Ein Wort zur Lektüre-Haltung.

Fast durchweg bei meinen Texten die oftmals sofortige Zustimmung, trage ich sie v o r. Selbst ein enger Freund, der (ohne mein Wissen) seiner Gefährtin aus dem verbotenen Buch vorlas, sagte mir hinterher: „Ich habe bis dahin nicht gewußt, welch eine S p r a c h e das ist.“

Das liegt an der musikalischen, seelischen Konzeption der Texte; alle sind sie laut gedacht, fast gesungen. Ihr Rhythmus bindet die Semantik. Was so vielen als manieriert vorkommt – ein mir geläufiger Vorwurf -, sogar als altertümlich bisweilen, das klärt sich sofort über den Klang. Aber die wenigsten Leser bemerken das, die wenigsten Feuilletonisten sowieso. Sie sind fast durch die Bank nicht musikalisch gebildet und fänden es vor sich selber peinlich, zweidrei Absätze, um in den Sprachfluß zu finden, sich erst einmal laut vorzulesen. Es ist mit vielen meiner Arbeiten wie mit Lyrik: Sie erschließen sich tatsächlich erst, wird diesem Klang Raum gegeben. Dann aber füllt er das Zimmer bis zur Decke. Dann fallen die Irritationen ganz schwerelos ab, dann wird, was dem stillen Lesen nur als Marotte wirkt, zu dem, was sie ist: Spielanweisung. Und die Semantik folgt.

Manch ein scheinbarer Manierismus hat die Funktion des Kammertons. Deshalb muß der Leser gar nicht lange laut lesen, eine halbe oder ganze Seite reicht völlig. Man lausche nur über diese kurze Zeit, schon ist der ganze innere Körper gestimmt.

31 thoughts on “Ein Wort zur Lektüre-Haltung.

  1. Übersetzung und Musik Hochinteressant!
    Eins zuerst: die Zielsprache (das Französische) muss sehr genau geprüft
    werden. Welche Melodie, war die einzige Frage.
    Als ich Ihren Text übersetzen wollte, musste ich mir ein Vorbild in der
    französischen Sprache finden, nur aus Angst, vielleicht, aber ich habe “La
    route des Flandres” (unbewusst spielte wohl auch Ihre Erzählung “die
    Orgelpfeifen von Flandern”…. darauf an) von Claude Simon gewählt, weil er mir Ihnen sehr nahe erschien. Nicht der Ton von Simon, sondern die Kühnheit des Stils,
    die Melodie also.
    Dann las ich zuerst Ihren Text laut, um mir Ihre Musik einzuprägen.
    Ich dachte an das stumme Lesen, das uns seit Augustinus zur Gewohnheit
    geworden ist, aber Ihr Text, der Text von “In New York” (ich spreche nicht
    allgemein von allen Ihren Texten), schien mir zuerst musikalisch zu sein, und ich
    habe versucht, Ihre Musik wiederzufinden, indem ich den Text laut las.
    Das war anfangs zugleich sehr schwer und sehr spannend.
    Sehr schwer weil die Beschreibung der Stadt das Wichtigste war und die
    Erzählung aus der Beschreibung entstand. Alles war gemischt und die
    Imitation des Chaos wollte ich wiedergeben. Manchmal habe ich die Punkte
    fallen lassen, weil ich fand, dass unsere Sprache fliessender sein sollte.
    Oder Kommas habe ich hinzugefügt, damit der Franzose (der Klarheit wegen)
    die Handlung verfolgen konnte. Unsere Sprache ist sehr steif im Vergleich
    zum Deutschen.
    Die Wortspiele sind das einfachste. Ein Beispiel: “…Arsch. Harsch…” Da
    habe ich an ein Lied von Brassens gedacht, wo er “Fesses” mit “rudesse”
    reimt. Da habe ich das Wort “Fesses” am Ende behalten und der Satz fing dann
    mit “Avec rudesse…” (es ging um die Kontrolle eines Tickets, glaube ich).
    Das sind einfache Spiele für Anfänger und ich erwähne es hier nur als Spass…
    denn der Übersetzer soll sich auch belustigen.
    Das Schwerste war wie gesagt die Melodie… nicht der Klang… obwohl es
    manchmal möglich gewesen ist. Nein, die ganze Melodie des Abstatzes, die
    Bewegung der Sätze. Das war hoch riskant und ich musste, wie Sie es so gut
    sagen, das ganze nachdichten. Ich konnte nicht beim Wort bleiben und nur an
    den Rhytmus denken, der den Leser erreichen sollte. Das war eine
    Schwarz-Weiss-Arbeit : die Konturen der Erzählung habe ich behalten, nur
    die Farbe musste ich sehr oft ändern… wie Bach, als er Vivaldi übertrug,
    sich also die Linien integrieren und seinen eigenen Klang hineinfügen.
    Es ist keine Übersetzung im traditionellen Sinn (wie auf der Universität
    zum Beispiel… abscheulisch).
    “Schliesslich bin ich der Erzähler”, sagen Sie mit Recht. Ich habe nur daran
    gedacht (abgesehen von dem Problem des Rhytmus für den französichen Leser).
    Es kann naïv klingen, aber im Laufe der Seiten habe ich deulich gespürt,
    dass meine Arbeit immer schneller ging, und die letzten fünfzig Seiten
    gingen wie im Flug.
    Warum? Das war trotzdem nicht die leichteste Stelle!! Ich hatte die Linien
    der Melodie von den hundert ersten Seiten im Ohr.
    Das wollte ich Ihnen und Ihrem Korrespondenten sagen: der Übersetzer liest
    nicht Ihre Prosa, er hört sie.Er besingt sie. Falsch oder gut, ist egal, er
    singt mit Ihnen… und es ging in dem Roman um Musik… also, kein Problem.
    Der Sinn enstand aus der Musik und nicht umgekehrt.
    Manche Stellen, habe ich auswendig gelernt (nicht absichtlich), bevor ich sie
    übersetzte, und sind mir noch in Erinnerung geblieben: Als Olsen getötet
    wurde, wollte ich die Schritte auf dem Sand hören… und wie der Körper
    reagierte, als die Kugeln ihn trafen. Das habe ich nachempfunden, und dann
    kamen die französischen Wörter, sehr leicht, sehr sanft würde ich sagen. Die
    Situation soll sehr klar gesehen werden und verlangt in der selben Zeit ein
    Ohr dabei. Imagination ist hier vorherrschend: rekonstruieren ist die Arbeit
    des armen Übersetzers.
    Ihre Prosa ist nicht so schwer zu übersetzen, wie allgemein behauptet wird,
    aber der Übersetzer soll unbedingt jahrelang Musik gehört haben und
    musikalische Prosa gelesen haben. Er soll natürlich auch ein bisschen (!)
    Schriftsteller sein, denn sonst bleibt er plump beim deutschen Wort. “Sich
    emanzipieren” sagen Sie. Das ist genau das Problem: ja, sich emanzipieren,
    aber trotzdem, wie ein Virtuose, beim Text bleiben.
    Deswegen habe ich die “Vergana” gewählt, als nächste Übersetzung von Ihnen.
    Es ging wieder um Musik. Und die ganze Sammlung sowieso! Ich hoffe, ich
    schaffe es.

    Eins noch : Cioran hat irgendwo gesagt, er habe ja dumme Romanschreiber
    getroffen, aber nie dumme Übersetzer… aber er war, wie Sie wissen, auch
    ein guter Übersetzer ! Und schrieb nie einen Roman !
    Ich hoffe, ich habe provisorisch auf Ihre Frage geantwortet.

    R.P.

    1. Egal, wie das Experiment “Herbst in den Tropen” ausgeht – am Ende werde ich auf jeden Fall ein besserer Mensch sein. 🙂

      (Grandiose Antwort von Prunier!)

    2. von übersetzern hört man meistens sehr wenig! darum las ich gern, was Prunier schrieb.
      zwei zitate zum übersetzen:

      “Leonardo Bruni schrieb 1420 in seiner “De interpretatione recta”, daß der Übersetzer “sich auch dem Urteil seines Gehörs anvertrauen soll, um dasjenige nicht zu verderben und durcheinanderzubringen, was (in einem Text) mit Eleganz und Gefühl für Rhythmus ausgedrückt wird”. Um das rhythmische Niveau beizubehalten, darf der Übersetzer sich der Ehrfurcht vor dem buchstäblichen Sinn des Quellentextes entledigen.”
      Umberto ECO, Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione (2003; provisorisch verdeutscht von mir)

      “Übersetzen: im Zentrum des Geschehens; Schreiben: am Rand, mit dem fortwährenden Versuch, sich einem Zentrum zu nähern, das ungewiß bleibt – bleiben muß? Und dann, und doch: im Lauf der Übersetzenszeit, mit der selbstbewußten Vorstellung, sich im Aufschreiben, dem Fügen der Worte und Sätze immer nur stetig vorwärts zu bewegen, zugleich auch ein Bedürfnis, den Schutzmantel abzuwerfen, der zwischendurch ebenso ein Sklavenkettenhemd war; wieviel Kraft nahm das Übersetzen, das, anders als die Verausgabung des unmittelbaren Schreibens, nicht als Schwade des Neuen auf einen kommt; Bedürfnis, den gewissen Ort zu verlassen und sich auszusetzen dem Himmel-Hölle-Spiel des ursprünglichen Schreibens, mit dem luziferischen “Das bin jetzt ich!”.
      Peter HANDKE, Langsam im Schatten

    3. dem Leonardo Bruni fühle ich mich sehr nah Musik. Ja, aber auch manchmal, dieses komische Gefühl, keine Sprache mehr zu beherrschen. Da schwebe ich über dem Rhein, habe kein Wort mehr. Der Sinn des Deutschen ist mir sonnenklar, aber die Muttersprache verweigert jegliches Wort.
      Das muss man mögen… es ist köstlich, vorkindisch, zu Hilfe kommt aber eine eigenartige Musik, ohne Sprache also, wie eine Reihe von grauen wandernden Wolken, ein Summen, wo man die Stille dahinten hört, das mag ich sehr. Ich könnte verzweifeln und denken wie der gute Hölderlin, ich habe die Sprache in der Fremde verloren. Aber es ist eine Chance; die Muttersprache muss man verlieren, denn was dann plötzlich blizartig kommt, ist ein heller Himmel von Wörtern direkt aus der Muttersprache, an die man nie gedacht hätte, und der Strom des Lichts, der Klarheit der Sprache lässt den Übersetzer denken, dass er ein Dichter ist, er hat gedichtet, die andere Sprache hat er dicht ausgedrückt, und was enteht, ist ein Text, der nie vorher in der Muttersprache existierte, bevor man sich an die Arbeit machte. Die Muttersprache lächelt; ohne die Fremdsprache hätte sie nie gewusst, dass sie dazu fähig war.
      Wiedergeburt also, nach einer Stille, die man manchmal hört, wenn man im Konzert vor den ersten Noten auf das Wunder wartet.
      Das geschieht ohne Angst (der Übersetzer denkt immer: ich werde sie wiederfinden), ohne diese Hemmung des Dichters, der manchmal nicht weiss, was zunächst kommt. Der Übersetzer verlässt sich auf den Schriftsteller der Fremdsprache, um ihn zu leiten. Er gibt nicht den Ton, er spielt. Er sitzt wie Glenn Gould auf seinem niedrigen Stuhl, macht Versuche, ärgert sich nie, denn der Text ist da, vor ihm, und niemand kann den Text der Fremsprache ändern.
      Die Entscheidungen, die er treffen muss, entstehen aus seiner Imagination, aus der Imagination der Muttersprache, die ihm die Lösung zuflüstert. Es ist schwer zu beschreiben, wie stolz er ist, sobald er die Lösung gefunden hat : niemand wird es ihm dankbar sein, der Leser wird nichts bemerken; er ist zugleich der Spieler und der einzige Hörer seiner selbsterfundenen Musik.
      Man muss sich diesen Sisyphus glücklich vorstellen.
      Am Ende ist er leer aber glücklich, wie ein Rennläufer. Er hat ein Abenteuer erlebt, das ihm niemand entnehmen kann.
      Sein Name wird auf der ersten Seite des Werks sehr klein geschrieben, und das mit Recht. Er verlangt keine Anerkennung: er hat soviel Glück erlebt. Er war und bleibt der beste Leser des Autors. Er weiss es; manchmal dünkt ihm, dass er besser als der Autor selbst das Werk begriffen hat. Ist es möglich? Niemand kennt die Antwort auf diese komische Frage.
      Raymond Prunier.

    4. Nein, eine Antwort gibt es auf diese Frage nicht, es sei denn der Übersetzer nimmt den monolithischen Text in der anderen Sprache zu sich und sagt zu ihm: “Ich hole dich aus deiner monolithischen Stummheit heraus und lasse dich sprechen durch mich.” Und weil das Sprechen des Übersetzers im Sprechen selbst zu seinem Text wird, begreift er diesen von ihm gesprochenen Text besser als der Autor, der diesem Akt fernsteht. Dem Autor mag es anders ergehen beim Schreiben, er muß nichts monolithisches zum Sprechen bringen, sondern macht aus dem Amorphen, das ihn umgibt und bewegt, einen monolithischen Text. Woraus man folgern könnte, der Übersetzer bringe das Monolithische wieder zurück ins Amorphe, wäre da nicht er selber dieses Amorphe. Der Übersetzer ist verwandt mit ZELIG.
      Leider bin ich ein musikalischer Laie, aber daß Gould so oft erwähnt wird, zeigt, daß es ganz eminent um den Interpreten geht, der zum Protagonisten des “Textes” wird. Nicht mehr Beethoven, sondern Gould steht im Vordergrund. Das aber ist der Musik eigen, daß sie nur in der Ausführung, im “Sprechen” selbst sich manifestiert. Das ist dem Übersetzer nicht gegeben, er erscheint tatsächlich nur am Rande, ist eine Marginalie für die anderen. Und das ist schade.

    5. Insofern kommt dem Übersetzer. In der anderen Sprache die Funktion des eigentlichen Lesers zu. Oder: Die Funktion, die eigentlich der Leser hat. Ohne ihn “ist” so ein Text ja nicht. Wobei die Dichtung selbst das Moment der Kontinuität garantiert (vielleicht kommen Sie deshalb auf das, was Sie “das Monolithische” nennen); es ist egal, w a n n ein solcher Leser zugreift. Die Dichtung bewahrt das, auf was zugegriffen werden k a n n . Vielleicht erklärt sich hieraus, weshalb manch ein Kunstwerk erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung “erkannt”, d.h. gelesen wird. – Das gilt für alle Kunstsegmente, nicht nur für Literatur. Mitunter braucht ein Rezipient Informationen, die er zur Zeit der Entstehung eines Werkes schlichtweg noch nicht haben kann.

    6. Die Funktion des eigentlichen Lesers… Als ich Ihre Texte im Flugzeug las (begleitet von Kindergeschrei vor und hinter mir), ANH, war neben dieser eigenartigen Dankbarkeit, die ich für die Texte empfand, auch der Verdacht, dass ich mich als Übersetzer dem würde nähern müssen, was Eco (ich weiss nicht mehr, an welcher Stelle, in welcher seiner semiotischen Abhandlungen – meine Bibliothek ist zu Hause geblieben) den perfekten Leser nennt, der an einer idealen Schlaflosigkeit leidet.

      (Eigentlich bin ich ja hier, um mich zu erholen! *Lacht*)

      Ich habe bereits einige Notizen zur Vergana gemacht. Fragen habe ich auch.
      Sobald mein Erholungsbedarf etwas abflaut, lege ich das Übersetzertagebuch in meinem Weblog an. Ich melde mich vorher aber hier bestimmt noch mal und gebe Ihnen den Link bekannt.

      Grüsse aus dem herrlich schwül-heissen Rio!

    7. Wie kann man nur so fies sein. Ausgerechnet mir ins klamme Berlin aus einer schwülheißen Stadt zu schreiben.

      [Sozusagen hab ich mich mit den Erzählungen & der von ihnen geforderten eco’schen Schlaflosigkeit a priori gerächt.]

      P.S.: Gerade kamen als pdf die Druckfahnen; es gibt noch zweidrei kleine Änderungen. Falls sie Sie interessieren, geben Sie bitte kurz Bescheid.

    8. ganz abgesehen davon, daß Pruniers beiträge hier in fettschrift stehen müßten, und daß ich Hediger meinerseits nicht um die schwüle beneide (habe neulich in Rom schweißnaß in der u-bahn mich an die haltestange geklammert, so voll war sie und feucht die luft – ich natürlich zu warm angezogen, hier in 400 m ü.m. ist’s nun mal kühler, so daß man sich eher dagegen wappnet):
      das monolithische eines textes, das ich meine, wird ganz besonders deutlich in einem gedicht von Ungaretti: “M’illumino / d’immenso”. das steht da wie ein hinkelstein, hat seinen rhythmus und seine eleganz und seine abgründige tiefe. jede annäherung in einer anderen sprache wird zu einem versuch, den man als “quadratur des kreises” definieren könnte. das mag man lesen und lesen, es reicht niemals an die grenzen seiner bedeutung heran, was daraus die andere sprache zu machen versucht. also muß der übersetzer sich entscheiden, was darin ihm am wichtigsten scheint, für die sprache und deren aussagekraft, die ihm als transportmittel gegeben ist.
      sicher ein extremfall, aber als beispiel vielleicht doch hilfreich.
      vgl. http://parallalie.twoday.net/stories/406791/

