Orsolya Kalász . Arbeitsnotizen. 16. Oktober 2007. montgelas.

Es ist ein besonderer Glücksfall, dass eine Lyrikerin sich selbst übersetzen und nachdichten kann. In Kalasz Gedichten webt sich das Ungarische in deutsche Tonteppiche ein, ohne in ihnen zu versinken, während sich die deutsche Sprache um ein Klanggeländer des Ungarischen rankt. Und so entsteht ein Sound, ein heimlicher, neuer Sprachraum, der nachhallt und jene beim Lesen überrascht, die mit den Augen hören können. Der Fluss der Poesie, wollen wir jeweils das andere Ufer erreichen, verlangt Übersetzen. Und inmitten des Wassers nimmt unser Blick poetische Landschaften wahr, die kein Ufer versprechen kann. Es ist der ortlose Raum in Orsolya Kalász Lyrik, der fähig macht, diesen oder jenen poetischen Ort zu erblicken und einen mäandernden Fluss zu lauschen, der Fremdes nahe bringt und Bekanntes fremd erscheinen lässt. Unaufdringliche Bezüge auf Endre Ady oder Attila Jozsef, die neben Christine Lavant, Marina Zwetajewa und Paul Celan im Band ihre Schatten werfen, sind unüberhörbar und nicht zu übersehen. Orsolya Kalász poetischer Fluss zwischen den Sprachen kommentiert kritisch und ergänzt skeptisch in ihrem Gedicht “DORT”, um nur ein Beispiel zu nennen, auf einer völlig anderen und doch verwandten Ebene Endre Adys Gedicht:

„Die ungarischen Erlöser“

Die Tränen sind hier salziger.
Hier sind die Schmerzen größer.
In Ungarn sind Erlöser
Gleich tausendfach Erlöser.

Ihr Sterben hat kein Ende.
Ihr Kreuz kann nur vernichten.
Sie konnten nichts verrichten,
Nichts konnten sie verrichten.

Endre Adys historisches Ungarn (1918/19) verwandelt sich in den Versen der Dichterin , im Text “DORT”, in eine aktuelle Lagebeschreibung deutscher und ungarischer Befindlichkeiten.

DORT

Wo ich herkomme,
liebt man es zu übertreiben.
Wie in einer Restlandschaft
Bestaunt man die Einmaligkeit der Verluste.

Die Sehnsucht nach Heilung oder Entkommen
Ist hier ein Lehrpfad der Gefühle,
die Organe, lange
ab Überreizung gewöhnt,
und die Schwächen
die reden wie Menschen.

Im Licht der Lampen
schwanken hier Männer wie leere Boote.

Wie berauschte Pappeln dreschen Kinder aufeinander ein.

Es gibt eine Ecke, die verflüstert jede Frau zur Lupine.

Hier bricht man sich das Herz wie das Pferd die Fessel
Oder der Pfau das Rad, das Brot den Laib, der Stock die Hand.
Hier steht ein Berg aus verlassener Wäsche,
Hemden, Hosen, Leibchen, Schürzen,
versteinert in der Sommerhitze.

Hier spricht man gern über einen fernen See,
man nennt ihn grünen Schimmer.

Alles, was man hier auf dem Weg verzehrt, wird in Asche
gebacken.

Es wird anderswo sein,
wenn ich es mit der strengen Zahl
ernst meine
und im Kopf
der alte Hirschhornknopf aufgeht.
Wenn mein Schweigen
mich, sein letztes Hemd
verwettet.

Quelle: Orsolya Kalász / Alles, was wird, will seinen Strauch / Ami volt, még bokor akar lenni. Gedichte. Mit einem Essay von Monika Rinck.reihe black paperhouse / Bd. 6 / 2007 / 80 S. / Plakatumschlag / br. / 18,5 x 14 cm / dt./ungar. / Euro 11,00 / ISBN 978-3-936826-66-1. Gutleutverlag Frankfurt am Main & Weimar.

Hinweis zur poetischen Verwendung des Begriffs der strengen Zahl :
“Moralisch [!] lehrt uns die Mathematik, sich streng [!] gegenüber dem zu verhalten, was als Wahrheit behauptet wird, was als Argument hervorgebracht wird oder was als Beweis angeführt wird. Die Mathematik fordert Klarheit der Begriffe und Behauptungen und duldet keinen Nebel und keine unbeweisbaren Erklärungen.” (A. D. Alexandrow)

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