Nun ist das Undenkbare da,

weil es denkbar war:

[Arbeitswohnung, 9.30 Uhr
Kinderrufen: Erste Pause in der nahen Kollwitzschule
Ein Hauch von Sonne, die sich nicht traut, der → Nach-
richten, meine ich, wegen
Erster Latte macchiato und Angst]

Alle Seiten, außer der Ukraine, wo schlichtweg nicht nachgedacht wurde, haben unrecht oder allenfalls teilrecht, jede Seite streicht ihr Recht heraus und ist zugleich doch, eben auch der Westen, in- und miteinander schuldhaft verzahnt. Das “beste” Beispiel bei uns ist dafür Gerhard Schröder, aber “beste” alleine, insofern er das sichtbarste ist. Richtig an Putins entsetzlicher Rede ist, daß die NATO nach Fall der Sowjetunion nachtreten wollte und es getan hat: den noch treten, der schon fiel. Der hellsichtige Profi, vor nahezu zwanzig Jahren, hat es so gesagt; ich hatte es vergessen. Nun steigt der Satz wieder auf.
Wir wissen nicht, keine und keiner von uns, was geschehen wird. Doch weitet der Krieg sich aus, wird Europa ein Schauplatz werden, der kein Showplatz ist, vorbei die Goldenen NEUEN Zwanziger Jahre, vorbei wie fast schon einmal. Es wäre auch ein Krieg dinglicher Macht gegen bis ins sogenannte “Woke” überfeinerte Dekadenz. Zu dem bedrohlicherweise hinzukommt, daß auch China ein dermaßen mächtig gewordenes oder werdendes Rußland zu unterlaufen versuchen wird.

Die Frage aber, die ich mir persönlich stelle, ist eine existentielle. Wenn geschossen werden wird, wo die mir nah sind leben, wie verhalte ich mich? Hier, in Wien oder Frankfurt am Main. Spielt, wer Recht hat, dann eine Rolle? Ließe ich meine Lieben, falls ich das Recht auf der anderen Seite sähe, deshalb umkommen, oder stelle ich mich ihretwegen mit auf die unrechte Seite und kämpfe, so weit ich es vermag, für sie mit? Mein Sohn sagt, weder er noch seine ganze Generation würden sich einziehen lassen, sondern den Waffendienst verweigern und ins Gefängnis gehen. Das wäre eine Hoffnung, allein schon, weil das Strafsystem mit sowas komplett überfordert wäre. Doch die Hoffnung ist naiv, denn es würde Kriegsrecht gelten. Mir gegenüber steht eine russische Familienmutter mit MP im Anschlag. Ihre Kinder sind drei, vier und neun Jahre alt. Die bangen zuhause. Doch sie zielt auf meinen Sohn. Wenn ich eine Waffe habe, werde ich selbstverständlich schießen. Auch wenn sie gar nichts kann für den Krieg. Auch mein Sohn kann für ihn nichts, so wenig wie ich selbst. Doch nicht einmal das werde ich überlegen, überlegen nicht können, es ist keine Zeit. In demselben Augenblick, in dem meine Gedanken ansetzen, ist mein Junge schon tot. Der zweite Schuß der Familienmutter, die zuhause gütig und voll der Liebe ist, streckt mich selber nieder, weil ich nachgedacht habe, anstelle zu handeln. Bei einem russischen Familienvater wäre es das gleiche. Und bei einem russischen Jugendlichen, der von seinem Einsatz vielleicht sogar überzeugt ist und auch nicht nachdenken darf, wer das eigentlich ist, den sein nächster Schuß niederstrecken wird. Es wird, alleine, um zu überleben, immer nur “der Feind” sein. So wie auch für mich.

Vor Jahren habe ich darüber ein von → Robert HP Platz verfaßtes Libretto verfaßt; weil ich eigentlich sprachlos bin — aus Wien schickte mir Elvira M. Gross soeben den Satz: “Ich bin so erschüttert” —, stelle ich es hier ein. (Die erste Fassung stand → schon einmal in Der Dschungel; dies hier ist die letzte Fassung). Die kurze Oper, eher Melodram, wurde im Januar 2005 bei → Éclat in Stuttgart uraufgeführt:

 

L e e r e  M i t t e  : Lilith

Oper von Robert HP Platz
Dichtung von Alban Nikolai Herbst

Die eingerückten Texte werden trocken gesprochen.

