikolaus Stingl und Dirk van Gusteren uns übertragen und die neben einer gehörigen Portion Derbheit von oft anrührender Zärtlichkeit sind:

Brias Grinsen erinnerte Dally so sehr an die junge Schelmin von früher, dass sie ebenfalls lächelte, und im nächsten Augenblick hatten sie die Stirnen aneinandergelegt, lose Haarsträhnen verflochten sich, ihre dritten Augen berührten einander, und beide lach­ten leise, ohne dass sie hätten sagen können, warum.

Von solch intimen Momenten ist dieses Buch so voll wie von politischen Einlassun­gen, deren Eindeutigkeit zu wünschen gar nichts übrig läßt. „Der Nationalgedanke ist auf den Krieg angewiesen“ etwa, aber auch schon, daß Pynchon die Widerstands­kämpfe verelendender Bergbauarbeiter in Colorado als Geschichte eines USA-eignen Terrorismus erzählt und damit selbstverständlich allerjüngste Ereignisse kommentiert, gehört in den Nexus. Wobei gerade die Buben-utopischen Partien der „Freunde der Fährnis“ als Bindeglieder der auslaufenden europäischen Hegemonie mit dem in Fahrt kommenden US-Kapitalismus („ohne Schamgrund und -sensorium“) fungieren und die mythischen Tiefen des Abendlands gegen das „taghelle Amerika mit seiner Leugnung der Nacht“ spielen lassen. Wer auf kulturelle Tiefen zusteuert, landet immer – zumal über den Balkan – mitten im Orient, und zwar auch dann, wenn das Luftschiff erst hoch hinauf und in arktische Gefilde steigt, wobei man Gefahr läuft, neben Edgar Poes GORDON PYM zu landen, bzw. in seiner Fort­schreibung als EISSPHINX durch Verne. Pynchons grandiose Erfindung eines Unter­wüstenschiffes mitsamt seinem Tauchgang in den Tiefsand hätte dem französischen Technikphantasten ja nun zu allen Ehren gereicht, wenn Pynchon sie auch entschie­den um ein Unheimliches chthonisch bindet, das schon in V. und GRAVITY’S RAINBOW immer wieder durchbrach: auch „Gegen den Tag“ ist „eine Reise (…) ins Herz unserer eigenen Geschichte.“

Es ist davon gesprochen worden, Pynchon konstruiere nicht eigentlich, sondern füge den einzelnen Erzählsträngen immer wieder neue und aberneue hinzu. Das ist genau so wenig wahr, wie daß dieses Buch „schwer zu lesen“ sei. Geradezu das Gegenteil ist der Fall. Schon was die Form anbelangt, führt Pynchon aber auch jedes Motiv mit den anderen Motiven zusammen und schließt die Handlungsfolgen nahezu klassisch ab; wie er dabei die fernsten Sujets ineinanderzuspiegeln versteht, ist wun­derbar. Immer wieder blickt man aus diesen 1600 Seiten benommen hervor und hat Schleier des Glücks vor Augen – und des Entsetzens, die seine Zahl ist. Daß solche Emp­fängnis Zeit braucht, Lese- und Imaginationszeit, darob muß weiß Göttin niemand rechten. Was, schrieb Nietzsche, sei an einem Buch gelegen, daß einen nicht einmal über alle Bücher hinwegträgt? Dieses trägt einen oft über alle hinweg – dorthin nämlich, wo nur noch wenig andere stehen. ADA zum Beispiel. Und das Verlangen. Nabokov → zu lesen.

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ANH, April 2008
Berlin

(Siehe hierzu → die Folge da.)

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