Björn Larssons “Long John Silver” ODER Stevenson, hinreißend weitererzählt.

[Geschrieben 1996 für den Deutschlandfunk Köln
Dort auch produziert und ausgestrahlt[1]Der Sender → gibt als Datum den 1.1.1980 an, was definitiv nicht richtig sein kann, denn mein Tet wurde erst 1996 geschrieben – in eben dem Jahr, in dem das Buch erst erschien.]

Besetzung
Junge

Sprecher 1
Sprecher 2

Junge:  Squire Trelawney, Dr. Livesey, and the rest of these gentlemen having asked me to write down the whole particulars about Treasure Island, from the be­ginning to the end… verhallt.

Sprecher 1 darübergeblendet und schließlich allein: Gutsherr Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen Herren haben mich gebeten, unsere Fahrt nach der Schatzin­sel vom Anfang bis zum Ende zu beschreiben, und dabei nichts zu verschwei­gen als die genaue Lage der Insel, und zwar auch dies nur deshalb, weil noch jetzt ungehobene Schätze dort vorhanden sind. So ergreife ich die Feder…

Sprecher 2: Mit diesen Sätzen beginnt einer der tatsächlich großen Romane der Weltlitera­tur. Zwar hat ihr Autor, Robert Louis Stevenson, notiert, es habe eine „Geschichte für Buben“ werden sollen, „ohne jede psychologische Tiefe und Wortkunst.“ Jedoch ist „Treasure Island“ in den Kanon der Kinder- und Ju­gendbücher aufgrund einer archetypischen, nämlich mythischen Prägekraft eingegangen. Diese teilt es mit etwa Hermann Melvilles „Moby Dick“, der sich dessen aber bewußt gewesen ist und seinen Roman eben nicht als Ju­gendbuch geschrieben hat. Gleichwohl ist für einen literarischen Text wahr­scheinlich nichts raffinierter oder wenigstens glücklicher, als für ein Jugend­buch zu gelten und wie eines für Erwachsene weiterzuwirken oder eben vom sogenannten Ernsten ins Kindliche hinabübersetzbar zu sein, um in den jungen Gehirnen Welten aufzufalten. Der sogenannten Erwachsenenliteratur ist genau dies verwehrt. Denn alles, was ein Autor durch sie mitteilen und wozu er seine Leser verführen will, trifft auf längst zugeprägtes Gebiet und pragmatischste Abwehrmechaniken. Dieses Problem haben Autoren wie Stevenson, Kipling, Carrol und – gewissermaßen versehentlich – Melville und Swift umgangen. Raffinierter, aber weniger nachhaltig war Hermann Hesse: Indem seine Bü­cher besonders auf Pubertierende wirken, formen sie das Literaturverständnis junger Erwachsener und legen sich für ein paar Jahre über die früheren, my­thischeren Prägungen. Irgendwann brechen die aber durch und dann… ja dann setzt sich ein erwachsener Schriftsteller hin – nennen wir ihn Björn Larsson – … setzt sich hin und schreibt einer fantastischen Seelenperson seiner Kindheit die Autobiografie.

Sprecher 1: Wir schreiben 1742. Ich habe lange gelebt. Die ich gekannt habe, sind alle tot. Einigen von ihnen habe ich selbst in jene andere Welt verholfen, falls es sie gibt. Ich hoffe jedenfalls mit aller Kraft, daß es sie nicht gibt, denn in der Hölle würden wir uns alle wiedersehen. Pew, der Blinde, Israel Hands, Bill Bones, Morgan, der Idiot, der es gewagt hat, mir den Schwarzen Fleck zu verpassen, und die anderen alle, und sogar Flint, Gott steh ihm bei, falls es Gott gibt.

Sprecher 2: So nämlich beginnt die fiktive Autobiografie des Schiffkochs, Kneipiers und Piraten Long John Silver, genannt Barbecue, niedergeschrieben von einem 43jährigen See- und Universitätsfahrer, eben jenem schwedischen Schriftstel­ler Björn Larsson. Sein Buch erschien mehr als zweihundert Jahre nach Sil­vers Tod. 1995 kam es in Stockholm heraus und erschien nun, in diesem Jahr, von Jörge Scherzer ins Deutsche übertragen, im Berliner Berlin-Verlag.

Sprecher 1: (…) vor dem Tod haben sie sich niemals gefürchtet, im großen und ganzen war es ihnen egal, ob sie lebten oder starben. Und doch hätten sie sogar in der Hölle Angst vor mir. Warum? frage ich. Alle hatten Angst vor mir, sogar Flint, der im übrigen der mutigste Mann war, den ich jemals gesehen habe.

Sprecher 2: Das spricht ein Mann, dessen Wirkung sich allerhöchster Ambivalenz und dabei schärfstem Profil verdankt. Jim Hawkins beschrieb das einst so:

Junge: Während ich wartete, kam aus einem Nebenzimmer ein Mann heraus, und ich sah auf den ersten Blick, daß dies Long John Silver sein müsse. Sein linkes Bein war dicht an der Hüfte abgenommen, und unter der linken Achsel hatte er eine Krücke, die er mit wunderbarer Geschicklichkeit handhabte und an der er herumhüpfte wie ein Vogel.

Sprecher 2: Er hat nämlich, darauf legt sein postmortaler Autobiograf sehr viel Wert, kein Holzbein, wenn das auch bei Stevenson selbst mißdeutig ist. Anläßlich der be­rühmten Szene in der Apfeltonne ruft John Silver einmal aus:

Sprecher 1: I was quarter-master, along of my timber leg.

Sprecher 2: Offenbar hat er so aber seine Krücke genannt; auf diese Mißdeutigkeit ist selbst die genaueste Verfilmung dieses Stoffs hereingefallen, nämlich Wolf­gang Liebeneiners Fernseh-Inszenierung mit dem ungemein magischen Ivor Dean.

Junge: Er war sehr hochgewachsen und stark, mit einem Gesicht, so groß wie ein Schinken. Dieses Gesicht war häßlich und blaß, aber von klugem und lächeln­dem Ausdruck. Er schien wirklich in sehr lustiger Laune zu sein, er pfiff vor sich hin, wie er sich so zwischen den Tischen bewegte und die besonders be­liebten Gäste mit einem Scherzwort oder mit einem Schlag auf die Schulter begrüßte.

Sprecher 2: Das Englische deutet die Ambivalenz dieser dräuend-hüpfenden Gehobenheit noch gehässiger an: „he seemed in the most cheerful spirits“, – welch ein net­ter Kerl, denkt man, und doch sträuben sich einem bereits die Nackenhaare. Diese un/heimliche Ambivalenz geht in Larssons Buch leider verloren. Indem der Autor Björn Larsson den Piraten John Silver selber erzählen läßt, nimmt er ihm sein Geheimnis, denn nun ist alle Erzählung Erklärung.

Sprecher 1: „Wird man denn in diesem Land für alles gehängt?“ rief ich, wußte aber, daß es so war. Wie viele waren schließlich Glücksritter geworden, weil sie wegen irgend etwas gehängt werden sollten, Bagatellen zumeist.

Sprecher 2: Und der schillernde Pirat wird unversehends zu einem „eigentlich guten“ Menschen, – anstatt daß er böse und gut bleibt, so wie es schönen Charakte­ren ansteht.

Sprecher 1: Ich bin der einzige, der übrig ist. Daß es auf diese Weise enden würde, hätte ich schon längst begreifen müssen. Ein offenes Logbuch war mein Leben, aber habe ich jemals in ihm gelesen, ehe es zu spät war? – Einsam also, bis der Tod mich scheidet. Das ist wohl der Preis, so vermute ich, den man auf diese Weise zahlen muß, wenn man sich den Rücken freihalten will. War es teuer oder billig, fragt ihr? Soll man lachen oder weinen?

Sprecher 2: Ja paßt so etwas denn zu dem Einbeinigen, der im selben Moment Verachtung und Liebe auf sich zu ziehen und wie ein wahrer-Teufel sich elegant im Nor­men- und Moralsystem zu bewegen weiß, aber jederzeit die Maske der Do­mestizierung sich vom Gesicht reißen kann, um dahinter ganz tüchtig mit den Zähnen zu fletschen… – und schon streicht er sich ein zivilisiertes Lächeln übers Antlitz zurück, — paßt eine solche Altersklage zu einem, von dem Dr. Livesay, noch nachdem Silver als Pirat entlarvt worden ist, auszurufen nicht umhin kann: „A very remarkable man“?

Sprecher 1: Männer wie mich hängt man nicht, damit sie ihre Strafe erhalten oder um an­dere abzuschrecken, vielmehr, damit man vergessen kann, daß sie ein Leben verbracht haben, das ebenso lebenswert war wie das viele anderer.

Sprecher 2: Eben nicht! Sondern damit man den Verdacht erstickt, das Leben solcher Leute wie Silver, also jenseits der Normen, sei überhaupt erst lebenswert – und alle anderen seien es nicht. Woran ja etwas ist. Aus eben diesem Grund lassen sich Jugendliche und manchmal auch Erwachsene noch in solche Wel­ten entführen. Nicht umsonst haben Abenteuerwelten auch einige hoch-litera­rische Denker geprägt: Weder Arno Schmidt, noch Borges, noch Hans Carl Artmann wären ohne dergleichen vorstellbar.

Sprecher 1: Macht man Männer wie mich zu Feinden der Menschheit, verurteilt sie zum Tode und hängt sie, dann nur deshalb, weil ihr sonst nicht wüßtet, was gut ist und was schlecht auf dieser Welt.

Sprecher 2: Auch hier erkennt man, daß Silver diese Autobiografie nicht selbst geschrie­ben hat – wahrscheinlich hätt’ er sie sowieso nicht geschrieben -, denn was sollte ihm daran gelegen gewesen sein, der Welt eine Vorstellung von ihrer Struktur zu geben? Gelacht hätte er wohl und eine nächste Attacke auf die Ordnung geritten, von der, nun nicht zu Unrecht, Larsson den Silver sagen läßt, wie scheinmoralisch sie sei.

Sprecher 1: Für den Diebstahl eines Sacks halbverfaulter irischer Kartoffeln erhielt man dieselbe Strafe wie dafür, daß man einem Seekapitän den Hals durchschnitt.

Sprecher 2: Und dem Gutsherrn Trelawney wie Dr. Livesey nachzusagen, sie hätten ihren Anteil an Flints Schatz in den Sklavenhandel gesteckt, zeugt von einer ausge­sprochen realistischen Bosheit. Sie findet ihre Entsprechung in der Gegen­wart, da diejenigen, die für die belgischen Kinderschänder die Todesstrafe fordern, ihre Ersparnisse zugleich in Aktienfonds stecken, die mit Kriegswer­ten bis an die Zähne bespickt sind. Das tiefe Wissen um solche Sachverhalte gibt Long John Silver sein Recht. Und doch ist sowas letzten Endes nur Ra­tionalisierung und verfehlt den eigentlichen Reiz. Der liegt eben im Verbote­nen-für-sich, besteht darin, daß es einer wagt, sich regelwidrig hervorzutun und sein lebendiges „Hier bin ich!“ zu rufen. Diesen Anarchismus mit sozia­len oder psychologischen Verhängnissen motivieren zu wollen, bricht seine Magie. Allerdings, in Silvers Fall besteht sie vorwiegend aus Korruption; in­dessen aus einer, die vor lauter Lebenshunger etwas zutiefst Verachtungsvol­les hat. Eben der läßt Silver seinen Einfluß auf die Leser verüben.

Sprecher 1: Leute dazu zu bringen, daß sie leben wollen, ist immer eine meiner starken Seiten gewesen. Dennoch habe ich niemandem das Leben leichtgemacht,

Sprecher 2: läßt Björnson ihn sagen. Und er schließt:

Sprecher 1: Das eine geht nicht ohne das andere, das ist meine Lehre.

Junge: Was schmeckte mir das Abendessen heute, da alle meine Freunde um uns her­umsaßen! (…) Niemals waren Menschen lustiger, davon bin ich überzeugt. – Und Silver war auch dabei; er saß beinahe im Dunkeln, seitwärts von uns an­deren, aber er aß mit herzhaftestem Appetit, immer dienstbereit aufspringend, wenn irgend etwas gewünscht wurde, und sogar ganz gemütlich in unser Ge­lächter einstimmend – derselbe höfliche, freundliche, diensteifrige Seemann wie auf der Ausreise.

Sprecher 1: Nun, sieh mal her, Jim Hawkins! Du bist einen halben Fuß breit vom Tode entfernt, und, was noch schlimmer ist, von Folterung. Sie werden mich abset­zen, aber merke dir: Ich halte zu dir durch dick und dünn. Ich wollte das ei­gentlich nicht (…). Ich war beinahe verzweifelt, all das schöne Geld zu verlie­ren und obendrein noch an den Galgen zu kommen! Aber ich sag, du bist von der rechten Sorte. Ich sagte zu mir selber: du stehst Hawkins bei, John, und Hawkins wird dir beistehen. Du bist sein letzter Trumpf, und beim Donner, John, er ist deiner jetzt! Rücken gegen Rücken, sag ich! Rette du deinen Zeu­gen, und er wird dir deinen Hals retten – so sag ich dir!

Sprecher 2: Jahre später, kurz vor seinem natürlichen Tod, schreibt Silver durch Björn Larsson an den unterdessen längst erwachsenen Jim Hawkins:

Sprecher 1: Jim, ich übergebe Dir diese Seiten. Es handelt sich bei ihnen sozusagen um mein Logbuch. Auf meine alten Tage vertrieb ich mir die Zeit mit der Erinne­rung, wie alte Leute es tun, und schrieb nieder, wie es war, John Silver zu sein.

Sprecher 2: Indessen, im Wissen, daß ihm eben dieses Logbuch die Magie ausgesogen hat, muß er sie im Nachhinein zurückbeschwören:

Sprecher 1: Aber ich bitte Dich, nimm John Silver nicht das einzige Leben, das er besaß.

Sprecher 2: Weil nämlich Björn Larsson befürchtet, es ihm genommen zu haben.

Sprecher 1: Eines Tages wird es vielleicht einen geben, der weiß, daß er tatsächlich gelebt hat, und daß er trotz allem eine Art Mensch gewesen ist. Dann hat er zumin­dest nicht vergeblich gelebt, so wie viele andere, zu niemandes Nutzen.

Sprecher 2: Das liest sich nicht von ungefähr wie eine Entschuldigung. Doch sei sie Björn Larsson gewährt. Denn er versöhnt uns nicht nur mit der wundervollen Erfin­dung, es habe einst Daniel Defoe für seine berühmte „Allgemeine Geschichte der Piraten“ Silvers Bekanntschaft gemacht. Mit dem unterhält sich Silver nun alle Buch-Zeit imaginär:

Sprecher 1: Ja, Herr Defoe, sicherlich erkennt Ihr an diesen Szenen aus meinem Leben, wie schwer es einem wie mir mitunter fallen mußte, unter Menschen zu leben, die waren wie alle Menschen.

Sprecher 2: Als ein noch junger Mann begegnen sich der Pirat und der Chronist der Pira­ten:

Sprecher 1: Unter allen bekannten Namen und Orten war der „Angel Pub“ der Ort, an dem man Hinrichtungen verfolgen konnte. (…) Als ich dorthin kam, baumelten drei Verurteilte an ihren Galgen. Sie streckten mir ihre blauschwarzen Zungen entgegen oder das, was davon übrig war (…). Über das Lokal selbst gibt es nicht viel zu berichten (…). Ein einziger hob sich von der Menge ab. Ein Mann mit Perücke, die, zwar nachlässig, gepudert war, mochte sie dazu auch zerfranst sein (…). „Ihr scheint Euch für Hinrichtungen zu interessieren“, sagte der Mann (…),

Sprecher 2: der sich einen „Buchhalter des Lebens“ nennt, eine der sehr schönen Findun­gen Björn Larssons, zumal in der nun folgenden Dialogszene auch Israel Hands auftritt, den man ja aus der „Schatzinsel“ allerbestens kennt. Einmal abgesehen davon, daß sich Larssons „Long John Silver“ wie ein Schmöker liest – worauf das Buch sicherlich auch angelegt ist -, hat man als ich möchte sagen: Eingeweihter sein besonderes Vergnügen, wie dieser Autor seine Ge­schichte in die Lücken der andren Geschichte hineinschreibt. Allerdings leben die meisten Figuren nur aus der Vorlage, für sich genommen wären sie, Defoe beiseite, zu griffig, schal nämlich und allzu-moralisch. Allerdings hat uns Larsson eine Frauenfigur geschenkt, die einzige Person seines Romans viel­leicht, die er wirklich liebt. Jim Hawkins hatte von ihr nur im Nebenbei er­zählt. Dieser Frau gibt Björn Larsson nun alles, was er Silver nimmt. Der er­zählt die Geschichte ihrer beider… ja: ob Liebe? – das läßt sich nicht entschei­den.

Sprecher 1: Dolores, ganze neunzehn Jahre lang sind wir zusammen gewesen, ohne dar­über zu sprechen.

Sprecher 2: Er lernte sie, splitternackt, eine zu musternde Gefangene, auf einem Sklaven­schiff kennen.

Sprecher 1: Ich (…) hielt den Mund, bis ich plötzlich in zwei Augen sah, die mir gerade in die Seele zu blicken schienen (…), ohne zurückzuzucken wie die anderen. Ich hatte den Eindruck, sie wußte, zu welcher Sorte ich gehörte, und sogar, daß sie verstand, was ich sagte. (…) Sie war gemeißelt wie die Galionsfigur auf einem Admiralsschiff, und sie schämte sich nicht. Nein, dachte ich, das ist keine von den anderen.

Sprecher 2: Doch Butterworth, der Kapitän des Schiffes, beansprucht sie für sich, und zieht sie mit sich in seine Kajüte.

Sprecher 1: Ich sah ihr nach und bildete mir ein, ihr Blick bliebe zurück. Und dann sah ich, wie sie lächelte, ein Lächeln, das jedem weiche Knie bereitet hätte, aus Schrecken und aus Furcht. Denn schön war dieser Blick nicht. Butterworth aber war zu erfüllt von seinem kommenden Glück, um etwas zu merken.

Sprecher 2: Daß dem Kapitän die vermeintliche Liebesnacht nicht guttun wird, ist offen­kundig. Was indessen diese stolze Frau an ihm vollzieht, sei hier hämisch verschwiegen. Gleichwohl wird Dolores verkauft, und Silver trifft sie erst Monate nachher wieder. Es gehört nun zu ihrem Geheimnis, wie sich diese… nun ja: Liebe? – realisiert:

Sprecher 1: (…) wahrscheinlich war ich der einzige, der sie mit ihrer Zustimmung nehmen durfte. Und auch das nur ein einziges Mal, in der ersten Nacht auf der Insel, als Dankesbezeigung, nehme ich an. Später mußte ich mich damit begnügen, sie zu streicheln und gestreichelt zu werden, das jedoch überall. Sie war nicht prüde oder scheinheilig wie feine Leute, sagte aber, wenn ich sie ein Leben lang besitzen wollte, dann nur ohne Nachkommen. Ich willigte in ihre Bedin­gung ein, die einem wie mir natürlich erschien. Welches Gör hätte bei wachem Verstand auch einen Vater wie John Silver haben wollen?

Junge: Silver selbst schlief friedlich und schnarchte laut. Aber so schlecht der Mann war, er tat mir doch im Herzen leid, wenn ich an die düsteren Gefahren dachte, die ihn umgaben, und an das ehrlose Ende am Galgen, das ihn erwar­tete.