    9. noch komplizierter der Vergleich mit Zelig ist zwar interessant, aber nehmen wir ein konkretes Beispiel, anstatt die Schwierigkeiten des Übersetzens zu verallgemeinern. Im Jahre 1930 erschien in Frankreich die erste Übersetzung von Kafkas Prozess:der Übersetzer war kein Spezialist der deutschen Sprache, war aber ein guter Schriftsteller – mit Witz und Ironie schrieb er zu der Zeit interessante Fiktionen.
      Aus besonderen rechtlichen Gründen durfte niemand eine andere Übersetzung vorschlagen, und dieser Text blieb fünfzig Jahre lang “Der Prozess” für die französischen Leser.
      Die Übersetzung war aber fehlerhaft: der Ton dieses französischen “Prozesses” war witzig – wie ein Stummfilm von Buster Keaton – aber das Tragische wurde falsch verstanden… ein Missverständnis breitete sich aus, obwohl Texte von grossen Kommentaren (Camus z.B.) die Tragweite von Kafkas Texte betonte.
      Erst fünfzig Jahre später (im Jahre 1980!!)entdeckte das Publikum die Kälte der Prosa durch eine sehr genaue Übersetzung. Was heisst aber “genau” in diesem Zusammenhang?
      Der neue Übersetzer war präzig, nüchtern, technisch gesehen einwandfrei. Trotzdem bleibt die erste Übersetzung im Umlauf und wird noch sehr geachtet: Ihr Kafka ist derselbe, der die Freunde lachen liess, als er die erste Seite vom “Prozess” vorlas (wohlbekannte Anekdote, die uns aber verblüfft).
      Jetzt wäre es fast unmöglich darüber zu lachen: soviele sind in den nächsten Jahrzehnten aus dem Bett gerissen und verhaftet worden, dass die Szene uns gar nicht lustig erscheint.(Ich weiss nicht ,ob das mit der Übersetzung zu tun hat, aber..) Wo ist der echte Kafka ? Dumme Frage. Die erste Übersetzung wird in der Geschichte bleiben: sie hat auch Ihren Sinn…
      Wo man sieht, dass die Übersetzung eine Geschichte hat :sie ist der Spiegel ihrer Zeit.
      Der erste Übersetzer von Kafka hatte noch nicht die Vernichtungslager gekannt, die Grausamkeit des Beamtentums war noch keine allgemeine Evidenz. Im Jahre 1980 las man seine Texte völlig anders.
      Der Text in deutscher Sprache ist derselbe geblieben, nur die Zeit hat das Lesen seiner Werke verändert. Kurz gesagt: Der Text bleibt, die Übersetzung ändert sich mit den Jahrzehnten(ist immer im Werden). Deswegen sprach ich von Sisyphusarbeit.
      Noch komplizierter:
      Ein Engländer, der Shakespeare hört oder liest, hat grosse Schwierigkeiten wegen der Sprache. Ein übersetzter Shakespeare stellt dem Zuschauer oder dem Leser kein Problem: es ist seine Sprache, aktuell, sehr “lesbar”…
      Einer hat bei uns in Frankreich Montaigne in “moderner” Sprache übersetzt. Sehr interessant ! Scheusslich: den Satzbau hat er verändert, sog. Schreibfehler hat er “korrigiert” !!! Uralte Wörter hat er direkt übersetzt, seien wir ‘modern’ zum Teufel !!

      Es wäre von grossem Vorteil eine Geschichte der Übersetzung im eigenen Land zu versuchen; hier könnte man besser “l’air du temps” spüren als in einem Geschichtsbuch. George Steiner hat darüber interessante Wege geöffnet.

      Was kann man ausserdem sagen, wenn man entdeckt, dass am Ende seines Lebens, Goethe seinen “Faust” in französicher Sprache (Nervals Arbeit)lieber las, als seine eigene Dichtung ?

      Faulkners Übersetzerin hat eine so schöne Arbeit geleistet, dass er bei uns als grosser Dichter erscheint, was nicht immer der Fall ist in dem eigenen Land.
      Wenn man den Stil eines Descartes’ (Meditationes) preist, denkt man nicht, dass wir es dem Übersetzer (Duc de Ligne)verdanken, da die “Meditationes” in Latein geschrieben wurden.

      Da sind keine Antworten: andere Fragen würde ich sagen…
      Ist Sophokles’Übersetzung von Hölderlin eine Übersetzung : vielleicht der wichtigste Teil seiner Arbeit als Dichter. Wo sind wir da?
      Raymond Prunier

    10. der erste Übersetzer Danke für die Fettschrift… Es freut mich sehr. Nur noch etwas (und dann gehe ich in den Wald spazieren)…
      Der erste Übersetzer war wohl dieser Jäger der Vorgeschichte, der die Spuren direkt aus der Natur entziffern konnte: er las und deutete – wie gross das Wild war, wie alt es war – kurz er übersetzte. Der Übersetzer überlebte besser als die anderen des Stamms. Er konnte wirklich gut lesen.
      Er erfand die Kunst des Lesens : der Übersetzer erfand dann die Spuren, da er die Spuren der anderen – Feinde, Tiere – so gut lesen konnte. Er erfand also die Schrift.
      Die Fettschrift kam viel später… Die Fabel als Dank !
      Raymond Prunier

    11. @ANH Ja, bitte schicken Sie mir die korrigierten Druckfahnen.

      Mir wird wieder einmal bewusst: Es ist der Geruch, dieser ganz besondere Geruch, den nur die schwüle Luft der Tropen festhalten kann, der mir die Heimat bedeutet. Ich gehe jetzt an den Strand von Ipanema.
      Kennen Sie das Bossa Nova-Lied “The Girl von Ipanema”? Es ist alles wahr, es ist alles so wunderwahr…

    12. Adaption und andere Vergleiche Nach einer kurzen Pause von einigen Tagen, habe ich mir gedacht, wir könnten vielleicht noch andere Vergleiche machen, die uns helfen könnten. Ist die Adaption eines Romans in den Film eine Übersetzung? Oder besser gesagt: kann man die Übersetzung eines Romans mit einer filmischen Adaption vergleichen? Ich bin überzeugt, dass wir da interessante Parallele ziehen könnten… Ja, aber nicht so eindeutig.
      Eines Tages hat J L Godard gesagt (Anfang der “Verachtung”, [er deutet auf Moravias Romans hin, den er sehr schlecht fand], Godards Meisterwerk?): “mit den schlechten Romanen dreht man die besten Filme”.
      Ja, und schon zweifle ich an dem, was ich zuerst vorschlug. Ein schlechter Roman gebraucht Klischees, die sehr nützlich sind, um die Imagination anzureizen. In einem schlechten Roman hat man klar umrissene Situationen, keinen eigenartigen Stil, und es ist sehr praktisch mit diesen Situationen zu spielen, weil die Strukur dem Filmemacher als Rückgrat dient (Das selbe gilt für Shakespeare: er nahm aus Volkserzählungen das grobe Schema seiner Tragödien). Ich glaube, dass Godard hier sich auch von seinen “guten” Kameraden distanziert, denn Truffaut und Chabrol sind gute Beispiele von ‘Adaptateurs’, aber keine hervorragende Regisseure – abgesehen von “La chambre verte” von F. Truffaut… genialisch, aber natürlich verschwiegen !
      Und die Übersetzung bleibt innerhalb der Sprache, was mit der Adaption nicht der Fall ist. Der Regisseur sollte das gleiche erfinden, wie der Stil des Romanschreibers, er muss mit der Filmkamera Tricks erfinden, die den Stil wiederaufnehmen, aber innerhalb der Technik des Films selbst. Die Situation muss er auch oft ändern (Sabato gibt Borgès ein gutes Beispiel in diesem Sinn).
      Ein anderer Vergleich, der an die Übersetzung grenzt, ist die Dichtung selbst.
      Eine sog. Realität erfordert von dem Dichter übersetzt zu werden. Von der Realität -Traum inbegriffen, also alles, was ich erlebe – in die Wörter zu übertragen, ist es keine Übersetzung?
      Ist die Sprache selbst keine Übersetzung? Oder spiele ich nicht eben mit den Wörtern selbst?
      eine andere Frage: jede Sprache hat Ihre eigenen Schwierigkeiten:
      Das Französische zum Beispiel, ist eine der seltenen Sprachen, die nicht akzentuiert ist (bei jedem Wort, bei jedem Satzstruktur). Die Betonungen, die Akzentuierungen der deutschen Sprache können nur durch Umwege reproduziert werden.
      Ein Beispiel aus einem sehr bekannten Schriftsteller (ja, ja,!):
      “In Linz ist mir ein Dionysos begegnet” ( erster Satz von “Isabella Maria Vergana”von ANH). Wie soll ich das übersetzen? Mir schien, dass eine kleine Pause nach “In Linz” eintrat. Wie konnte ich diese Pause materialisieren, d.h. wie konnte ich den Anfang betonen? Es ist der erste Satz und ich musste ihn dynamisieren, um den Leser anzureizen.
      Natürlicherweise, weil ich den Satz laut aussprach, habe ich den Gallizismus gebraucht: “C’est …que”… der Satz lautete auf französisch: “C’est à Linz que j’ai rencontré un Dionysos”. Nur das Problem war, dass der Name “Dionysos” auch hervorgehoben werden sollte. Dann habe ich mich entschieden, den Namen “Dionysos” (mit grossem Buchstaben), am Ende des Satzes zu schreiben, weil das Gedächtnis des Lesers den so wichtigen Namen behalten könnte, wenn er am Ende stehen würde (Endstellung: alte Gewohnheit der französischen Kultur, die den Reim am Ende sehr lange behielt, weil wir keine Akzentuierung haben). Trotzdem ist die Übersetzung nicht befriedigend: ich schlage vor: “C’est à Linz qu’un Dionysos est venu à ma rencontre…” weil der Satz auf Deutsch “ist mir begegnet” nicht durch das banale “J’ai rencontré” übersetzt werden kann. Ja, aber, dann habe ich mein “Dionysos” nicht mehr am Ende. Also musste ich trotzdem die erste Formulierung wählen: “C’est à Linz que j’ai fait la rencontre d’un Dionysos.”
      Man merkt sofort, dass ich eine kleine Veränderung vorgenommen habe”j’ai rencontré” wird durch “j’ai fait la rencontre d’un Dionysos” ersetzt; nur wegen des Rhythmus (aber nicht nur)… Man hört einen Rhythmus, der dem Texte sehr nah ist: “In Linz ist mir ein Dionysos begegnet”/ “C’est à la Linz que j’ai fait la rencontre d’un Dionysos”… ‘J’ai fait la rencontre’ hat auch den Vorteil, die Begegnung zu betonen. “J’ai rencontré” könnte meinen, dass ich mit ihm verabredet war, “treffen” also… was absurd ist…es würde die ganze Novelle mit dem ersten Satz kaputt machen !!
      Wir werden bald in ein neues Jahr “übersetzt”.
      Herzliche Glückwünsche, also.
      Raymond Prunier.

      Ach noch etwas, fällt mir ein:
      Ein bekannter Übersetzer, den ich zur Übersetzung von Texten unseres ANHs anreizen wollte, hat mir geantwortet, man könnte seine Texte (die von ANH) nicht übersetzen, und gab mir als Beispiel folgender Satz auf Französich:
      “Elle retira sa main de sa cuisse” und fügte hinzu: dieser Satz hat auf Französisch vier verschiedene Interpretationen (wegen der zwei ‘sa’):
      1Sie zog ihre Hand von seinem Schenkel weg
      2 Sie zog seine Hand von ihrem Schenkel weg
      3 Sie zog ihre Hand von ihrem Schenkel weg
      4 Sie zog seine Hand von seinem Schenkel weg
      Dies ist die Frage von einem der besten Übersetzer des Deutschen in französische Sprache.
      Nur diese Bemerkung hat einen Fehler. Wo?
      Interessant die Antwort zu formulieren.
      Die meine ist:
      Dieser Mann ist eine sehr guter Techniker der Übersetzung, aber leider ist er kein Schriftsteller. Sonst hätte er sofort die Antwort gefunden, eine Antwort in der Form einer einfachen Frage:
      Wie würde ein französischer Schriftsteller dieselbe Handlung beschreiben, um diese vieldeutige Interpretation zu vermeiden? :
      Einfach: er hätte zum Beispiel den Vornamen des Helden hinzugefügt ansatt “sein/ihr” zu benutzen. Aber es ist nur eine der vielen Lösungen, die unsere Sprache benutzt. Denn der vorgeschlagene Satz muss innerhalb des Abstazes gelesen werden… dann entstehen die Missverständnisse nicht mehr, wenn man sie in der ganzen Situation betrachtet. Dieser Übersetzer vertraut auch nicht dem Leser.
      Kurz: dieses Beispiel war nur eine “gute” Ausrede, um ANH nicht zu übersetzen, oder nicht übersetzen zu lassen.
      Dieser Trick ist ausserdem die Bermerkung eines ehemaligen Lehrers auf der Universität… das hat er schon hundertmal gesagt, das spürt man…
      Dieser Satz dieses bekannten Übersetzers ist ein falch-gutes Beispiel…

      Ja, der gute Übersetzer, sollte unbedingt selbst Schriftsteller sein.
      Ja, ein Techniker der Fremsprache (das muss er natürlich sein… und so wenig wie möglich das zweisprachige Wörterbuch benutzen… hieraus entstehen die Fehler, oder noch schlimmer die Irrwege!), aber vor allem ein guter Kenner seiner eigenen Muttersprache.
      Ich glaube, dass das Thema unerschöpflich ist, nur man muss sich Zeit nehmen.
      Danke im voraus für die Antworten… Kritiken, Bemerkungen.
      Der Übersetzer ist kein armer Arbeiter. Er ist nicht zu bemitleiden. Er ist der Muttersprache am nächsten, weil er durch eine fremde hingehen muss. Er beobachtet die Muttersprache sehr nah, am nächsten.
      Der Dichter wird von der Sprache getrieben. Der Übersetzer wird von ihr gefordert, ein schöner Kampf.
      Entschuldigung für die Verlängerung…
      Raymond Prunier.

