Donnerstag, der 9. Februar 2006.

4.51 Uhr:
Mit schweren Lidern hoch, aber hoch. Latte macchiato und den Kopf voller Verbeen (hab ich von ihm geträumt?) sitz ich am Schreibtisch, rauche die selbstgedrehte Morgenzigarette, ärger mich etwas über den Raucherhusten (es ist bald soweit, ich hör wieder auf) und beginne mit ARGO. Ratz Felix kraxelt auf mir rum – ich werd ihn zukünftig Ratzfelix nennen, „Ratte“ hat sowas Mißgünstiges; und n u r „Felix“ würde neue Leser irritiren: „W e r kraxelt da auf ihm rum, was m e i n t er?“ Er ist jetzt immer ganz aufgeregt, wenn ich ihn aus dem Bauer hole, das ist richtig deutlich; neuerdings, etwa gestern abend, um die DVD zu besorgen, nehm ich ihn auch mit mir hinaus. Jetzt zerfetzt er ein benutztes Papiertaschentuch auf meinem Schoß. Ähm, konzentrier dich, Herbst! (Jaja, zu mir selbst sag ich du; ich muß das ja von Netzgesprächen unterscheiden, denn beide sind im Kopf). – Also, ARGO.
(Von ****** hab ich auch geträumt, übrigens. Aber nur ein Telefonat, das von vorgestern; ich führte es im Traum teilweise wortidentisch noch einmal.)
[Das DTs muß ich eben noch schreiben.]

9.03 Uhr:
Eigentlich unfaßbar, wie gut ARGO läuft. Drei einzeilige Typoskriptseiten geschrieben, es könnten nach noch ein paar Zeilen, die ich ohnedies in den Fingern habe, noch vier werden. Die schriebe ich auch gerne noch. Aber mein DTs will, daß ich jetzt zu VERBEEN übergehe. Und an selbstaufgestellte Regeln sollte man sich halten.
Es kam eine lange Email von >>>> EA Richter, der sich offenbar in ARGO hineinfressen will. „Mich interessiert der Prozeß des Eindringens ins Fremde, die Ein- und Anpassung“, schreibt er. „Ich kann Ihnen – auf Wunsch oder auch in Eigeninitiative – Fiktionspartikel aus den verschiedenen Lebensphasen liefern, wenn ich aufgrund der Lektüre einen – zumindest groben – Begriff des ARGO-Projekts bekommen habe.“ Das geht also sehr viel weiter, als eine ‚Nebenfigur’ imgrunde verlangt. Aber es ist sehr schön: eine Romanfigur, die mitarbeitet, ähnlich wie seinerzeit Brem, über dessen Einfluß das Kehl-Motiv in ARGO sehr gestaltet worden und der dafür einer d e r Handlungsträger in dem Roman geworden ist. Es ist sehr schade, mit Nachdruck bemerkt, daß er sich zurückgezogen hat. Er schrieb mir in einer wegen der http://web.de-Sperre wahrscheinlich verlorenen Mail, zwar schätze er meine literarische Arbeit nach wie vor hoch, aber einige meiner Meinungen – er meinte wohl soziale oder auch meinen Umgang mit Frauen – ließen ihn sich von mir distanzieren. Ich versuchte noch einzulenken, aber er schweigt seither. Nur im Roman, und da intensiv, spricht er weiter zu mir.

11.04 Uhr:
Mich erreicht die Mail Ralph K.’s, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ob ich noch daran dächte, daß wir heute mittag zum Essen verabredet seien. In der Tat hatte ich das vergessen. Ich schreib zurück, dann revidiere ich mein DTs, vorverlege den Mittagsschlaf, aber während ich zur Videothek spaziere, wird mir klar, das geht so nicht. Essen zu gehen (ich bin eingeladen), ist ein Luxus, und Luxus darf nie auf Kosten der Arbeit gehen. Also streiche ich den heutigen Mittagsschlaf, auch wenn mir sehr nach ihm ist, und gehe dafür abends eine Stunde früher zu Bett. Nach 20 Uhr kann ich eh immer nur sehr schlecht arbeiten, der T a g ist meine Zeit, und gerade jetzt, wo auch VERBEEN wieder so strömt und mir fast schwerelos von der Hand geht, will ich nicht schludern.
Und während ich die DVD von gestern abend wegbringen gehe (vor elf, damit ich nicht doppelte Leihgebühr zahlen muß), hängt an der Prenzlauer Allee ein süßer Geruch in der kühlen Berliner Luft, und ich habe das unmittelbare Gefühl, eine italienische Bar, also ein Café, betreten zu haben, eine plötzliche, glückhafte römische Imagination. Der Duft hält sich von der Videothek bis zur S-Bahn-Brücke, erhält sich auch weiter – nur entdecke ich einen abgestellten Hänger, der als Frittierbude für Quarkkeulchen dient. Sofort ist der ganze Zauber dahin.

