Der Gräfenberg-Club.

Dann saß ich, in der großbürgerlichen Bondage kleiner Nadelstreifen, dem Dr. Latimer gegenüber. Ich war sehr nervös, er war sehr still. Er war nicht nur still, nein, er sprach auch zehn Minuten lang nicht. Man kann kaum behaupten, daß er mich angesehen hätte, das heißt: anfangs, und zwar flüchtig, schon. Also ich trat – die Bockenheimer Landstraße 102 ist eine Patriziervilla im Westend Frankfurts, holzgetäfelt und still; allerdings gibt es unten im Haus ein Café – ich trat – obwohl draußen herrlichster Sonnenschein war, brannten im gesamten Gebäude die Lampen – ich trat – nachdem ich bei dem Sekretär, jenem Mann namens Becker, geklopft hatte, aber ohne Herein geblieben war – ich trat – erst allerdings ging ich die Türen ab und las die Namensschildchen außen an den Holzrahmen – trat ein, Dr. Latimer sah auf, zog die Brauen zusammen, schien ins Nachdenken nicht zu verfallen, nein: in ihm unterzutauchen, und fast befürchtete ich schon, es ersäufe ihn, da wies er, doch ohne mich noch anzublicken, auf den breiten schwarzen Ledersessel vor seinem Schreibtisch. Ich sackte hinein, er sackte noch tiefer ins Grübeln, plötzlich erhellte sich etwas in seinen Pupillen, und er rief laut aus: “Sagen Sie nur, lieber Herr Herbst, was hat die Erhöhung der Mineralölsteuer mit der gekrümmten Zeit gemein?!” Er schnaufte und setzte nach: “Ich komme einfach nicht drauf. Wissen vielleicht Sie eine Antwort?”
Bedauerlicherweise wußte ich sie nicht. Mit kam eigentlich auch schon die Frage sehr abseitig vor. Ihm nicht. Er grübelte. Nun kann ich nicht verhehlen, daß über die bohrende Dauer seines Denkens auch mir bewußt zu werden begann, es liege hier ein Problem vor. Allerdings kam ich, anders als wahrscheinlich er, bereits bei der Krümmung der Zeit nicht weiter, die mir noch nie recht einleuchten wollte.
“Ich bin Dolmetscher griechischer Herkunft,” sagte Latimer unvermittelt.
“Ah ja?”
“Mein Großvater war ein Verbrecher. Ich habe nie verstanden,. weshalb mich mein Vater mit zweitem Vornamen Melas genannt hat.”
“Hm.”
“Können Sie ermessen, daß mir eine Antwort auf diese Frage von unendlicher Erleichterung wäre?”
“Warum?”
Er blickte mich jetzt doch an, und zwar erstaunt. “Wie meinen?”
“Warum wäre Ihnen das eine Erleichterung?”
Er blickte noch baffer drein, zog dann sein Gesicht zusammen in den Ausdruck der allerhöchsten Irritation, wurde unversehens melancholisch und fragte sich selbst: “Ja warum eigentlich? Sie haben ganz recht. Darüber habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht.”

[Die Niedertracht der Musik.]

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .