Mumien. Palermo.

In meinem Sizilienbuch beschrieb ich meine erste Begegnung mit Palermos Mumien s o:

Es ist sehr eigenartig, aus der gleißenden, dieser niederdrückenden Hitze in einen Keller, zumal eines Klosters – und dann eines solchen! – abzusteigen. Hinter der kleinen versteckten Pforte der Mönch in brauner, an der Taille umschnürten Kutte, die Kapuze nicht auf dem Kopf. Dichter Bart. Die Kollekte wird in ein Bastkörbchen hineingetan. Außerdem, für die Touristen, Verkauf von Postkarten und kleinen Katalogen. Nicht daß es eigentlich kühler würde, wenn man die Treppen der gekalkten, mehrfach zur Seite knickenden Gänge hinunterschreitet. Aber es stellt sich der Eindruck her. Es geht über Stein-, mal über Marmorplatten. Häßliche kleine Schächte zur Seite. Neonleuchten schwelen darin. Die Katakomben dann, lieblos und ernüchternd wie Mietskellerräume, vollgestopft: In den Wänden – doppelt, manchmal dreifach übereinander – endlose Muldenreihen, einfache Gerüste auch und Lagerregale, unten mit Gittern abgesperrt. In diesen Mulden und auf den Regalbrettern liegen, sitzen und stehen, auf Stöcke gespießt, mit Draht festgehalten, oft quillt das Stroh vor, mit dem sie vollgestopft wurden, – liegen, sitzen und stehen Leichen. Mumifizierte, verknitterte, teils nur noch knochige, teils aber auch im Fleisch vertrocknete und ganz selten, in Vakuumsärgen, gleichsam lebendig gebliebene, schlafende Körper. Rund achttausend Greise, Frauen, Kinder, Säuglinge, Reeder, Priester im Ornat, einer neben der anderen, oft mit Schildern um den Hals, wer sie gewesen, wann sie geboren, was sie getan. Kleinkindsmumien, in den Augen ein seltsam poröser Blick.
Es ist ziemlich laut im Gewölbe: Lachende Jugendliche, makaber quasselnde Frauen, Reisetrupps, Kameras, Geklicke, pietätloses Blitzlicht. Dumpf riecht es nach Staub, nach mürber Wärme, nach Insektennestern. Durch leere Augenhöhlen gefädelter Draht, zur Seite um Nägel gewickelt, die die Köpfe halten. Die Zeit frißt sich durch Mumien und Wände und weist die Lebenden ab. Nichts gibt es darum hier, was unheimlich wäre. Plötzlich wird es still.
Ein paar Schritte hallen noch von den Treppen her. Als wären die Leute mit einem knappen geräuschlosen Windstoß weggepustet. Ich bleibe mit den Toten allein. Zum letzten Luftschnappen, weil die Seelen nicht ablassen wollen, aufgerissene Münder. Als schrien sie im Tod. Das papierhafte Wangenfleisch verzerrt gegens Ohr. Alles ein letzter und verzweifelter Kampf. Und es ist nicht so sehr Rosalia Lombardo, das zweijährige Mädchen im luftdichten Sarg, den eine Glasplatte verschließt, damit man hindurchsehen könne, wie sehr schön sie noch sei, „sleeping beauty“ nennt ein Schild sie, Marienbild auf dem Deckchen über dem wahrscheinlich aufgeplatzten Bauch, orangesamtenes Schleifchen im Haar, 1920 gestorben, die Geschwister, sogar greise Eltern könnten noch leben, man stelle sich vor!, – und ebenso wenig die wohlerhaltenen Gesichtszüge eines hübschen jungen Mannes, in der Kapelle gleich daneben aufgebettet, die Augen noch in den Höhlen, blaue Augen, Tote haben immer blaue Augen, – und erst recht nicht sind es die Legionen eingetrockneter Säuglinge, manche zu zweit in Kindersärglein gesperrt… sondern wenn man die Eingangsstufen hinabkommt und geradeaus geht bis zu dem Bretterverschlag… ja, schau nach links, die letzten beiden Toten in der unteren Reihe dort: Dort ist etwas geschehen. Etwas leise Triumphales. Etwas Fürchterliches. Überheblich und sentimental.
Es gibt da nämlich zwei Menschen. Sehr eigenartig. Eine Nachlässigkeit. Denn obgleich man so strikt den Tod sortiert: Männer zu Männern, Frauen zu Frauen, Kinderreihen, Priester, Bischöfe, alle die zu ihresgleichen, – obwohl also alles so widerstandslos und kirchlich-bürokratisch sich hat einrichten lassen, ist doch der Schädel einer… ich mag nicht „Mumie“ zu ihr sagen: – ist der Schädel des einen auf die Schulter des nächsten Toten gesunken, auch berühren sie einander an den Händen, wie unabsichtlich, zufällig, geradezu diskret. Nur deshalb sieht es so aus, als wüßten die beiden über den Tod hinaus sich vereint zu halten und verstünden es, die letzte, die endgültige Trennung ganz zart zu unterlaufen und das hinüberzuretten, worauf es einzig ankommt. Einzustehen dafür. Das Leben eben nicht zu denunzieren mit dem Satz, alles sei eitel.
Gerührt seh ich das an. Ein paar Minuten vielleicht. Dann pfeift es.
Es pfeift hier jemand. Ich dreh mich zur Seite. Keine Menschenseele zu sehen. Ich bin allein. Abermals pfeift es. Das ist wie ein Ruf, wie „Komm her!“ Ich höre: „Komm her!“ Tue ein paar Schritte. Der Ruf kommt von über mir. Ich hebe den Kopf. Hat der Mann, der in zweiter Reihe in einer holzgerahmten Mulde der Wand steht, und über ihm steht ein dritter, – hat der sich eben bewegt? Eine Täuschung, keine Frage. Trotzdem trete ich, ein Reflex, etwas zurück. Muß lächeln. Stelle mich auf die Schuhspitzen, um das verblaßte Schild lesen zu können, das ihm zu Füßen schräg rechts in der Ecke steht. Mühsam entziffere ich die geschnörkelte Handschrift:

Sig. Antonino Prestigiacomo
mori a 4 Xbre 1844

Sein Gesicht ähnelt dem Hans Christian Andersens, wirkt aber nicht blasiert, sondern traurig. Ich warte darauf, daß sich Signor Prestigiacomo noch einmal rührt. Er trägt eine kaftanähnliche Kutte. Kordel um den Bauch. Das um den Hals geschlungene Seidentuch, die Zipfel drapiert in den Kuttenausschnitt. Lederne, rotbraune Gesichtshaut, leicht vorspringende Knochen über eleganten schmalen Wangen. Ein fast klarer Blick. Stirnglatze. Ein schöner Mann ist das einmal gewesen. Die schwarzen Haare noch jetzt wie gepflegt. „Da sind Sie ja endlich“, sagt er. Ich sehe mich um. Es gibt wieder Besucher. Zwei Grüppchen damit beschäftigter Leute, permanent die Leichen zu knipsen. Man könnte meinen, es gebe ein fotografisches Gen, das immer dann in Reflex tritt, wenn Menschen verreisen. „Das hat diesmal aber lange gedauert“, sagt er. Ich räuspere mich, schaue mich abermals um. „Keine Sorge“, wieder er, „die sind zu unaufmerksam, um etwas zu merken.“ Verstummt. Setzt hinzu: „Wenn ich allerdings jetzt hinabstiege zu Ihnen, dann würde das schon Aufsehen machen.“ Er lacht über diese Bemerkung. „Sehen Sie, ich hänge hier doch ständig herum und warte darauf, mich wieder einmal mit jemandem unterhalten zu können. Ich freue mich wirklich sehr, daß Sie gekommen sind.“ Er verstummt. Kein Fingerzucken, kein Lidschlag. Angestrengt lausche ich. Die Stimmfetzen der Besucher finde ich störend. Die Situation hat etwas Peinigendes. „Ich bin Tuchhändler gewesen“, erzählt Signor Prestigiacomo. „Es ist mir nicht schlecht gegangen. Etwas früh gestorben bin ich vielleicht. Meine Frau liebt mich sehr. Sie vergöttert mich. Darum bin ich für sie konserviert, da kann sie mich anschauen kommen, wann immer sie will. Sie und die Kinder. Denn gewiß, Signore, es gibt Kinder, bambini“, sagt er, „acht in neun Ehejahren. Ich warte auf sie. Ich warte immer. Alle Sizilianer warten. Und ich bin Sizilianer, mein Herr! Ich bin zu Zeiten auch ein Dieb. Ein Sizilianer muß Dieb sein. Aber jetzt habe ich eine Aufgabe, jetzt soll ich Ihnen Sizilien zeigen. Nur müssen wir noch etwas warten, Signore, wir müssen wenigstens warten, bis man hier schließt.“
Gemurmel, abermals von den Touristen. Blitzlichter. Ich grüble. Ich habe etwas vergessen. Welch ein Schicksal! Ich bin mir sicher, er spricht jeden so an. Ganz offensichtlich tut er das, seit er hier aufgestellt worden ist. Vielleicht schweigt er ganz zu Anfang noch, zwanzig, dreißig Jahre lang. Doch nicht ein einziges Mal erscheinen seine Frau und die Kinder, um ihn anzuschauen und ehrend zu grüßen. So legt er sich dann Wort für Wort zurecht, und er spricht nun wie ein Automat, der ins Leere ein Magnetband repetiert. „Ich warte immer darauf, daß jemand mir zuhört.“ Scheu sehe ich zu beiden Seiten nach den Besuchern der Gruft. Räuspere mich. „Nein, nein, Sie müssen keine Angst vor mir haben!“ Ich höre Signor Prestigiacomo deutlich sprechen. Das macht mich nervös. Es ist keinesfalls meine innere Stimme. Es ist durchaus kein Selbstgespräch. Weil ich mir dessen so sicher bin, will ich weg. Ich presse die Augen zusammen. Doch Signor Prestigiacomo entgeht meine Anstrengung nicht: „Bitte! Sprechen Sie mit mir! O ein Wort nur!“
Ich lasse die Muskeln in den Oberschenkeln spielen. Drei Besucher – Vater, Mutter, Onkel – kommen nahe heran, stellen sich neben mir auf. Zeigen mit dem Finger auf Signor Prestigiacomo und sind über seine Lebensechtheit entzückt. Ich bin darüber eher entsetzt. Der Onkel hebt die Spiegelreflex. Kinder laufen herbei, zwei Jungen, die Kriegen spielen. Der eine rüttelt an den Metallstäben. Signor Prestigiacomo zuckt. Ja. Jetzt seh ich es deutlich. Dabei erreicht das Zittern des Gitters ihn eigentlich nicht, er ist ja fast einen Meter dahinter positioniert. Trotzdem zuckt er. Das Blitzlicht blascht, in einem flüchtigen Moment trifft mich ein leidvoller stahlblauer Blick, dann kippt der Kopf nach vorn, wackelt, löst sich mit einem Geräusch vom Rumpf, als würde Papier zerrissen. Die Mutter schreit auf, die Kinder lachen, die Eltern ziehen sie an den Schultern zurück und drücken sie an sich, vor Bauch und Brust, die Arme schützend um die beiden Körper, und mit einem gestopften Laut, als bestünde er aus nichts als locker aufgefülltem Leder, klatscht Signor Prestigiacomos Kopf vor meinen Schuhen zu Boden.
Eltern und Kinder sind weg, als sich meine benommene Körperstarre zu lösen beginnt. Was soll ich tun, verdammt?! Dem Kapuziner bescheidgeben, der oben am Eingang die Kollekte entgegennimmt? Ja sicher! Und doch hält mich etwas davon ab. Eine Beobachtung. Über ihre Konsequenzen mache ich mir besser keine Gedanken. Ich registriere den Sachverhalt auch nicht gleich. Sondern zögernd nur und ganz langsam und sehr widerstrebend kann ich, was ich sehe, für wahr nehmen. Aus dem gegerbten Hals büschelt Stroh, seit langem graugeworden. Und auch unter den gesprungenen, aufklaffenden Stirnbeinen quillt eine spröde, muffige Stopfmasse vor. Aber aus dem linken Nasenloch sintert ein dünner Faden Bluts. Kaum zu erkennen, so wenig ist es. Aber läuft, läuft. Tropft auf den Stein. Gerinnt. Ein alter Farbfleck. Mehr nicht. Läuft aber immer noch nach. So sieht es aus. Eine Verfärbung der Haut? Ein dürrer Schatten vielleicht. Mir ist flau. Ich ringe nach Atem. Dann laufe ich los. Die Gänge hoch. Der Kapuziner. Ich starre ihn an. Er starrt mich an. Senkt die Augen. Wahrscheinlich bin ich aschfahl im Gesicht. Oder grün. Er murmelt etwas in seinen dichten grauweißen Bart. Blickt wieder hoch, lächelt unfaßbar tröstlich. Erst im Pinienduft und dem Geruch erhitzten, geradezu flüssigen Steins schüttele ich meine Vision von mir ab.

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