Paul Reichenbachs Donnerstag, der 23. August 2007. Noli me tangere.

“So weit das Herz reicht
geht es.“
Friedrich Hölderlin

Nachdem der Arzt seinen Blutdruck gemessen und ihn abgehört hat, meint er lakonisch, wie an ihm nicht interessiert, wir sollten mal ein EKG machen. Haben sie manchmal Atemprobleme? Ihr Herz gefällt uns nicht. Lassen Sie sich einen Termin in der Anmeldung geben. Mein Herz, fragte er. Nein, antwortete der Arzt. Wir müssen uns noch nicht wirklich sorgen, Wir brauchen die Werte nur zur Kontrolle, und er stand schon an der Tür als der Doktor fragend nachschob. Belastet sie irgendetwas?
Sein Arzt, das stellt er für sich fest, ist immer ein guter Beobachter gewesen. Soll er ihm von seiner litauischen Krankheit erzählen? Oder es lieber lassen? Bisher, in den letzten 20 Jahren hatte er alles, was ihn aus der Bahn warf, ob beruflicher Stress, Konflikte zu Haus oder eine x-beliebige Affäre, ihm mitteilen können. Und jedes Mal, wenn er dann die Praxis verließ, spürte er ein Gefühl der Erleichterung. Er mochte diesen kleinen Mann mit dem schmalen Bärtchen über der Oberlippe. Seinen offenen Blick. Und war sich seiner Diskretion immer sicher. Nur in diesem Fall, nennen wir ihn den Fall Wilna, hielt ihn eine unbestimmte Furcht, er könne seine Achtung verlieren, davon ab sich zu offenbaren. Fakt ist, dass sich der Fall Wilna für ihn zu einem Problem auswächst, dessen er nicht mehr Herr zu werden scheint. 32 Jahre jünger ist sie, und fliegt am Sonntag, bei ihrem Autoverkauf konnte er ihr helfen, für immer zurück. In ihre Heimat. Wie sollte er seinem langjährigen Arzt begreiflich machen, dass es nicht ihre Jugend, nicht ihr rhythmischer weißer Leib und nicht das Staccato und Lento des Haut an Haut sind, was ihn fesselt, sondern ihr Herz, das dem seinen mit schier überquellender Wärme entgegenschlägt. Noli me tangere dachte er jedes Mal, wenn sie sich trafen, und so schnell wie der Satz sich in seinem Hirn aufbaute, so schnell, war er auch wieder verschwunden. Wie sollte er seinem Arzt erklären, dass er, ohne als alternder Gockel zu erscheinen, wieder einmal, sicher das letzte Mal in seinem Leben, zu lieben begonnen hat? Aussichtslos. Sein Herz schmerzt als er den Schlüssel ins Zündschloss senkt und losfährt.

3 thoughts on “Paul Reichenbachs Donnerstag, der 23. August 2007. Noli me tangere.

  1. Dort 32, hier 28, wie zählt so etwas wirklich? Mein Hirsch ist gewiss kein Gockel; alternd, je nun, das lässt sich nicht an allen Stellen verbergen. Ein Arzt, der einer sein will, wird um das Wohl liebender Herzen wissen; die Frage ist ja: Kann er schwimmen?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .