Auf tropischem Meer. PP157: Der Sechsundzwanzigste auf den siebenundzwanzigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Geschrieben im Südatlantik am Sonntag, dem 27. April 2014, fünf Stunden vor Georgetown/Ascension.

(8.03 Uhr, i.e. 10.03 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
8º32‘ S/13º50‘ W.
Kurs 287º W.
Sonne.)

Welch eine warme Nacht! Und nun, welch warmer Morgen. Es war ein reine Akt meiner Sentimentalität, daß ich zum Sonnenaufgang mit Schal um den Hals erschien. Den ich dann auch gleich wieder in meiner Kabine abgelegt habe, von wo ich den Laptop zum Schreiben holte, und um Fotografien und weitere Töne auf das Gerät zu übertragen. Wobei ich, à propos, Sie abermals um Nachsicht bitte; Bilder ließen sich gestern wieder nicht hochladen, und ich mag einfach nicht, jetzt vor allem nicht mehr, stundenlang in klimatisierten Räumen sitzen. Denn dies hier, die Tropen, sind klimatisch mein Zuhause, ich bin glücklich allein, wenn ich die schwere Luft in die Lungen bekomme, schwer von der Hitze. Alles in mir wird schneller. Ich beobachte schärfer, ich drehe auf Hochtouren ständig, hüpfende Glückswallungen permanent. Ich kann in der Hitze auch besser arbeiten als in auf Mittelmaß temperierten Zonen, die Fantasien gären, blühen, tragen schon Frucht, alles in Minuten, ich weiß gar nicht, woher das kommt. Aber es war immer schon so, seit ich das erste Mal mich in tropischem oder subtropischem Gebiet aufgehalten habe, spät, sehr spät für jemanden meiner Generation, ich war nicht jünger als dreißig. Sogar, ich erstaunte gestern tatsächlich, die Fingernägel wachsen schneller, keine anderthalb Wochen, und ich muß wieder schneiden. Und von morgens bis abends könnt‘ ich vögeln, wobei ich grad das hier nicht tue, aus naheliegenden Gründen, nicht weil ich treu wär, denken Sie bloß nix Falsches von mir! Die Tropen, das sind Sinne-p u r. Es gehört ganz organisch dazu, daß auch der Tod immer mit nah ist, die Krankheit, die eines anderen Wesens Erhebung und Nahrung.
Ebenfalls seltsam tropisch: Nach vierfünf Tagen ohne Sport ging ich davon aus, zugenommen zu haben. Hatte ich aber nicht, sondern abgenommen; was paßt: offenbar ist auch der Grundumsatz höher, verbrennt man mehr, jedenfalls ich.
Man wird verleitet.
Man wird verleitet, wie unser kleiner blinder Passagier, der heute früh auf dem unteren Achterdeck landete, völlig erschöpft von dem zu langen Flug, der die Nacht vielleicht durchging. So rettete das Tierchen sich auf das Schiff, nicht größer als ein Amselweibchen und ebenso braun, aber weißschwarz die Unterschwingen, als es sie wie zum Trocknen ausbreitete. Die kleine Lunge ging und ging. Halb ängstlich, halb froh drückte sich der Vogel an die Bordwand. Jemand vom Service entdeckte ihn, hockte sich, strich mit zwei Fingern über das Gefieder, ging wieder, kam mit einer Serviette, nahm das Tier achtsam mit ihr auf, es in sie gehüllt, trug es hinein. Wenn wir nachher die Insel erreichen, wird er es wieder fliegen lassen.
Es ist erstaunlich, wie weit sich die Flieger vom Land entfernen, das schon längst zu sehen nicht mehr ist, wenn sie immer noch kreisen und kreisen. Ich verstehe Noahs Geschichte erst nun, nun erst wirklich, weil ich sie fühlen kann. Zu fühlen bedeutet, erlebt zu haben.
Dann kam die Frage, des Barkeepers, es gingen Wetten, weil er gesagt habe (es steht mit auf den Rechnungen), ich sei neunundfünfzig. Allgemeiner Widerspruch. Was mir schmeicheln kann, aber dann realisierte ich, daß auch dieses Teil meines Fremdseins ist, eines nicht aufzuhebenden, denn man gehört nun auch körperlich nirgendwo dazu, nicht zu den Älteren/Alten, nicht zu den Jungen und nicht zu denen dazwischen. Man steht draußen, so daß, was doch ein ganz offenbares Privileg zu sein scheint, mit einem Huf des Teufels lahmt. Das ist ein spannender, weil ganz uneitler, ja pragmatischer Befund. Was „das Geheimnis“ fragte mich der Kellnerchef vom Dienst, der dabeistand. „Do never anything, you don‘t want. Be allways on your own. And never never want to be safe.“

Und meine erstaunliche Entdeckung, daß ausgerechnet ich mich in den Kitsch fallen lassen kann, mich drehen kann darin und mich wohlfühle bei hin und wieder einem Schlager; daß das aber schlagartig aufhört, wenn unter die Melodie ein Beat gelegt wird. Offenbar ist meine Aversion eine gegen den – Marsch. Auch das wurde mir gestern klar, daß durchlaufende Rhythmen imgrunde marschieren lassen wollen; nicht hingegen synkopierte.

***

Wie schön dann, wie berührend, wie, ja, erhebend, das ältere Paar zu beobachten, das nachts an der hinteren Reling steht; der Wind umschmeichelt es. Es war kein Paar zuvor. Da schließt er sie in die Arme. Man könnte von einem „Kreuzfahrschatten“ sprechen, analog zu „Kurschatten“, wäre das Geschehen nicht derartig hell. Und leuchtet den Sternen wie Spiegel zurück.

Ganz ebenso: Captain‘s Club, 22 Uhr. Die schon sehr alte hagere Dame in Rot, sehr elegant, und er – einen Buckel und wie als Gegengewicht vorne den Bauch; der Mann geht, wenn er schreitet, immer schräg nach vorne gebeugt – , – er trägt eine weiße Smokingjacke mit genau so roter Fliege und passend rotem Einstecktuch. Wie nun sie in einer unvermittelten Regung ihre linke Hand auf sein rechtes Handgelenk legt und sie dort liegen läßt, während sie der Musik lauscht. So schütter sein graues, nach hinten gestrichenes Haar. Aber eine Locke, die keck um Spuren zu lang ist, rutscht ihm vor, er streicht sie zurück, sie rutscht ihm abermals vor.
Andere, nicht diese beiden, tragen die Bordcard, mit der hier wie mit einer Kreditkarte bezahlt wird, an einem Bändel um den Hals. Stil ist daran zu erkennen, daß man das n i c h t tut, sondern kleine Unbequemlichkeiten auf sich nimmt. Das ist eine Lebensweisheit. Dazu gehört auch die Frage, weshalb man ein Fußkettchen trägt, wenn man auffällig verdickte Waden hat und an den Fersen dicke weiße Hornhaut. Zumindest diese doch ließe sich entfernen. Nun ist das Kettchen wie ein Pfeil darauf: Guckt alle, alle hin!

