Sonntag, der 29. Januar 2006.

7.12 Uhr:
Gerade erst auf und sofort zum Wilhelm Muster gegriffen. Ich habe viel geträumt nach dem Weckerklingeln, dem ich mit Absicht nicht folgte. Der Inhalt des Traumes ist in seinen Grundzügen zu offensichtlich, um ihn in die >>>> TRAUMPROTOKOLLE zu stellen. Er ergibt keine Geschichte, sondern nur Fragmente. Etwa, ich bin zu Gast in einem Großen Hotel (dem aus Twin Peaks wahrscheinlich), komme in den Veranstaltungssaal, der Hotelier fängt mich ab, „Kommen Sie!“ und gibt mir eine große, rote herumklappbare Plakette, die sich am Revers befestigen läßt; ein Reflex, fällt mir jetzt ein, des roten Plakettchens, das ich – wie jeder Besucher (je nach der Ausstellung, die er besuchen will, ist die Farbe eine andere) – im Neuen Kunstmuseum Stuttgart bekam, wo ich den Vondergeld entdeckte. Dort ist es wirklich nur ein Plakettchen, hier ist es eine Art zweimal handgroßer Schild. Eine Nummer steht darauf (dreistellig, ich weiß nur noch die erste Ziffer: eine Neun). „Wozu das?“ frage ich. Der Hotelier, während er vergeblich bemüht ist, meine Plakette außen an meinem Jackett anzubringen (es hat keine Aufschläge und ist in der Mitte, wie ein indisches Anzug-Oberteil, bis zum schmalen Stehkragen zugeknöpft) – der Hotelier also antwortet: „Wegen des Konzertes. Sie wissen doch, Udo Lindenberg.“
Man hat den Saal eng bestuhlt, längs stehen Bänke, Bank an Bank, es sind Kirchenbänke, fällt mir jetzt auf: so knien die Leute später auch alle, als ich einmal, um meine Zigarren zu holen, wider Willen d o c h in den Saal hinaufgeh: weit weit vorne singt und tanzt eine Girlband, drei junge Frauen sind es, die ich kaum erkennen kann, so weit weg ist das alles. Aber die Musik ist natürlich zu hören, und die Leute, teils in Abendgarderoben, klatschen und schunkeln wie eine Gemeinde. Udo Lindenberg ist nicht zu sehen.
Ich öffne nun mein Jackett und bringe die Plakette innen an, dann knöpfe ich das Jackett wieder zu. Es ist mir wohl peinlich, sie zu tragen, sagen wir: Udo Lindenberg nicht zuzugeben (dessen Lieder ich, real, nicht ausstehen kann); man könnte aber auch sagen, daß ich meine Neigung zu seiner Musik verbergen will. Interessanter Gedanke, auch das wäre eine Deutung, daß ich hier selber heuchle. Sei’s drum. Der Hotelier ist’s zufrieden.
Bevor ich hoch zum Saal ging, saß ich auf einem Terrass’chen, wie es sie manchmal hinter kleinen Cafés gibt, an einem runden weißen Cafétisch. Bin im Gespräch; eine junge Dame ist dabei, die mir gefällt. Ah, ich erinnere mich an etwas Weiteres. Es liegt Schnee. Mein Junge hat eine Freundin gefunden, sie rodeln auf einer Bobbahn, die hoch vom Hotel bis hinunter über die Straße, der sich ein weiterer Hang anschließt, nein: eine Abschüssigkeit, dicht mit Bäumen und verschneiten, jetzt vereistem Gestrüpp bewachsen – sie rodeln also hinunter bis fast zum Fluß. Das Gestrüpp fängt sie allerdings immer auf, deshalb bin ich ganz ruhig. Die kleine Freundin jagt auf einer Popfanne abwärts, mein Junge wirft sich einfach in die Bahn und saust hinterher. Bis zu dem Cafétischchen ist der beiden Lachen und Johlen zu hören. Schnee stiebt um sie auf, wenn sie unten anlangen, ganze Wolken um die Gestrüppe und sie.
Ich komme mit der jungen Dame ins Gespräch. Ich bin an ihr interessiert. Einmal aber sage ich etwas, das ihr böse mißfällt. Es geht um die deutsche Vergangenheit, weiß ich noch, aber nicht, um was genau: um irgend einen Ausdruck, den man nicht mehr verwenden darf, weil er geschichtlich kontaminiert ist. Den ich dennoch verwende. „Das ist nationalsozialistische Ideologie“, wirft mir die junge Dame vor, ganz erhitzt, bitter erhitzt. Ich: „Verzeihen Sie, aber Sie bannen das Unheil doch nicht, wenn sie Wörter bannen Alles andere wäre Magie.“ „Es ist nicht erlaubt“, sagt sie, „es darf nicht erlaubt sein. Nie wieder. Ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben.“ Das ‚mehr’ ist interessant. Ich will darauf eingehen, aber merke, daß ich das Rauchzeug im Hotel vergessen habe. „Entschuldigen Sie mich einen Moment“, sage ich, „ich will nur etwas holen. Aber über sowas müssen wir sprechen.“ Damit gehe ich hinauf in den Udo-Lindenberg-Saal.
Am Eintritt wird nach der Plakette gefragt (nur Hotelgäste bekamen sie, alle anderen, aus dem Ort wahrscheinlich, müssen extra bezahlen). Ich öffne also wieder mein Jackett, muß erst etwas nesteln. Der Türsteher ist nervös, sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an. Ein Schrank. Das macht mich nur nervöser, aber ich schaff’s es dann doch.
Und das Offenbare: Ich habe Bücher von mir mitgebracht, zum Verkauf. Aber jemand kommt auf die Idee einer Versteigerung. Also sitzen siebenacht Leute, später, um einen Tisch und bieten. Schließlich kommt exakt der Preis heraus, den >>>> meine ebay-Aktion gestern abend erreicht hatte, als ich schlafen ging: 151 Euro. Das höchste Gebot hat ausgerechnet derjenige im Kreis abgegeben, der am wenigsten Geld, der eigentlich gar nichts hat. Er bekommt den Zuschlag. Und jetzt der Clou im Traum: Als ich die Preise addiere, die auf der Rückseite der Bücher stehen, kommt exakt das höchste Gebot heraus. Damit erwache ich und greife gleich zu Wilhelm Muster.

