Eines Geistes Zeit. Das Untriest 56 aus, teils, Frankfurt am Main: Von Donnerstag, dem 2. , bis zum Sonnabend, dem 3. April 2015.


Roter Tisch, 7.34 Uhr
ICE Ffm-Berlin, 10.30 Uhr
Arbeitswohnung, 8.08 Uhr


Einen Menschengeist, Liebste,

nicht den Körper verfallen zu sehen, ist das schlimmste, will es mir scheinen, auch wenn ich, wie ich im >>>> Traumschiff tat, dieses „scheinen“ vielleicht zu recht überführe; es ist etwas Egoistisches, des betrachtenden, also meines, nicht des betrachteten Freundes daran. Und dennoch dachte ich, als ich diesem Mann gegenübersaß und mit ihm sprach – oder mit ihm zu sprechen versuchte, der keinen Gedanken mehr hielt: Hätte er, dieser vordem so hochgebildete, von sprühendem Feuerwitz, scharfen Gedankenblitzen und einem Wissen durchprägte Mensch, das der alten Vorstellung von Universalität zumindest nahekam — hätte er so werden wollen, wie er nun ist und um jede Erinnerung kämpft und um Zusammenhänge, die ihm fast alle entgleiten? „Es geht schon besser“, sagte die Freundin, „du hättest ihn vor vier Tagen sehen sollen… Das ist schon ein Riesenschritt…“
Hilflos verstand er ein Amtsschreiben nicht, weder die Formulierung noch ihren Grund, nahm es immer und immer wieder vor, buchstabierte die einzelnen Sätze, zwei, zweieinhalb Stunden lang; die zwei Seiten kurzen juristischen Textes ließen ihn nicht los. Noch und noch hob er sich den Brief vor die Augen oder beugte sich über ihn, entzifferte die wenigen Sätze mit Hilfe seines kurzen, jedes einzelne Wort unterschleichenden Zeigefingers, den er dazu krümmte, und murmelte mit und mit. Was heißt das? Was will man von mir? Die Erkenntnis, daß er nicht länger rechtsfähig sei, nicht jedenfalls im Moment, wollte sich ihm nicht öffnen und auch nicht, daß er doch Vorsorge getragen und für solch einen Fall Freunde benannt hatte, ihn zu vertreten, so daß – dies war die Botschaft des Richters – von Amts wegen niemand anderes bestallt werden müsse, kein Fremder, der beauftragt würde, ihm sein weiteres Leben formal zu bestimmen, was, dem Sinn der in Gang gesetzten und nunmehr verworfenen Anordnung nach, bedeuten sollte, es zu schützen. Denn diese Freunde, so anerkannte der Brief, sind ja da und mit der Vollmacht ausgestattet, so auch zu tun. Nein, es wollte sein Geist nicht begreifen, daß derartiges überhaupt notwendig sei. Dagegen stemmte sich der Mann, der in dem Kind, zu dem er nun wurde, noch war.
So holt denn mein Thema mich e i n, anders, konkreter, als ich gedacht:

Was wissen wir, was auf uns zukommt? Ich gab’s einem Freund in die Hand, er mir in meine: Häng ich am Kabel, erwarte ich, daß du es ziehst. Hier der Revolver, im Fall, daß ich ins Heim komm. Falls ich’s nicht merke. Sei mir barmherzig.
Neunte >>>> Bamberger Elegie

Und mein Thema wird zu einer Verpflichtung, die es abzuwägen gilt. Welche Rolle spielt der Stolz für unser Selbstbild, das wir über unsere Befähigung hinaus bewahrt wissen möchten, es uns selbst zu bewahren? Wenn wir dies nicht mehr können, was sind wir dann?
„Wenn mein Geist nicht mehr ist“, lehrte vor Jahrzehnten mein Logiklehrer Trapp am Frankfurtmainer Philosophicum, „dann ist nicht mehr Ich, nur noch Reflex, quasi Mechanik“ – nicht genau seine Worte, doch der Sinn. Aber so war es nun gar nicht. Sondern mir gegenüber an seinem kleinen Tischchen der kleine ältere, so achtungsvoll von mir geliebte Mann war in seiner Fleeßjacke, seiner Schlafanzughose und seinen Puschen ganz der, Geliebte, den ich kannte und der mich so vieles gelehrt hat; nur verstand er nicht mehr oder ungenau, s i c h nicht und was mit ihm vorging und wie ausgeliefert er nun war. Seine Widerständigkeit indessen, als ein Impuls, war geblieben, der nun die Schwestern nervte – und seine knorrige Hartnäckigkeit, ein Beharren auf dem geistigen wie moralischen Recht, doch ohne es noch bezeichnen, geschweige herleiten zu können, argumentativ. „Es kommt bei Freunden nicht darauf an, ob sie gleicher Meinung sind, sie können politisch auch Gegner sein – worauf es ankommt, ist“, so lernte ich von ihm, „ob sie einander, wenn sie verfolgt sind, verstecken, auch wenn das ein hohes Risiko bedeutet.“ Häng ich am Kabel, erwarte ich, daß du es ziehst. Er wolle jetzt hinaus, sagte er, um Blümchen zu pflücken.
Die Freundin und ich begleiteten ihn. Es stürmte, aber kurz hatte es zu schnee- und hagelregnen aufgehört; keine fünf Minuten zuvor hatte sich noch ein dichter Vorhang aus scharfen, fast waagrecht dahingeschossenen Pfeilen, gerichteten Schrapnells gleich, vor das große Fenster und über ganz Würzburg gezogen. – „Das sind aber nicht die richtigen Schuhe“, wandte die Freundin ein. „Dochdoch“, entgegnete er und zeigte ihr später die Sohlen. „Siehst du, dick genug und kaum schmutzig geworden.“
Gänseblümchen, mit zwei Fingern zu einem Sträußchen gefaßt, auf dem Tisch dann gedrittelt. Mit zwei dieser Gärbchen, „ich bin gleich wieder da“, ging er langsam auf den Gang und zur Nachbarstation hinüber, wo die Frauen liegen. Nach denen habe er, kaum aus dem Koma erwacht, gefragt. Und schon eine nächste Freundin gesucht. Auch also sein Galanz war geblieben, lebenslang Casanova und, Liebste, Freigeist ganz wie der – noch jetzt im Reflex; ob als ein Reflex nur, das kann ich nicht sagen. Doch der Charakter ist offenbar stetig. Der wäre n i c h t Ich? – Herr Trapp, Sie haben geirrt. Doch die Rührung, mit der man dies ansieht, hätte mein väterlicher Freund nicht ertragen; sein Stolz, nicht sein Wesen ist verletzt.
Genau deshalb nahm er nun abermals diesen Brief vor und versuchte erneut, hinter den Sinn der juristischen Syntax zu kommen. Doch stand hinter jedem einzelnen Wort eine so umfassende Drohung, nämlich die der nackten Erkenntnis, daß sie sich nicht wahrnehmen ließ, ihm sich versperrte.
Einmal wurde die Tür geöffnet, ein eleganter Mann schaute herein, sah uns beieinander und entschuldigte sich, schloß die Tür wieder. Barsch sah mein Freund zu mir und bellte, weshalb ich „die Frau“ weggeschickt hätte. Gönnst du mir meinen Flirt nicht? „Es war keine Frau“, sagte ich, „es hat sich nur jemand im Zimmer geirrt.“ Er glaubte mir nicht und grollte etwas weiter. Dann vergaß er den Vorfall, weil immer noch dieser Brief vor ihm lag. Ich überlegte, wie ich ihn vom Tisch bekäme, steckte ihn ein, als zum Abendessen gerufen wurde, und behielt ihn bei mir. Ein Übergriff, welch ein Übergriff! spürte ich. Und doch war er nötig. (Wer entscheidet, ob nötig? Daß man entscheidet! So, eines Tages, wird auch über mich entschieden werden? Will ich das? Hätte er es gewollt? Ganz sicher nicht.)

Und gestern, Liebste, ist er ausgerückt. Die Freundin rief mich im Zug an. (Schon daß ich „ausgerückt“ schreibe! als wäre er wirklich ein Kind -). Drei Stunden hat sie ihn gesucht, schließlich wieder aufgegriffen und zurückgebracht. Er habe nicht protestiert, aber ich sehe sein Grinsen: ‚Hab ich euch an der Nase geführt? Und ihr glaubt, ihr führt m i c h?‘ Auch seine Tabletten, oder einige von ihnen, spuckt er heimlich wieder aus und sammelt sie in einem Tempopäckchen; auch darin derart Herrn Lanmeister ähnlich, daß man erschrecken könnte:

Genauso mit den Tabletten. Deshalb nehme ich sie auch nicht mehr, obwohl Tatiana so aufpasst. Ich nehme also die Pillen zwar in den Mund, aber spucke sie hinter­her aus. Das ist nicht immer leicht, weil ich ja gleich etwas trinken soll, um sie hinunter­zuspülen. Eigentlich muss das herunter heißen, weil es in einen hineingeht, also viel nä­her an einen heran. Sonst wäre man außerhalb von sich selbst. Aber ich habe mit Tic­Tacs geübt. Denn vom Zahnarzt weiß ich, dass ich eine Tasche, hat er gesagt, hinten im Zahnfleisch habe. Wegen der soll ich besonders sorgfältig mit der Zahnseide sein.
>>>> Traumschiff, TS 38/39

Und möchte aber Mitwisser haben. Grinsend, eben: grinsend, zog er das Päckchen aus seinem rollbaren Nachtschank und hob es vor unsere Augen. Immer den eigenen Willen behalten, auch gegen die Vernunft. Ein Ich bleiben, das sich nicht fremdlenken läßt.

Ich habe ihm, Liebste, viel zu danken. Darf ich zulassen, daß Sohn und Vater sich verkehren?

Das geht in mir um. Davon mußte ich Dir schreiben.

A.

2 thoughts on “Eines Geistes Zeit. Das Untriest 56 aus, teils, Frankfurt am Main: Von Donnerstag, dem 2. , bis zum Sonnabend, dem 3. April 2015.

  1. Heinrich Schirmbeck In Heinrichs letzten Lebensjahr gab es eine Situation – wo ich lächelnd seine Hände hielt und sprach: “Gerade bin ich Deinem [Inneren Kind] begegnet und erreichte ihn und wir Beide lachten. Diese Begegnung werde ich nie vergessen…auch weil Heinrich mir immer vergebens erklärte was das [Innere Kind] bedeutet. Lieben Gruß

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .