Freitag, der 19. August 2005.

5.55 Uhr:

Na d a s war ne Nacht! Jeder, aber auch jeder, der’s versucht hat, und zwar von Berlin über Buenos Aires nach Brasilia nach Houston nach NYC nach Roma nach Wien nach Köln nach Frankfurt am Main und von dort aus nach Berlin zurück, kam gestern nacht auf Die Dschungel und konnte auch posten, wenn ihm oder ihr der Sinn danach stand – ich hingegen nicht. Nutzte nichts, den Computer rauf- und runterzufahren,auch nicht, ihn zu schütteln, ihm gut zuzureden schon gar nicht, vielleicht hätt ich’s mit abduschen versuchen sollen, egal – seit heute früh kann ich mich da anstandslos melden. Eb schickte eine leicht pikierte Mail: Wieso werde der Absender ihres Kommentars als eb (anonym) bezeichnet? Je nun, ich konnte nicht helfen, da man mich ja nicht einmal nachschauen ließ. Heute morgen les ich den Kommentar und muß lachen. Außerdem hat das „anonym“ einen ziemlichen Witz, wenn zugleich in der Statuszeile der Absender erscheint und auch der Link funktioniert… Was mich hingegen gefreut hat, das ist, daß EvL wieder schrieb; sie sei gestürzt, erklärt sie ihr Schweigen, beide Hände verstaucht, und die Ohren… nun ja, das verstehe nun wieder s i e nicht recht, die hätten den Tag über irgendwie nicht funktioniert. Allerdings gezielt nicht. Ich verstand den Wink und schwieg. Jdenfalls ist sie mir nicht mehr g a n z so böse. Seitdem, offenbar, kann sie auch wieder tippen. Nehme ich an. Aber hab das nicht geantwortet, damit nicht gleich wieder die Seele schäumt und sie den Deckel abermals über sich zuklappen muß, damit nicht irgendwelche Leute ertrinken, die mit der ganzen Sache… ähm, dem Grund, also mir…. nichts zu tun haben.

Wird heute früh nichts mit der Morgenarbeit, bin ja jetzt Sohn eines Schulkinds, muß den Kleinen also un halb sieben wecken, ihm sein Müsli geben und das Frühstücksbrot schmieren, Obst beilegen und den Joghurt, dazu einen Löffel; dann ihn zur Schule bringen, wo die Eltern offenbar immer noch ein Viertelstündchen mit den anderen Eltern und der Lehrerin plaudern (ich möcht mich von denen lieber fernhalten, soll seine Mama das tun; ich krieg zu schnell nen schlechten Ruf). Gut, aber etwa ab halb neun kann ich dann endlich was tun.

19.02 Uhr:

Nach einem völlig sinnlos durchchatteten Tag, der meinem mich jagenden Trieb nicht einmal die Imagination einer Befriedigung schenkte (selbst C* kam nicht in den Messenger, um mir, was sie bisweilen gern tut, zur Inspiration die Ansicht ihrer linken Brust zu gönnen; C* lädt mich einfach zur Cam ein und sitzt, akzeptiere ich das, von allem Anfang an da mit der einen Entblößung – sie zeigt nicht das Gesicht, sondern nur das)… nach wirklich s e h r wenigen Zeilen ARGO und überhaupt keinen für SAN MICHELE habe ich mich, erst zuhause, dann auf dem Spielplatz, wo mein Junge tollte, in >>>> Buschheuers grandiosem Tagebuch calcutta-eilenburg-chinatown festgelesen. Und das, obwohl ich weiblichen Autoren gegenüber eigentlich immer etwas skeptisch bin (die großen Ausnahmen – Marianne Fritz, Christa Reinig – bestätigen darin eher die Regel; sowie Lyrik von Frauen). Aber derart wie heute ist mir ein Text lange nicht mehr geschehen. Nicht daß ich glaubte, es handele sich um große Sprachkunst (wiewohl diese Autorin zu formulieren v e r s t e h t), nicht daß es vielleicht überhaupt Kunst ist, darüber kann ich kaum etwas sagen, dazu bin ich viel zu benommen – nicht etwa der Entwurf einer „anderen Welt“, die sowohl tatsächlich anders ist, zugleich aber auf das genaueste beobachtet unsere Realität parabelartig enthält und gestaltet, nein – aber eine enorme Intensität und ein derart vorurteilsfreies Hinblicken, daß ich das Gefühl hatte, es spritzt mir den Schlamm vom Gesicht. Es mag sein, daß es auch daran liegt, daß ich die von Buschheuer erzählten Orte kenne, nicht alle, aber viele oder doch ähnliche, und daß dieses ein Vertrautsein schafft, durch welches ich widerstandslos eingesogen werde. Aber das nicht allein erklärt diesen Sturm, der sich jetzt in mir entfaltet hat, – auch die Klarheit, mit der ich begreife, auf was für einen widerwärtigen Unfug ich mich da eingelassen habe, als ich meine Existenz von einem Kunstbetrieb abhängig machte. Dieses Angebundensein, Abhängigsein von einer abgekotzten Literaturszene, deren leitende und meist auch deren mitlaufende Protagonisten nichts besseres zu tun haben, als sich für Anerkennung aber auch restlos zu prostituieren – die in ihrer hämorrhoidigen Verkniffenheit völlig vergessen, was das i s t : L E B E N. Und ich begriff, daß es gar nicht schlimm ist, verkannt, fast durchweg verhämt und zuintrigiert zu werden – sondern daß das logisch ist und sich aus dem, was einer will und der andere nicht, notwendigerweise ergibt.
Was ginge ich jetzt gerne fort! Die Impuls hatte ich ohnehin schon seit langem. Aber es geht nicht, ich bin Vater, und diese Verantwortung m u ß ich nicht nur tragen, sondern ich w i l l sie auch. Längere Reisen allein („Reisen m u ß man allein“, schrieb ich einmal, Sie können sich das auf der fiktionären Website runterladen, ich hab jetzt keine Lust auf die lästige Routine des Links) sind also ausgeschlossen, längere Auslandsaufenthalte auch. Aber darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, was mir dieses Buch auf seinen ersten 35 Seiten heute vermittelt, was es mir zugesprochen hat, obwohl es, wie jedes gute Buch, mich so wenig meint wie seine übrigen Leser: daß man sich einen Dreck um Gepflogenheiten zu scheren habe, die in die Starre führen, weil sie um einer geordneten Existenz willen das Aushalten, das Durchhalten, das Mitmachenmüssen im Blickfeld haben und als ihr schließliches Ziel.

Auch für Die Dschungel ergibt sich jetzt eine Konsequenz. Nämlich keine Rücksicht mehr zu nehmen. Im übrigen auch das hiesige Tagebuch zu verflüssigen. Die Tagespläne fliegen fortan raus und erhalten, da sie eine Funktion für mich erfüllen, eine eigene DTs-Rubrik, die den Plan nennt und am Ende den Arbeitsfortschritt des jeweiligen Tages. Das muß keiner lesen außer mir selbst und ein paar an ihren Dissertationen sitzende Studenten. Das Tagebuch selbst wird nun p u r geführt. Kann sein, daß mich Buschheuer darin fortan auch stilistisch beeinflussen wird – nicht auf der Hauptseite wahrscheinlich, zumal es da bei den hochliterarischen Stilformen und Auszugs-Fragmenten, sowie auch dem theoretischen Zugriff bleiben soll -, doch im Tagebuch selbst werd ich ein wenig rotziger sein. Ich finde das nicht von Übel, von etwas, das einen beeindruckt, in seinem Ausdruck gefärbt zu werden – und schon gar nicht, das auch zu sagen.

calcutta-eilenburg-chinatown, Else Buschheuer, merken. Kein Roman, nein, kein Kunstgebäude, gewiß nicht, aber ein grandioses Buch. Jedenfalls auf diesen ersten 35 Seiten. Ich werde ganz sicher noch weiter davon erzählen.

2 thoughts on “Freitag, der 19. August 2005.