(Zu den Emails:Ich beantworte sie fast immer sofort, bisweilen ohne „Sehr geehrter Herr“ oder „Lieber Herr“, sondern direkt aus dem Gedanken heraus, wie ein Gespräch – als wäre alles, mein Text, meine Dschungeleinträge, die (Göttinseidank seltenen, ich telefoniere nicht gern) Telefonate und auch die Emails, – als wäre alles ein einziger Gedankenstrom.)

20.45 Uhr:
[Brahms, Doppelkonzert. DänenNetzRadio.]
Bin erschreckend abgespannt, habe aber auch ernorm viel geschafft. Zu den drei ARGO-Seiten kamen jetzt noch fünf an VERBEEN, dabei hatte ich den Kleinen ab vier und war bis fast halb drei mit Ralph K. essen, der mich mit dem Jaguar abholte und mir dann anbot, meine Flatrate zu bezahlen, wenn ich ihm bisweilen etwas für seine Website schriebe. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das ein gutes Angebot ist, aber ich warte erst einmal ab.
Vom Besetzungsbüro des Deutschlandradios kam eine Email mit Sprechervorschlägen für SAN MICHELE. Jetzt muß ich das durchtelefonieren, ich hab auch schon ein wenig nach den Namen im Internet herumgesurft. Praktisch ist das: zwei der drei vorgeschlagenen Sprecherinnen haben auf der Website ihrer Agenturen Tonbeispiele. Die mir am professionellsten vorkommt, spricht auch so; mir zu glatt. Aber das wird ja immer von Produzenten erwartet, was sollen sie also tun? Vielleicht täusche ich mich also. Zwei der Damen, die anderen beiden, hab ich schon vergeblich anzurufen versucht. Das ist natürlich irre: Schauspielerinnen, insbesondere wenn sie von Bühnen gefragt sind, arbeiten abends. Wann ruf ich also an? Morgens schlafen sie aus Göttinseidank, so stört das meine eigene Arbeit nicht. Also mittags am besten. Dabei muß ich sehr aufpassen, denn ich lasse mich von den Bildern dieser Frauen leiten, die sich auf den Agenturseiten finden. Das ist professioneller Unsinn, es geht doch rein um den T o n. Und die Frauenstimme ist mir hier sehr sehr wichtig: sie soll hell sein, aber auch Tiefe haben, sie soll erotisch locken, aber eben auch mal zickig, vor allem spöttisch sein können; sie muß G e h e i m n i s haben. Imgrunde habe ich diese Rolle für meinen Jungen geschrieben, der vor anderthalb Jahren sagte, als er die Villa San Michele erstmals betrat, um „Papas Freundin“ kennenzulernen (nämlich die rote marmorne Sphinx, aber das wußte er nicht): “Papa, hier hat eine F e e gelebt.“ Ich habe, um das klar zu formulieren, eine Feenrolle geschrieben. Das muß diese Stimme jetzt tragen. Die anderen vier sind Männer, einen Part übernehme eventuell ich selbst. Hier kommt es auf die Verteilung der Tonhöhen an; es gibt keine festdefinierte Rolle, sondern die „Rollen“ wandern durch die verschiedenen Sprecher; ein Verfahren, das ich bereits im Pynchon- und Pirandello-Stück angewandt habe und das eigentlich aus dem WOLPERTINGER stammt und sich in der ANDERSWELT-Trilogie fortsetzt.

Nun sitz ich in Gedanken also gleich an d r e i großen Stücken, darunter zweien für den Funk, wobei die eine Aufgabe restlos neu für mich ist: die Sprecher selbst zusammensuchen, mich um sämtliche Termine und Töne kümmern und keinen zu haben, der supervidiert. Dafür bin ich erstaunlich gelassen. Aber eben auch abgespannt jetzt. Nebenbei führe ich mit einer Leserin, die auch i ch lese, eine Art Lektoratsgespräch per mail. Es geht so enorm viel in meinem Kopf gleichzeitig vor. Imgrunde hat jemand wie ich gar keine Zeit für die Liebe, die einen dennoch in den Händen hält: wobei die eine Hand streichelt und die andere zwar auch, aber sie hat die Haut von Haien. Und die Vermissung legt sich oben darauf, als hätte man nichts anderes zu empfinden. (Das ist natürlich ein Trugschluß: an der Kraft, mit der jemand vermißt, zeigen sich auch die Kraft des Begehrens und die Macht der, wenn sie denn aufschießt, Erfüllung. Ich verwende die Vokabeln bewußt, liebe Leser: Benjamin spricht von der W a h r h e i t, die aufschieße – und schon vorbei sei. Woran wir also letztlich leiden, das ist die Dauer, und zwar wenn sie fehlt und – wenn sie d a ist.)