Das diebische Elster, sowie, doch kurz nur, zu Schirrmacher und Keuschnig. Im Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 28. Februar 2013. Und eine große Lektüre am Nachmittag: Max Dauthendeys Erzählsammlung „Lingam“.

8.19 Uhr:
[Arbeitswohnung. Elgar, Caractacus op. 35.]
Schon seltsam, welche Wege mein Ohr jetzt ging: von Mozart zu Vaughan Williams, gestern bereits zu Elgar, eben diesem Caractacus, den ich mir zuletzt, glaube ich, in meiner Frankfurtmainer Zeit angehört habe – eine Passage darin gehörte damals zu Dos Lieblingsmelodien, und deshalb legte ich die Platte oft auf, wenn ich die junge Frau morgens nach meiner Früharbeit weckte. Von einer solchen kann in den letzten Wochen, aber, nicht mehr die Rede sein; zwar gestern war‘s gut zeitig, aber heute schon wieder kam ich erst um sieben hoch. Das liegt freilich auch daran, daß abermals ein Arbeitsabschluß erreicht ist: die Steuererklärung ist fertig. Einerseits hat mich das ein kleines Erschrecken gekostet, weil eine Belastung auf mich zukommt, mit der ich nach all den dürren Jahren nicht wirklich mehr gerechnet habe, es erfüllt mich aber auch mit Stolz, daß jemand wie ich, der ja nun kein Lieblingskind des Betriebes ist und auch nicht der Leserschaften, es trotzdem hinbekommt, sich allein mit seiner eigentlichen Arbeit, Kunst, sein Leben, und das einer kleinen Familie teils mit, befriedigend zu ökonomisieren. Es hat viel Schweiß gebraucht, viel Wut, und es ist immer wieder gefährdet. Dennoch, aber. Dennoch. Plötzlich komme ich mir erwachsen vor, einfach, weil ich nicht mehr darauf angewiesen zu sein scheine, mich irgendwie alimentieren zu lassen. Das mag trügen, ein vorübergehendes Aufscheinen sein; aber es fühlt sich gut an, ähnlich, wie ich, der frühere Zahnarztängstler, g e r n zum Zahnarzt gehe, seit ich keine Sozialanträge für Zusatzzahlungen mehr stellen muß, sondern selbst bezahle. Ein, mag sein, banales, aber tiefes Gefühl von Freiheit weht da mit.

Zweiter Latte macchiato, zweite Morgenpfeife. Ich bin etwas spät mit diesem Arbeitsjournal, weil ich heute früh als erstes >>>> Keuschnigs Rezension des neuen Buches von Frank Schirmacher gelesen und dann auch ein Kleines kommentiert habe. Schirrmacher und ich teilen so viele Einschätzungen, daß es mich wundert, nie wirklich mit ihm ins Gespräch gekommen zu sein; wir sind uns ja dreiviermal begegnet. Nach Lektüre der Rezension allerdings das Gefühl, das Buch gar nicht mehr lesen zu müssen, sondern schon alles Nötige erfahren zu haben; ich hatte kurz den Eindruck, daß manche Rezensionen, insgesamt, nicht nur im Begleitschreiben-Fall, die Funktion der alten Reader‘s Digest, „Das Beste aus“, übernommen haben, für ein Buch also kontraproduktiv sein können.
Um elf muß ich beim Finanzamt anrufen, um ein weiteres Procedere abzusprechen; vielleicht, daß ich diesmal nicht mit allen Unterlagen direkt hinradle und denen den Packen auf den Schreibtisch lege; sondern statt dessen spiele ich mit dem Gedanken, erstmals meine Steuererklärung online abzugeben, was über ein >>>> Elsterprogramm auch geht (diebische Elster, Finanzamt, ha!, wer hat sich nur diesen Namen dafür ausgedacht?). Vorher, vor elf, setze ich mich aber wieder, wieder einmal, über die Verse in Argo, die noch bearbeitet sein müssen, bevor der Roman in den Satz gehen wird; da sie aus formalen Gründen nicht Gegenstand des Lektorats sein können, kann ich das aber gut „nebenbei“ tun. Außerdem muß ich jetzt allmählich an den noch ungeschriebenen Epilog zu diesem meinem letzten Andersweltbuch gehen, wenn es ihn denn wirklich geben soll. Er ist nicht unbedingt nötig, legte aber einen guten Rahmen um das ganze Projekt. Vielleicht wird er auch schon auf den Friedrich-Roman vorausweisen, auf jeden Fall eine Anspielung auf das nächste Erzählbuch enthalten, den Sterberoman. All das hängt auf eine ungewisse Weise mit Europa zusammen, das ich in mir nach wie vor so sehr als Abendland empfinde, daß es auf den Orient und dieser auf jenes immer bezogen bleibt. Und von Elgar will ich dann wieder zu Mozart zurück. Alles, was ich tue, versuche ich mit Formklammern zu verbinden. So, daß sich Muster ergeben. Das Leben als Aufeinanderfolge ästhetischer Akte.
Guten Morgen. Selbstverständlich warte ich noch immer auf den Anruf meiner Redakteurin wegen des Gerichtsvollzieherr-Hörstücks, ob Hopp nun oder Top. Die Löwin jedenfalls hat mir ihr Placet gestern gegeben – nur einen bestimmten Sprachclip möge ich bitte durch einen anderen ersetzen, weil seine Wiederholung störe.

12.50 Uhr:
Seit bestimmt anderthalb oder sogar zwei Jahren – oder waren es noch mehr? – wieder gelaufen, auf der Tartanbahn bei Max Schmeling, vorsichtig aber: vier Kilometer in zwanzig Minuten. Der Körper soll sich erst wieder drauf einstellen, daß ich ihn reaktivieren will. Auf jeden zweiten Tag zehn Kilometer will ich wieder kommen; auch ein bißchen Krafttraining dazu, aber nicht für Muskelzuwachs, sondern einfach, um das, was da ist, erneut in Form zu bringen. Gestern nachmittag roch ich diese Spur Frühjahresdufts, heute begann die Aktivität, plötzlich sprang sie über, und schon hatte ich die Sportklamotten in der Hand.
Jeden Tag nun erst mal vier Kilometer, ab Mitte nächster Woche fünf, wenn die linke, seinerzeit angezerrte Achillessehne mitspielt. In einem Monat dürfte ich die zehn Kilometer pro Lauf erreicht haben, danach kann ich an der Geschwindigkeit trainieren. – War schon etwas schwerfällig, so der erste Kilometer. Danach wurde es leichter, ab der achten Runde wieder mühsam. Da solche Entwicklungen in Sprüngen vorankommen, werden die zehn Kilometer ganz plötzlich da sein. Jetzt aber wird eine Stunde geschlafen, danach gibt‘s Fruchtsalat mit Joghurt. Bevor der nicht gegessen ist, wird nicht geraucht. Eine sehr auffällige Begleiterscheinung des Sports war bei mir immer, und ist es wohl noch, daß die Nikotinsucht radikal zurückgeht; schon jetzt, nach diesem einen Lauf, ist das Bedürfnis zu rauchen spürbar geringer als normalerweise.
Ich bereite mich vor.

17.27 Uhr:
[Elgar, Kind Olaf.]
Viel weiter gekommen bin ich heute nicht. Ich merke das Laufen sehr. Mußte zum Hautarzt wegen einer blöden Entzündung am Fuß. Noch blöder die „Medikation“: Fünf- bis sechsmal täglich in aufgelöster Kernseife, je zehn Minuten, den Fuß baden und dabei bewegen. Die Seife ziehe die Entzündung heraus, auch den Eiter.
Ich bin absolut nicht der Typ für solche Verfahren, eine satte Spritze wäre mir lieber gewesen. Nun muß ich meine Konzentrationen dauernd unterbrechen. Wirklich blöd. Immerhin, ich las wieder Dauthendey, über den ich noch zu Tammens Zeiten einen Aufsatz für >>>> die horen hatte schreiben wollen, und er hatte ihn auch unbedingt haben wollen. Aber ich bin bis heute nicht dazu gekommen. Doch welch ein Genuß das ist, diesen Erzähler zu lesen! Wie hat er nur derart vergessen werden können? >>>> Lesen Sie nur mal selbst!
Nach der Erzählung mach ich mit den Argo-Versen weiter. Erst einmal mir alles vergegenwärtigen, was und wie es schon da steht.

(Nicht ohne Witz ist es, à propos Dauthendeys „Lingam“, daß ich heute eigentlich nichts über Phalli, sondern >>>> Mithu Sanyals „Vulva“

weiterlesen wollte, „Yoni“ also.).

2 thoughts on “Das diebische Elster, sowie, doch kurz nur, zu Schirrmacher und Keuschnig. Im Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 28. Februar 2013. Und eine große Lektüre am Nachmittag: Max Dauthendeys Erzählsammlung „Lingam“.

  1. Wer hat sich diese Abkürzung ausgedacht? Eine genau genommen falsche Frage: Die Abkürzung ist gerade nicht ausgedacht, sondern unmittelbar abgeleitet (und – was bei direkten Ableitungen nicht immer der Fall ist – auch noch aussprechbar).

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