Nine Eleven oder Inzest oder Die Entstehung der Welt. An Christoph Jürgensen.

Lieber Christoph Jürgensen,
ich danke Ihnen sehr für die Übersendung >>>> des Buches mit Mergenthalers, den ich gar nicht kenne, Beitrag zu Bongartz’ und meinem Inzest-Roman als Jubiläums-SCHREIBHEFT. In der Tat sind wir damals sehr gebeutelt worden für den Text; sowohl für Bongartz wie für mich war das nicht ungewöhnlich; Norbert Wehr war eine solche Erfahrung aber neu und, so mein deutlicher Eindruck, außerordentlich verstörend und kränkend. Es soll sogar wütende Abbestellungen von Abos gegeben haben. Da empfinde ich Mergenthalers Essay nun geradezu wie eine Rehabilitierung Norbert Wehrs, der sich etwa von dem in die bürgerliche Mitte rückemigrierten Thomas Hettche auch persönliche Vorwürfe hat anhören müssen, des Tenors, wie man denn als Herausgeber solche moralischen Ungeheuerlichkeiten (um nicht „solchen Dreck“ zu sagen) verantworten könne… – jedenfalls, was da seinerzeit auch hinter den Kulissen abgegangen ist, war schon prächtig und gewissermaßen ein Protuberanzfeld der durch das Attentat aufgeschossenen Emotionen selbst.
Mergenthaler sieht, glaube ich, die Feuilleton-Reaktion auf Bongartz’ und meinen Romantext, wie auf einige andere poetischen Texte des Umfeldes, ganz zurecht als eine Art der Abwehr. Wobei sowohl Bongartz als auch ich sowieso schon zu den abzuwehrenden Autoren gehören und gehörten; die Haltung etwa Ina Hartwigs setzte imgrunde nur eine ohnedies vorhandene “Haltung” fort und hatte gewiß weniger mit 9/11 zu tun, als ihr Feuilletontext vorgibt. Moralisch gesehen hat sie, die Moralisierte, 9/11 benutzt. (Und erschien seinerzeit, ein besonderer Akt der Peinlichkeit, mit US-Flagge am Kragenspiegel zur Buchmesse Leipzig.) Wiederum >>>> Weidermann gehört weder z d b I n b I, aber zu den Pfiffigen; deshalb muß man ihm seine Einlassungen nicht übelnehmen. Das einzige wirkliche Ärgernis ist Plath. Dessen Verdikt tat weh.Rein unabhängig von Mergenthalers Schlüssen zur Inzest-Ästhetik in Hinblick auf 9/11 (ich habe das später in Der Dschungel zu den Grundzügen einer Perversions-Ästhetik ausgebaut und in meine Heidelberger Poetik-Vorlesungen übernommen), – unabhängig davon wundert es mich bis heute, daß bzgl. 9/11 von einer Traumatisierung und überhaupt einem Trauma gesprochen wird – nämlich in Bezug auf uns Europäer. Ich selber k a n n mich nicht traumatisiert fühlen, da ich nicht attackiert, auch nicht verletzt wurde – jedenfalls nicht stärker traumatisiert als durch das Völkerschlachten auf dem Balkan, im Sudan und und und…; w a s ich verstehe, das ist, daß sich ein US-Amerikaner traumatisiert fühlt. Aber ich bin ja keiner, der Fernsehturm steht noch ebenso wie in FFM der Messeturm, und die meisten, die sich hierzulande traumatisiert fühlen, tun nur so. Es wäre denn eine mentale Trauma-Übertragung möglich, etwa als dominant vererbliche Anlage innerhalb der Mitglieder von Nato-Staaten, deren Lebens- und Sendungsgefühl der Pop ihnen vorgibt.
Mir kommt dieses Trauma (…) wie die Simulation von Vasallen (vor), die die Krankheit ihres Herrn markieren, um sich ihm möglichst nah zu zeigen.

Seien Sie gegrüßt,
Ihr
ANH

1 thought on “Nine Eleven oder Inzest oder Die Entstehung der Welt. An Christoph Jürgensen.

  1. Von Christoph Jürgensen. An Christopf Jürgensen. Von Christoph Jürgensen. CJ
    (…) es freut mich sehr, dass Ihnen der Aufsatz von Volker Mergenthaler gefällt. Auch ich habe die Angriffe des Feuilletons empörend gefunden und freue mich über diese Gelegenheit zur Korrektur der aufgeregt-dümmlichen Äußerungen – und bedauere zugleich, dass sich mit einem wissenschaftlichen Buch nicht mehr Leser erreichen lassen, viel weniger zumindest als mit einem flott geschriebenen Verriss in einer Tageszeitung. Aber einige werden es schon lesen.
    Und ich bin ganz Ihrer Meinung, dass sich bei Europäern keinesfalls von einer Traumatisierung durch die Ereignisse vom 11. September sprechen lässt – hoffentlich erweckt unser Band nicht den Eindruck, dass wir die europäische Kunst als Form der Traumabewältigung betrachten? Nein, wir sind prinzipiell vielmehr der Ansicht, dass sich am künstlerischen Umgang mit ‘Nine Eleven’ – mit eben wenigen Ausnahmen – besonders deutlich zeigt, dass sich vor allem in der deutschen Literatur in poetologischer Hinsicht wenig bis nichts geändert hat. Besonders deutlich zeigt sich dies meiner Ansicht nach gerade an so pseudorealistischen Romanen wie ‘Woraus wir gemacht sind’, die nach einem relevanten Realismus riechen wollen, aber alte Narrative in wenig avancierten Erzähltechniken präsentieren; gleiches zeigt sich deutlich bei Leuten wie Grünbein etc. Daher wird das vorgebliche Trauma häufig thematisiert, ohne dass es die Texte tatsächlich prägen würde, die discours-Strukturen prägen würde – und das erst wäre ja in ästhetischer Hinsicht wirklich interessant. (…)
    ANH
    darf ich Ihre Antwort >>>> hierunter als Kommentar zitierend in meine Dschungel einstellen? Ich führe solche Korrespondenzen ja gerne öffentlich, meist gibt es auch Reaktionen, die dann wieder zu Diskussionen führen, die Die Dschungel mit-auszeichnen.
    Falls Sie Namen – etwa Grünbeins – gerne chiffriert oder sonstwie anonymisiert haben möchten, sagen Sie es bitte kurz. Wobei ich Grünbein gerne diskutierte, weil ich so ganz rundweg da nicht Ihrer Meinung bin. Ihm stellt die permanente Strömung von Ehrungen manches Bein, macht es auch einfach für ihn schwieriger (für sein Leben freilich sehr viel leichter), dennoch glaube ich nicht, daß gerade bei ihm nicht doch sogar ausgearbeitete Spuren einer zeitgenössischen Literaturverfassung zu finden sind – sein Rückgriff auf alte Formen hat auch progressive Gründe. Ich weiß ganz gut, wovon ich spreche – aber will mein Zeug nicht jetzt schon verdiskutieren.
    CJ
    sehr gerne können Sie meinen Kommentar einstellen, und auch mit den Namen, das ist ja notwendig, wenn es eine Diskussion geben soll. Und ich muss gestehen, kein großer Kenner der Werke Grünbeins zu sein, da kann mir einiges entgangen und das Urteil zu flott formuliert sein – aber für den genannten Roman Hettches oder solche wie Hackers “Habenichtse” oder “Die Mittagsfrau” scheint mir tatsächlich zu gelten, dass der Satz, nichts sei mehr wie zuvor, zumindest für deren Poetik nicht gilt; aber das wäre dann tatsächlich schon Stoff für eine Diskussion, die ich sehr spannend fände, und über Grünbein denke ich noch einmal nach – bzw. lese einiges noch einmal.

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