  1. Söhne und Väter. [Wittinger, Violinkonzert.]

    EvL merkt gerade zu recht an, ich hättte geschrieben, ich sei der Sohn eines Schulkinds. Das, in der Tat, ist wohl ein freudscher Verschreiber (Verdenker eigentlich, denn ich habe den Beitrag zweimal korrekturgelesen). Nun sinne ich ein wenig darüber nach, was er bedeuten könne: Ich hab so die Neigung, symbolische Zusammenhänge herzustellen und aus ihnen auch gleich Geschichten zu basteln, die dann fast immer Eingang in die Romane oder meine Erzählungen finden, sei es als Motive, sei es als Grundmuster einer Handlung. In diesem Fall wäre vermutlich von einer Identifikation mit dem Jungen auszugehen; auch in der Analyse habe ich eine ganze Reihe von Träumen besprochen, in denen ich immer zugleich mein Kind und ich selbst war. Sohn eines Schulkinds sagt aber a u c h: Sohn eines, der immer unreif geblieben ist, was im Falle meines Vaters s t i m m t*. Er ist nie darüber hinweggekommen, Elite-Zögling der Napola gewesen zu sein. Mit sechzehn war der Krieg aus, und der Junge stand auf der Straße. Radelte zu seiner Mutter, meiner Großmutter väterlicherseits also. Die hatte sich, völlig anders als ihr Mann, zur Widerstandskämpferin entwickelt und hatte eingesessen. Frisch befreit, ertrug sie nun diesen logischerweise Hitlerjungen nicht, der in seiner bayerischen Tiefenverwahrung nicht einmal gewußt hatte, daß Krieg g e w e s e n war. Sie reagierte auf ihn restlos inhuman: Schickte ihn weg und sagte sich per Zeitungsanzeige von ihrem mißratenen Sohn l o s. Meine e i g e n e Mutter hat uns Brüdern diese Geschichte immer wieder voll Stolz darüber erzählt, wie konsequent Frauen sein könnten; sie schafften es sogar, ihr eigenes Blut (so ungefähr die Worte) aufzugeben, wenn die Moral es erfordere. Da wiederum mein Großvater väterlicherseits durch die Entnazifizierung rutschte und als “Wolf Graf Welsperg” oder so ähnlich (ich bin ihm nie begegnet, noch hatten wir einen anderen Kontakt als den vom Hörensagen) bis ins hohe Alter für die Freiheit Südtirols kämpfte, von seinem schwächlichen Sohn nichts wissen wollte, stand der Junge zemlich allein in der Welt und besaß dann auch noch den Masochismus, eine Gärtnerlehre auf eben dem Grundstück zu absolvieren, das unsere Familie ein paar Jahrzehnte zuvor beim Glücksspiel drangegeben hatte.
    In d e m Sinn mag Sohn eines Schulkinds weiterwirken, denn auch ich war – als ‘mißratenes’ Kind – von beiden Eltern kaum gewollt. Indem ich mich nun mit meinem Jungen derart identifiziere, stelle ich wahrscheinlich eine Einheit imaginär (wieder) her, ohne deren gefühlte Gewißheit letztlich kein empfindender Mensch sich behaust wissen kann.

    [*) Ich sollte gelegentlich etwas über meine mitunter wahnhafte Fixierung auf Genauigkeit von Betonung und Sinn innerhalb von Sätzen schreiben, also über die Funktion von Sperrung und Kursivschrift in einem Text. Imgrunde suche ich nach einer Notation, die selbst Lesepausen festlegt, da sich viele meiner Sätze nur in einer bestimmten Betonung verstehen lassen; betont man sie anders, wirken sie manieriert oder sogar falsch. Sie ergeben aber nur s o, also wie ich sie schreibe, ihren gemeinten Sinn, zu dem immer Ober- und Untertöne gehören, die ich mit einzukomponieren versuche, ja mit denen ich im Text spiele: also mit dem, was “zwischen den Zeilen” steht: dieses selbst wird Motiv und dann variiert oder anderswie verarbeitet… – ah, ich merk schon, ich fang schon jetzt mit der nötigen poetologischen Betrachtung an. Aber an d i e s e Stelle gehört sie nicht hin.

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