Joachim Zilts’ Verirrungen, 7. Fortsetzung.

Inmitten des Schriftzugs hatte er innegehalten und den Kopf fast unter der linken Achselhöhle hindurchgedreht. So sah er mich an. ,,Das ist ja ganz erstaunlich..!”
„Sie müssen schon verzeihen”, erwiderte ich. ,,Ich habe nicht mit sowas”, ich zeigte herum, „gerechnet.”
,,Oh nein, kein Grund für Entschuldigungen! Ich verstehe das völlig… völlig, mein Lieber.” Er erhob sich. „Sie weichen jetzt nicht wieder zurück?”
„Nein, sicher nicht. Ich bin nur etwas verwirrt.”
„Das müssen Sie nicht.” Er kam vorsichtig näher. „Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Moosbach, Anton Moosbach.”
,,Joachim Zilts,” antwortete ich in gleichem Ton.
Er streckte mir seine Hand zu. Zögernd nahm ich sie. Eine ganz weiche, eine fast aufgelöste Hand.
,,Fall Sie einen Kaffee mögen…? Setzen Sie sich, hier, bitte. – Oh, ja ich bin… ausgestattet. Warten Sie, die Thermoskanne. Und hier, eine Tasse… oh, staubig, Entschuldigung.” Er schritt zu der Waschstelle, goß aus der Porzellankaraffe etwas Wasser in die Tasse, wusch sie mit den Händen aus.
„Lassen Sie nur”, sagte ich, „das wird schon gehen.”
Es war nicht zu fassen. Vor mir stand dampfend der Kaffee.
„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Herr…”
„…Zilts. Aber eigentlich müßten Sie mir einiges erklären…”
,,Oh gleich… gleich, mein Freund. Wir haben Zeit genug.”
,Aber nein! Ich will zurück. Verstehen Sie? Ich bin erst seit… warten Sie… seit wann bin ich hier? Seit heute früh? Nein, ich glaube…”
,,Sie wissen es nicht.” Er nickte. „Darf ich bitte?” Er beugte sich vor und zog mit dem rechten Zeigefinger die Haut unter meinem linken Auge herab; der linke Zeigefinger hielt das Lid. Die Bewegung hatte etwas Professionelles. Aber er pfiff, als er meinen Augapfel ansah, tonlos durch die Zähne. ,,Das ist typisch”, sagte er.
,,Was meinen Sie?”
Er blinzelte nervös, lehnte sich zurück und antwortete: “Lassen Sie nur. Noch ist es nicht ernst.”
„Was ernst?”
„Ist noch viel Zeit, junger Mann, sehr viel Zeit.”
„Hören Sie..!”
„Ich weiß doch! Sie haben tausend Fragen und alle auf ein Mal. Zu eilen hilft Ihnen nicht. Hier zählt keine Zeit. Wir werden nicht älter, wenn wir in der Zwischenwelt sind. Was meinen Sie, weshalb ich so oft herkomme? Sicher, man muß sich einschränken, und es gibt keine Elektrizität. Aber wenn man einmal in der Arbeit ist…” Er kicherte, was nicht angenehm war. „Hier, nehmen Sie ein Zuckerstückchen.” Er hatte sogar ein Döschen Sahne im Regal. ,,Sagen Sie mir: Aus welcher Zeit sind Sie gekommen?”
,,Bitte?”
,,Welches Jahr schrieb man, als Sie aufgebrochen sind?”
,,1990. 16. Februar. – Weshalb?”
,,Interessant, höchst interessant. – Wissen Sie, ich komme von 1912. Ich stamme aus Hamburg. Jetzt ist es da 1914. Schlimme Zeit.”
,,Ich verstehe nicht ganz… – Was tun Sie hier?”
,,Das fragen Sie noch? – Ach ja, Ihre Pupillen…”
,,Was ist mit meinen Pupillen?”
„Die Iris trübt sich, das wird sie blind machen. Aber werden Sie deshalb nicht nervös. Es kann noch hundert Jahre dauern, bei anderen, glaub ich, noch länger… dreihundert Jahre vielleicht. Genau weiß ich das aber nicht. Ich bin unter andrem dabei, es zu erforschen.”
„Was zu erforschen?”
„Die Verwandlungen, Herr Zilts. Die Ewigkeit.”
Hätte er nicht so gegenwärtig gewirkt, ich hätte ihn für einen Schwachkopf gehalten. Aber das war er offenbar ganz und gar nicht, trotz seines Kicherns, das andererseits etwas von dem eines Drogenkranken hatte.
