Zusammenhangsdurchstoßung. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, den 16. November 2017, das von den Geschlechtern der Dichtungen spricht.


[Arbeitswohnung, 7.50 Uhr]

Es wurde gestern, Freundin, nicht gar so spät, spät ward es halt aber doch. So kam ich um halb sieben erst hoch. Der Freund möcht‛ seinen Aufenthalt noch um eine Woche verlängern; da ich, wie Sie gut, ach so gut wissen, nur ein einziges Zimmer habe, bedeutet sein Entschluß, daß ich weiterhin meinen gewohnten Arbeitsabläufen nicht strikt genug nachkommen kann, um nicht ein schlechtes Gewissen zu haben. Nur ein Zimmer mehr, und es wäre anders; er schläft ja hier auf dem am Boden vor dem Mitteltisch aufgeschlagenen Vulkanlager; stehe ich in der Frühe auf und schalte das Licht an, weck ich ihn mit – erst recht, wenn ich für den Latte macchiato das Küchenlicht angehen lasse. Es fällt ihm dann voll aufs Gesicht. Ist er aber wach, dann wird halt gesprochen, während ich in meinen Gedanken still verfangen bleiben will und, um mich auf die Gleise meiner Arbeitspläne zu schieben, auch muß, und um dann schwungvoll loszurollen. Manchmal schwingt auch ein Traum nach, der sich als Pforte nutzen ließe oder gar eine ganze neue Erzählung eröffnet. Wenn Sie da noch drin sind und sagen aber selbst nur: „Ich brauche noch einen Moment für mich”, ist er weg.
Andererseits, wieviele Millionen Menschen leben genau so, anderswo? Unser „westlicher” Anspruch auf Raum ist gegenüber ihnen von enormem Luxus, ja Anspruch ist Ansprüchlichkeit – zumal ich mein gestriges Pensum tatsächlich übererfüllt habe, sogar mit der Thetis-Überarbeitung liege ich wieder im Zeitschnitt. Also ging ich sehr beruhigt in den Abend, wir aßen, wir tranken, wir lasen vor, es war schon in den Nächten zuvor die Idee eines neuen Buches durch den Humus gebrochen, und das Pflänzchen hat schon immer mehr Blätter bekommen. Eine Reihe dieser Texte war über die fiktionäre Website zugänglich, quasi meinem öffentlichen Archiv; die wurde nun aber vom Netz genommen, weil der Hoster aufgab. Für Sie, liebste Freundin, ist das nun alles verloren. Deshalb werde ich die Texte nach und nach hier einstellen, und dann eben wird es, wie‛s aussieht, auch ein Buch davon geben. Der Freund ist ganz berauscht von ihnen. Kleine Poetiken möchte ich‛s nennen – ganz wie die Sendereihe hieß, die ich seinerzeit für den NDR konzipiert hatte und auch füllte. Und heute also, fünfzehn Jahre später, >>>> dort die erste dieser kabinettstückhaften poetischen, sagen wir, Betrachtungen.

Die Berauschung des Freundes tut mir gut, und so ist‛s auch gut, daß er hierbleibt – nicht nur, weil sie mich selbst sammelt, sondern weil auch zusammenkommt, was in den Äther verdampfte. Wobei ich zugleich höchst ambivalent bin. Denn die Betonung meines Vermögens, über andere Dichterinnen und Dichter zu sprechen, legt sich, fühle ich, wie ein Schleier über mein eigenes Werk, auch wenn der Freund behauptet, diese Fähigkeit sei selten und nur bei denen zu finden, die ihrer Dichtung sicher sind. Das ist ein schöner Satz – ob wahr aber, bleibt dahingestellt. Tatsächlich ist es, dieses Vermögen, der Ausdruck einer Penetration, der erotischen Wahrnehmung nämlich, böse gesagt: abermals eines Sexismus, also des meinen, der in das Fremde eindringt und es, so oder so, überwältigt.
Benns Wort der Zusammenhangsdurchstoßung fällt mir sofort ein. Der harte Begriff ist völlig am Platz, auch wenn Verführung ein schönerer wäre, nur daß sie meinen Leser:innen geschieht, nicht der Dichtung. Sie wird, ob ich in sie eindringen dürfe, gar nicht gefragt. Der Zauber, der dann leuchtet, ist die Verschmelzung ihres Eies mit meinem Samen; auch er, der Zauber, fragt nicht. Selbst wenn mich die fremde Dichtung nicht will, empfangen tut sie d o c h.
Heikle Gedanken, Freundin, in einer heiklen Zeit. Denn ganz ohne Frage protokollieren die Berichte der ob faktisch genötigten, ob „nur” belästigten Frauen – der neue STERN gibt >>>> #metoo dreizehn (!) erschütternde Seiten – eine unerträgliche Verfaßtheit von Männern und einen so ekelhaften, machtbesessenen, über-, bisweilen im Wortsinn, -griffigen, nämlich betatschenden Dünkel, daß ich mich schämen muß, diesem Geschlecht anzugehören. Der, in der Tat, ist nicht zu ertragen.
Dennoch läßt sich Geschlecht nicht verleugnen; egal in welchen Rahmen: Ich nehme erotisch wahr. Auch erotisch, selbstverständlich, doch soll ich dieses, die Wahrheit, verschweigen, beginne ich, moralisch zu verdrängen und steck‛ schon im Sumpf der Doppelmoral. „Nein ist ein Nein” ist falsch. Es kann eines sein, selbstverständlich, kann aber auch „Jain” sein und sogar „Ja”. Was es ist oder sein wird, läßt sich nicht normativ bestimmen, sondern allein im Geschlechtsspiel, das allerdings den Regeln der Höflichkeit, des Stils und der gegenseitigen Achtung folgen muß. Sonst ist es kein Spiel mehr, kein lustvoller Kampf der Geschlechter, sondern ein asymmetrischer Krieg, den bislang all jene asymmetrisch führten, die sowieso schon die Kriegsgewalt hatten. Für Zwischentöne, wie Schnitzler sie nannte, gibt es bei diesen Männern keinen Platz, doch auch in den Regulationen nicht mehr, die den Unerträglichkeiten abhelfen sollen. In dieser Dialektik stecken wir fest, jedenfalls derzeit. „Im Hotelzimmer”, heißt es >>>> heute bei Ecker, „zog ich die Vorhänge zu, legte mich etwa eine halbe Stunde ins Bett und danach, erfrischt von dem Schläfchen, machte ich mich daran, das Mobiliar zu zertrümmern.
Sofort war ich geheilt.”

ANH

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