***

Nach einiger Zeit, so sehr sich die Küche, und wie gut auch immer, bemüht, wird sie einem langweilig, so daß es gar nicht weiter schwer ist, auf Mahlzeiten zu verzichten. Immer derselbe Küchenchef. Er kann ganz ausgezeichnet sein, und ist es. Aber wird Alltag, und der Reiz vergeht.
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Nachts, Schwarzes Notizbuch:
Hoch steht das Kreuz des Südens, aber, seltsam, der Orionstab, der unsere Reise allezeit begleitet hat, ist vom Firmament verschwunden. Ich steige zum Oberdeck auf, gehe die Reling bis zum Bug entlang und suche ihn. Nichts. Unter dem Horizont vielleicht, vielleicht hinter einer Wolke? Doch ich sehe keine Wolken, nur, aus unseren Schloten, den gegen das tiefschwarze, indessen von Millionen Stecknadellichtern gespickte Himmelszelt, den weißen langen langen faserigen Rauch.
Als ich so sann, kam mir die Idee einer ganz anderen Geschichte, nämlich die eines schwer krebskranken Mannes, der, um den Zeitpunkt seines Ablebens selbst zu bestimmen, um die Schweizer Staatsbürgerschaft einkommt. Dort darf man ja, anders als in Deutschland, sterben, wenn man es möchte und darf sich die Mittel besorgen. – Wie würde reagiert werden? Gäbe man sie ihm?
(Auch wenn es mir nicht bewußt ist. denke ich über den Tod stänmdig nach und bin damit tatsächlich mitten in meinem Roman. Manchmal merke ich es: als wäre ich aufgeschreckt und sähe.)
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Und abermals: die Tropen. D a n n ist es warm, wenn wir nicht mehr nach Süden fahren müssen, sondern der Süden – kommende Kälte bedeutet. Wir sind von Australien aus immer weiter nach Süden gefahren, bis das Kap umschifft war. Nun fahren wir für die Wärme nach Norden. Relativität der Perspektiven. Die – gefühlten! – Bedeutungshöfe selbst der Himmelsrichtungen ändern sich. Wer, der in Kenia lebt, könnte sagen: um den mythischen Ursprung zu finden, mußt Du nach Osten?
Und es ist ja auch nur eine kleine Mittelverdickung der Erde, die uns näher der Sonne sein läßt; doch sie genügt. Und mit welchem Effekt! Was es von daher bedeutete, ihr nur einen einzigen Kilometer näher zu sein auf der Umlaufbahn unsres blauen Planeten, und was, einen weiter entfernt! Welch eine meteorologische Rutsche! Was der kleine Fingernagel eines Handpüppchens bedeutet. Er entscheidet über Leben und Tod.

Die meisten aber, mittags, ziehen sich vor der Hitze, die ich suche, zurück. Sitzen im klimatisierten Promenadendeck und schauen durch die Scheiben aufs Meer. Lesen in den Gängen, spielen im Kartenspielzimmer Karten, legen Patiencen in der Bibliothek, deren Bücher ausgesprochen frequentiert sind: Forsyths und Clancys und Chrichtons. Es gibt eine hohes Registerbuch, in das man die Ausleihen, wird gebeten, eintragen möchte. Oder sie puzzeln Riesenpuzzles. Wieder andere häkeln, stricken, besticken. Ich dachte: Durch eine Scheibe auf die See zu schauen, ist nur eine andere Art von Fernsehgucken: eine Ferne sehen jedoch, die so nah ist. Zu nah vielleicht. Wie man nicht nah sein w i l l.

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Gestern „meinen“ James „aus“gelesen, jedenfalls die auf die Reise mitgenommene Erzählsammlung. Bin nur noch immer mehr beschämt von seiner Sprach- und damit Darstellungskunst, nämlich des Kleinsten, Inneren, ohne daß wirklich etwas geschieht. Dann waren mir die „richtigen“ Bücher ausgegangen, und ich nahm den Kindle wieder vor. Peter H. Gogolin, Herz des Hais. Ich hatte das schon mal angefangen, war dann unterbrochen worden. Großartig, auf S. 31, daß jemand „ein Fachmann für Beherrschung“ gewesen sei. Wie Sie sehen, hab ich es mir, und Ihnen jetzt, notiert.
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Gegen ein Uhr, das ist bei Ihnen des frühen Nachmittages drei, werden wir in Georgetown anlegen, auf Ascension. Es ist nun aber nicht heraus, ob wir überhaupt an Land gehen dürfen, weil, erfuhr ich gestern abend, der Wellengang zu hoch für die Tenderboote sei. Abwarten also. Ebenso ist nicht heraus, ob ich es diesmal mit dem Tauchen schaffen werde. Zwar schrieb ich gestern die Email, aber sie kam dreimal als unzustellbar nicht zurück, nein das passiert im Internet ja nicht, aber der mailing demon frechte, und er beharrte drauf zu frechen. Doch es berührt mich nicht wirklich. Denn ich bin in den Tropen.
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