„Sie nehmen Halluzinogene?” fragte ich.
„Aber nein!” Er lachte auf. „Schmerztabletten, bisweilen, meines Rückens wegen. Und manchmal etwas, um einschlafen zu können. Es ist nicht einfach, hier zu schlafen, es ist sogar das Schwerste. Aber wer draußen schläft, altert. Und die Zeit zieht dann völlig ungenutzt vorüber. Deshalb hab ich ja die Couch hergebracht”, er klopfte aufs Polster, „hören Sie?: Hochklappbar, ich hab Decken und Kissen da drin. Praktisch, nicht wahr?”
„Das haben Sie durch solch ein… ein Loch gebracht?”
„Das war kompliziert, da haben Sie recht. Aber ich hatte mich vorbereitet, bevor ich ein erstes Mal einstieg.”
„Sie wußten davon?!”
„Sagen wir, es war eine Theorie. Raumzeit-Nähte, wenn Sie so wollen. Schon Zeno… na, das wissen Sie doch. Kierkegaard hielt das Paradox für die einzig wirkliche Wirklichkeit. Daß man mich ausgelacht hat, muß ich Ihnen sicher nicht sagen. Aber es war damals, in Ihrem Damals, am Anfang des Jahrhunderts, nicht wahr?, alles ein wenig primitiv. Ich hab, was ich mitnehmen wollte, an mir festgebunden. Mühsam, ja, aber es klappte. Auch mit der Couch hat es dann später geklappt. – Und Sie?”
„Ich?”
„Wie sind Sie hereingekommen?”
„Es war ein Zufall. Ja, Zufall.”
,,Das ist schlecht,” sagte er. ,,Wirklich schlecht.” Und, ehe ich etwas erwidern konnte, abermals: ,,So ganz ohne Absicht? – Ah, das dachte ich mir.”
„Was dachten Sie sich?”
„Waren Sie schon einmal zurück?”
,,Das ist es ja gerade. Ja, ich war schon zweidreimal… viermal, verzeihung… draußen. Nein, doch nur zweimal, glaube ich.” Ich hatte keine Ahnung mehr. „Doch immer war es anders. Und selbst, wenn nicht: Woran soll ich erkennen, daß ich wieder in der richtigen Welt bin?”
Er kicherte. „Gar nicht”, sagte er. Gab sich einen Ruck, legte mir eine Hand auf den Arm. „Das müssen Sie vergessen, dieses Wort. Es gibt keine ,richtige’ Welt, es gibt keine ,falsche’. Und es ist auch nicht wahr, daß alles Schein sei. Aber wahrscheinlich sind Sie verheiratet.”
,,Ich habe eine Frau, ja.”
,,Schlecht.” Er nickte. „Sehr schlecht. Sie lieben Sie?”
„Verzeihung, ich wüßte nicht…”
„Da werde ich Ihnen nicht helfen können. Ich selbst habe meinen ersten Weg und den Weg hierher markiert. Unsichtbar markiert, nur für mich sichtbar markiert. Damit die es nicht sehen.”
„Die?”
“Wanderer. Die haben ihre Freude daran, einen zu schädigen. Die würden meine Zeichen auslöschen, zerkratzen, sie anderswo anbringen. So ist ihr Charakter. Das ist der einzige Spaß, den sie kennen. Sie sind die einzigen, vor denen ich mich fürchte. Aber ich bin ja nicht unbewaffnet.”
„Bitte?”
„Meine Augen doch! Meine noch immer scharfen, ungetrübten Augen. Wahrscheinlich sind wir beide derzeit die einzigen Wesen, die im Labyrinth noch sehen können.”
,,Aber was soll ich tun? Es muß doch einen Weg zurück geben!”
,,Sicher, es gibt ihn. Aber finden, mein Freund, finden!” Er schlug die Beine übereinander und hob mit abgespreiztem kleinen Finger die Tasse. Vorsichtig, mit spitz vorgestülpten Lippen, nahm er ein Schlückchen. ,,Da haben Sie sich was Schönes eingebrockt.”
,,Wie hätte ich sowas denn ahnen sollen?!”
,,Ich hab’s Ihnen gleich angesehen, daß Sie ein Wanderer sind”, sagte er. „Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel. Aber daß Sie mit mir sprechen, zeigt, Sie sind noch sehr jung.”

[Korrektur: 7. August 2004.]

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