Ein Offizier (Oberstleutnant) steht in nachlässig angezogener Uniform an einem Fenster. Der Raum wirkt wie ein Bunker. Es liegen Mörtelbrocken und Steine am Boden. Der Mann ist unrasiert, er scheint übernächtigt zu sein. Hinter ihm auf dem Tisch ein Gewehr und eine Mineralwasserflasche.

Lauscht.
Weil ich schwieg

Steckt sich eine Zigarette an.

Was tu ich jetzt Sie warten
Ich spüre wie sie warten
Warten

Öffnet das Fenster: Verkehrsrauschen (aus HORIZONTE ARCHITEKTUR nehmen, aber mit heftigeren Hup- und Bremsgeräuschen anreichern: Stadt, nicht Land).

Rauschen dieses Rauschen
In mir
Aus mir
Aus Dir Ich spreche
Trag noch Deine Kette immer mal wieder
Sie haben geschossen Es war vorherzusehen
Ich weiß ihr wart nicht da
Wir sind bei Deiner Mutter
Hörst Du das
Sie scheinen näher als meine Haut als mein Kind
Scheinen näher als mein Leben zu sein
Siebenhundertfünfzig Schuß pro Die Frauen Minute
und man sieht nichts sieht gar nichts

Lauscht.

EINWURF SCHLAGZEUGER: Träumen Sie?

Lauscht.

Manchmal frag ich mich
Lichterströme rotweiß darüber dieses
Neongrün ah meine Augen
Zweitausend Menschen allein in diesem Quartier
Zehntausend drüben ein brodelndes
Anderthalb Millionen viereinhalb
Siebenhundertfünfzig Schuß Der
Schatten Der Manta Der Körper ein fliegender blaudunkler Mantel
an den Flossen des Bürgerparks wogen die Häuser Er wendet
Zieht einen Halbkreis ein schwimmendes Flugzeug am Boden
Eine neue Qualität der Bedrohung[1]Schlagzeile aus dem STERN
Teilnehmen müssen, Jana, teilnehmen müssen und
Für unseren Jungen kämpfen mit der falschen Partei
Was wirst Du tun
Ich warte ab
Weil ich schwieg
Immer wieder seh ich das Kind mit nackten Sohlen in den
Siebenhundertfünfzig Scherben
Als Du gingst mit dem andern
Sind so kleine Füße[2]Liedzeile von Bettina Wegener
Ich kam wieder
Aber gingst

Sieht sich um. Dreht sich zurück.
Lauscht.

Das Gewehr ich stürz mich
wer hat geahnt daß nicht d i e
Und haben den Mond umgerührt
Mänaden den Schaum auf den Lippen verrieben
Quer auf den Wangen der Blutstrich
Als Du gingst An den Wänden
Umgestürzt der Tisch die Platte der Marmor
Alles ist ein großer Regreß
Siebenhundertfünfzig Das Rauschen Das Rauschen
Wir sind jetzt nach außen gestülpt Sind die Stadt
Sind Motoren Sind künstliche Arme
Wir haben unsere Nieren den siebenhundertfünfzig
Netzen geschenkt Über mich
Über uns geworfen Die Schulterstütze
Angeklappt Unsichtbar leimig
Ganze Städte gefangen Du gingst
Ich ging Ging schon lange
Hätt Dich bei mir jetzt so gern Dich und den Jungen Ich
Stürzte jetzt nicht so hinaus Wollte bewahren

Lauscht.

EINWURF SCHLAGZEUGER: Sie sollten wirklich gehen. Man wartet auf Sie.

Lacht kurz auf.

Sie nennen uns maschinoid Haben
Recht Haben Begriffen Ich bin
an Die Siebenhundertfünfzig gedockt
An die Begriffe Ich kämpfe

Lauscht.

Fürs Unrecht zur Bekämpfung der lebenden Kräfte
in splittersicheren Westen Unser Feind [3]Zitat aus einer – nicht mehr erreichbaren – Rußlandsite
ist das Leben Mänaden Der Blutstrich
Du gingst
Du gingst Warst längst gegangen Da
Ging ich Du gingst Maschinenopfer
Leise schleicht das die Treppen herauf
Acht Stockwerke Ein guter
Blick Ich höre das Quietschen der Ledersohlen
Nun stehn sie schon draußen vielleicht
Den Lauf an der Schulter Den Finger
Am Abzug auch sie Links und rechts
Der Tür Warten An den Flossen des
Bürgerparks wogen die Häuser Der Manta
Wendet Schwimmt die Treppen herauf

Lauscht.

Ich höre nichts Alles rauscht ruhig
Keine Funken sprühen Kein Feuerwerk Kein
Parlament gesprengt Kein Kaufhaus Alles
Gekehrt unter den metropolen Lichterteppich Den
Klangstoff Das Gewebe nach innen rufender, sich verknorpelnder
Schreie Unter dem fliegenden blaudunklen Mantel des Fischs
Dessen Schatten sie erstickt Du gingst Da brachen die
Frauen aus den Kellern Schwirrten hoch aus der Luft
Schossen wie Wespen herunter Entzündeten Feuer
Drei Wochen glühten sie auf den Dächern
Wir verstanden es nicht Dann
Waren sie fort Waren verschwunden Du gingst
Ich ging, als Du Dich schon abgewandt hattest
Maschinenopfer Ich dachte
Du gehst zu den Frauen
Ich bin zu Deiner Mutter gegangen
Ich wäre gegangen Mit Euch
Jetzt Auf einmal Dein ewiger Dienst
Zu Sternen schau ich führerlos hinan*
In die siebenhundertfünfzig Pupillen des Sturms

Dreht sich zum Schlagzeuger. Mit Kopfnicken zum Fenster:

ZUM SCHLAGZEUGER: Hörn Sie das?
SCHLAGZEUGER: Was?

Winkt ab. Lauscht.

In ihrem Silberlaub und kühlen Strahle[4]Stefan George, Waller im Schnee
Er breitet sich aus und wächst Der Schatten
Faßt schon die Fronten der Häuser mit
Seiner dicken flüssigen Hand
Die ihn umstehn Und er kriecht auf die Dächer
Leckt aus den verloschenen Feuern der Frauen
Die Schlacke Die seinen Mantel nährt Blaudunkel
Fällt er hinten in die verborgene Straße hinunter Über
Die Straße und drüben wieder hinauf Ich muß nur warten
Schon gleitet der Manta aufs nächste Dach
Und sucht
Sucht die Frauen die Wespen die Hüften
Sind mit sich selbst bewaffnet und ihrem Eoé
Das wie Frost ist und die Hähne vereist Die
Kugeln schmelzen im Lauf und tropfen klirrend
Aus der springenden Mündung noch während ich
Ziele siebenhunderfünf-

Bricht ab.

ZUM SCHLAGZEUGER: deutlich ungeduldig. H ö r n Sie das?!
SCHLAGZEUGER insistierend. Sie müssen g e h e n.

Lauscht.

-zigfach eine metallene Pfütze zu
Meinen Stiefeln schon die Kappen verätzt
Man müßte weichen zurückweichen dürfen
Halt! Rufen können Alles bitte Du gingst
Noch einmal von vorne Jana sag meinem Sohn
Sag es ihm selbst Ich werd die Zeit nicht mehr
Haben Sie haben das ganze Treppenhaus besetzt
Ich hör Ihre weichen Mokassins Wieder Da Wieder

Wendet sich um.

ZUM SCHLAGZEUGER unbeherrscht. Ja, hörn Sie das nicht?!

Wendet sich zurück.

Es fließen Geräusche Wie still kann der Lärm sein
Und Lichter zusammen Ein tobender Stummer
Der in der ferne bis zum himmel schwillt*
Einem Himmel wie ausgediente Monitore Blank
Und stumpf warten sie auf nichts mehr als auf
Reflexe die sich kurz ihrer bedienen um den Absprung
Zu finden in den anderen Himmel den
Die Frauen verheißen heruntergefallene Meteoriten
Antikryptone einer wehrhaft gewordenen Rauschen das
Rauschen Hoffnung die Zähne hat und zwischen den
Zähnen fliegend blaudunkel den Manta Er hat längst
Nach dem wiedernächsten Viertel hinübergefaßt Er
Wächst Du gingst Wenn ich nur euch in Sicherheit
Weiß Was weißt du schon? Sag meinem Sohn daß ich
Ihn liebe.

Wendet sich schroff vom Fenster ab.

ZUM SCHLAGZEUGER: Wolln Sie mein Silberlaub haben?

***

Einen, Freundin, anderen Beitrag zu den Geschehen habe ich heute nicht.

ANH

 

References

References
1 Schlagzeile aus dem STERN
2 Liedzeile von Bettina Wegener
3 Zitat aus einer – nicht mehr erreichbaren – Rußlandsite
4 Stefan George, Waller im Schnee

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