Distanzen: Eurasien

Das Leben von oben, und das Leben von unten. Verfallenheit überall. Der Gedanke an den freien Willen wird umso absurder, je tiefer man ihm in den Werken der Kunst nachspüren will, die ja etwas vom Menschenleben verstehen sollten. Bei Fukazawa auf eine sehr japanische Art. Wenn sich O Rin, weil sie noch gesunde Zähne hat und sich das für eine alte Frau nicht gehört (denn man sticht dadurch aus der Menge hervor, was nach japanischem Sozialverständnis ein Charakterfehler ist), mit einem Feuerstein immer wieder gegen die Vorderzähne schlägt, dann ist das nicht minder grausam als die Totschlags- und Mordszene in Irreversible. Autoaggression vedreht ja nur das Objekt. So gut waren ihre Zähne, daß sie sogar noch getrocknete Maiskörner damit zerknacken konnte. Selbst als sie älter wurde, war ihr kein einziger ausgefallen, so daß sie sich schließlich ihrer Zähne geradezu schämen mußte. Und in derselben, sich als Stolz tarnenden psychischen Ausweglosigkeit läßt sich die alte Dame auf dem Berggipfel aussetzen, um dort zu erfrieren. Alles andere ginge ihr wider die Ehre und hätte furchtbare Schuldzerknirschungen vor den Mitbewohnern, unter denen sich dann ganz ebenso nicht weiterleben ließe, zur Folge. Fukazawas „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“ sind sehr ruhig erzählt, beinahe wie von außen… doch einem Außen, das unvermittelt aus dem Innern ganz verschiedener Personen blickt. Das erzählerische Verfahren birgt eine Grausamkeit, ja Grauenhaftigkeit, die pastellen ist wie Tuschmalerei und doch voller Blut. Pastellen tritt ein Sohn seinem alten Vater, der n i c ht sterben will, in den Bauch und stößt ihn so den Berggrat hinunter. Dann läuft er heim. Er hat die Generationenfolge, bis e r dran ist, erledigt. Philipp wiederum opfert seinen Sohn der Staats- und Kirchenraison. Der europäische Kindsmord ist in der dynamischen Bewegung nicht anders und mindestens so obszön wie für einen Japaner die Tötung der älteren Respektsperson.

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