Wieder wird ein Tag ohne viel Arbeit vergehen, aber es war mein Wille. Ich guck gleich mal ein bißchen in ARGO, es zieht mich aber mehr nach dem Buch. Doch heute ist nun wirklich der Weihnachtsbaum abzuschmücken und auf die Straße zu werfen. Das Kinderzimmer muß aufgeräumt werden; ich schau auch eben, ob es heut früh ein Kinder- oder Jugendkonzert gibt, etwa im Konzerthaus, damit gegen alles star wars auch etwas anderes in meinen Jungen hineinwirkt. Und ich schau ein wenig, was die Freunde-im-Netzraum so umtreibt: > Else Buschheuer, > June, > parallalie und > synopsis sowie die literarischen Blogs von > litblogs.net. Dazu Filterkaffee, Zigaretten. Keine Musik. Mir ist jetzt nicht danach. Oder doch: Wenn mein Junge aufwacht, soll er sie hören. Adorno beschreibt einmal eine Kindheitserinnerung: Er mag fünf oder sechs gewesen sein und schlich sich spätabends oft hinunter, wo die Eltern Duo spielten, ich glaube Violine und Klavier, aber ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls habe sich der kleine Junge immer in den Türstock gehockt, unbemerkt, vielleicht von einem davorstehenden Sofa verborgen. Und so sei er dann immer eingeschlafen, so hätten ihn die Eltern oft gefunden, in der Heimat als Musik. Kinder müssen eine solche Sicherheit haben, ein inneres Zuhause, das ihnen lebenslang hält. Und das sie überall hin mittragen können. „Was ich habe, habe ich bei mir.“ (Die Musik ist an.)
Morgen, übrigens, wird mein Junge sechs. Ich will eine Rose für die Mama kaufen.

9.49 Uhr:

Sith Lord
10.53 Uhr:
Die Regel war immer: Der Baum, weil man ihn ehren will, bleibt geschmückt bis einen Tag vor meinem Geburtstag. Nun ist es der meines Sohnes. So bleibt er nun bis zum Frühling, an dem in ihm verbliebenen Äpfeln speisen die Vögel. Auch Meisenknödel werden hineingehängt. Auf dem kleinen Balkon von Katangas Zimmer. Organisch hinübergehen, als besonderer, getrennter Leib in den Leib der Erde, der wieder zu dem ALlen wird, das sie ist. So erkläre ich es meinem Jungen.

[Söhne und Väter.]

12.55 Uhr:
Anruf von Eisenhauer, der einen Artikel über ihn und mich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gelesen hat, geschrieben von Volker Weidermann. Ich werde am Abend, wenn der Junge wieder bei seiner Mama ist, darauf eingehen. Jetzt ist Kinderzeit. Das hat Vorrang.
[Später: Hab es >>>> getan.]

19.49 Uhr:
[Ein Mozart-Klavierkonzert im DänenNetzradio.]
Jessas, bei mir in den referrers ist vielleicht was los. WUMM macht’s, KNALL, das hat irgendwie keine Grenze mehr oben. (Wenn wir seinerzeit an der Börse auf Baisse spielen wollten, legten wir dem Kunden einen Chart vor, bei dem der Kurs schon oben am Papier a n s t i e ß, und dann sagten wir: „Gucken Sie mal! Das kann doch gar nicht mehr weiter! Da oben ist doch Schluß!“ So schwachsinnig das Argument auch war, der Kunde sah das ein und folgte. Nicht bei Prudential Bache, nein, aber vorher, als ich beim Optionsdrücker jobbte. Und wissen Sie was? Nicht selten gab uns die Entwicklung recht. Das war reine Chart-Astrologie, aber wenn viele dran glauben… tja. Es war reines Entertainment, auf Wahrheit kam es nicht an. Glauben Sie nur nicht, diese Kunden seien blöd gewesen. Ganz im Gegenteil. Meistens.)

Weiß nicht, ob ich noch rüber in die saukalte Arbeitswohnung radle oder nicht besser hierbleibe und mir alles besehe. Aber hier muß ich mich mit Whiskey betrinken, US-Whiskey, jou, schon das stört mich. Drüben jedoch, wo der Wein steht, ist es so kalt, und ich hab jetzt keine Lust darauf. Jetzt will ich beobachtend spielen.

Es war ein wundervoller Nachmittag mit meinem Jungen im Pippi-Langstrumpf-Museum. Dann kam die Mama gegen 18 Uhr und holte den Kleinen ab. Seltsame Nähe nach unserem Streit letzte Woche; ****** hatte Tränen in den Augen für einen Moment. Ich näherte mich nicht, blieb entfernt, sogar knapp. „Keine Sentimentalität“, dachte ich, „du weißt, wer du bist.“ Morgen sehen wir uns wieder, ich werde gegen vier/halbfünf bei den beiden zu Adrians Gebuttstag sein. Die Rose nehme ich mit; ohne diese Frau hätte ich dieses, von beiden, Liebeskind nicht. Und ich bereue nichts, im Gegenteil. Dieses Kind zu bekommen, und von ihr, war richtig – nein: i s t es… und ist unfaßbar herrlich. Was immer wir jetzt auch für einen Scheiß am Bein haben miteinander. Das spielt gar keine Rolle. Ich habe – und ich w i l l – dieses Kind. Ohne sie und diese Liebe wäre es nicht.