Sprecher 2: Björn Larsson hat eine erkennbare Lust daran, mit den vorgefundenen Parti­keln zu spielen und Stevensons „Schatzinsel“ als Teilchen in ein größeres Puzzle einzufügen, das wiederum aus Erfindungen und Zitaten besteht. Man könnte das ein postmodernes Verfahren nennen, bezöge es sich nicht seiner­seits auf Robert Louis Stevenson direkt. Nämlich schon der gestand:

Sprecher 1: Gestohlenes Wasser ist süß! (…) Ohne Zweifel gehörte der Papagei (den John Silver auf seiner Schulter trägt) einst dem Robinson Crusoe, ohne Zweifel ist das Skelett (das die Piraten während der Schatzsuche finden) von Poe entlehnt (…). Die Verschanzung (das Blockhaus der Piraten), glaube ich, stammt von „Sigismund Rüstig“ (…). Bill Bones, seine Schiffskiste, die Gesellschaft im Wirtshause, der ganze innere Geist und gut Teil des kleineren Materials mei­ner ersten Kapitel war alles geistiges Eigentum Washington Irvings. Aber (…) Mir schien es Original wie die Sünde und mir zugehörig wie mein rechtes Auge.

Sprecher 2: Und Björn Larsson schreibt:

Sprecher 1: Jedes literarische Werk ist zu einem Teil Eigentum seines Verfassers, zu ei­nem anderen, erheblichen Teil besteht es aus fremden Federn. Ich möchte darum den folgenden Personen für ihren geschätzten, wenn auch unfreiwilli­gen Beistand danken.

Stetig leiser werdend und schließlich überblendet vom Jungen und dann von Sprecher 1:

Daniel Defoe, Robert Louis Stevenson, Sven Deblanc, Gabriel García Mar­quez, William Golding, Albert Camus, René Char, Dostojewski, R.F.Delderfield, John Goldsmith, Patrick O’Brian, Tobias Smollett, C.M.Bennett, Henry Fielding, Machchiavelli, der Heilige Geist. (…) Kapitän Johnson (alias Daniel Defoe), Exquemelin, Thorkild Hansen, Michel Le Bris, Marcus Rediker, Gérard A. Jaeger, Gilles Lapouge, David Mitchell, William Dampier, Kåre Lauring, James Sutherland, Yves Kergof, Janne Flyghed, Thomas Anderberg, Erland Holmström.

Junge über Sprecher 1 gesprochen: The bar silver and the arms still lie, for all that I know, where Flint buried them; and certainly they shall lie there for me. Oxen and wain-ropes would not bring me back again to that accursed island; and the worst dreams that ever I have are when I hear the surf booming about ist coasts, or start upright in bed, with the sharp voice of Captain Flint still rin­ging in my ears: ‘Pieces of eight! Pieces of eight!’

Sprecher 2 nach Junge und ebenfalls über Sprecher 2 gesprochen: (…) und vielleicht war das Größte, was er in seinem Leben erreicht hat, daß er sich Nachruhm er­warb. So wie ich selbst. Denn damit hatte er wahrscheinlich trotz allem recht, ein Leben, das nach dem Tod nicht auf die eine oder andere Weise weiterlebt, auf dem Papier oder im Volksmund, ist Fliegendreck. Oder verdunsteter Tau.

______________
ANH, Oktober 1996
Frankfurt am Main

Quellen:

                            • Björn Larsson: Long John Silver, Der Abenteuerliche Bericht über mein freies Le­ben und meinen Lebenswandel als Glücksritter und Feind der Menschheit, Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer, Berlin: Berlin Verlag 1996

                            • Robert Louis Stevenson: Treasure Island, Harmondsworth, Middlesex GB: Penguin Books 1994

                            • Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel, aus dem Englischen von Heinrich Conrad, Leip­zig: Hesse & Becker o. J.

                            • Michael Reinbold, Robert Louis Stevenson, Monografie, Reinbek: Rowohlt rororo 1995

References

References
1 Der Sender → gibt als Datum den 1.1.1980 an, was definitiv nicht richtig sein kann, denn mein Tet wurde erst 1996 geschrieben – in eben dem Jahr, in dem das Buch erst erschien.

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