    13. In Linz ist mir Dionysos begegnet Als erstes: Im Manuskript, das ANH mir geschickt hat, steht nicht: “In Linz ist mir EIN Dionysos begegnet”, sondern “In Linz ist mir Dionysos begegnet”. Wurde das “ein” nachträglich eingeschoben?
      In meinem Versuch, die Vergana ins Brasilianische zu übersetzen, hat mir dieser erste Satz ähnliches Kopfzerbrechen bereitet wie Herrn Prunier, und ich bin darum sehr dankbar für seine Ausführungen.
      Erster Versuch (wobei ich das oben erwähnte “ein” ignoriere):
      “Em Linz, encontrei-me com Dionísio.”
      Das obligatorische Komma nach Linz im Brasilianischen bewirkt die kurze, von Prunier angesprochene Pause und räumt dem Dionysos den so wichtigen letzten Platz im Satz ein. Diese Übersetzung ist zudem sehr schön und elegant in ihrer Einfachheit. Sie hat jedoch den Makel, dass das “-me” in “encontrei-me”eine Verabredung voraussetzt.
      Zweiter Versuch:
      “Em Linz, encontrei Dionísio.”
      Nicht mehr ganz so elegant, nicht mehr ganz so flüssig. Zudem: “encontrei” nimmt hier die Bedeutung von “gefunden” an, was dem Text ebenfalls zuwiderläuft.
      Dritter Versuch:
      “Em Linz, Dionísio me encontrou.”
      Hier wird Dionysos zum Subjekt, was den Vorteil hat, dass der Ich-Erzähler von jeder Absicht, Dionysos zu begegnen, freispricht. Aber: hier wird unmissverständlich klar gemacht, dass Dionysos auf der Suche nach “mir” war und mich in Linz fand. Mir fehlt das Zufällige, das im deutschen Original hindurchscheint.
      Vierter Versuch:
      “Em Linz, aconteceu-me o encontro com Dionísio.”
      Auf Deutsch sehr hölzern, etwa: “In Linz ist mir die Begegnung mit Dionysos widerfahren.” Auf Portugiesisch jedoch sehr rhythmisch und inhaltlich stimmig.
      Was meint Ihr?

    14. Hier wird die Übersetzung zur (berechtigten) Interpretation.

      “Em Linz, Dionísio me encontrou.”
      Hier wird Dionysos zum Subjekt, was den Vorteil hat, dass der Ich-Erzähler von jeder Absicht, Dionysos zu begegnen, freispricht. Aber: hier wird unmissverständlich klar gemacht, dass Dionysos auf der Suche nach “mir” war und mich in Linz fand.

      Das könnte so sein und gäbe der Erzählung etwas unheimlich-unangenehm Beabsichtigtes, das mit dem Schlußsatz korresponiert: “Und ich beschloß das Stück.”

    15. Danke für die eingeräumte Freiheit bei der Übersetzung. Mir gefällt diese Lösung auch, hatte aber inhaltliche Bedenken.

    16. Der erste Satz Dass Sie “ein” fallen liessen, ändert meine Vorschläge.
      Markus Hediger: Ihre letzte Lösung gefällt mir sehr. Sie denken dabei an den letzten Satz der Novelle, was natürlich vortrefflich ist. Ich bin trotzdem dafür,dass Dionysos am Ende des Satzes bleiben sollte, dem Überrachungseffekt wegen. Was bei mir so etwas ergibt:
      “C’est à Linz que j’ai fait la rencontre de Dionysos”. (“j’ai rencontré” würde vermuten lassen -wie Ihreerste Lösung – dass es nicht zufällig geschah)
      “C’est …que” scheint mir dynamisch und Dionysos überrascht den Leser, genau wie bei der deutschen Fassung. [Ich zögere noch bei diesem Punkt]
      Ich möchte gern eine Antwort von ANH auf diese Frage haben:
      die erste Fassung hatte kein “ein”. Dann haben Sie “ein” hinzugefügt, und jetzt wieder kein “ein”.
      “Vermehrfachung” sagt Delf Schmidt; ja, also, der Mythos, statt eines Mannes, der an Dionysos erinnert (ein Herkules… usw, würde prosaïscher klingen?)
      Was ist der eigentliche Grund für die Veränderung ? Das würde mich sehr interessieren. Meine Antwort: ohne “ein” wirkt der Satz geheimnisvoller.
      Danke.
      “Der Text bekommt einen anderen Akzent”… “nicht unbedingt falsch”… Da bin ich ganz Ihrer Meinung. In meinen letzten Bemerkungen habe ich zahlreiche Vergleiche vorgeschlagen, weil ich auf der Suche nach einer provisorischen Definition unserer Arbeit war.
      “Kein falscher Akzent “sollte unsere Regel sein. Danke für die Schranken, die brauchen wir unbedingt.

      Lieber ANH: “hatte aber inhaltliche Bedenken”: Wo? Wie?
      Sagen Sie uns, wie Sie das meinen…
      Markus Hediger: Sie helfen mir sehr. (“auf der Suche nach “mir” war.”.. ist nicht schlecht, aber sind wir noch bei der Übersetzung, ist das nicht schon eine Deutung des Textes? Sollte keine Ungewissheit hier vorherrschend sein. Wir sind am Anfang, bei dem ersten Satz einer Novelle,wo Traum und Realität- grob gesagt- vermischt werden; dem Leser soll nicht geholfen werden) Danke.
      Raymond Prunier

    17. Dionysos Ohne das “ein” ist es nicht irgendein Dionysos (welcher?) der mir in Linz begegnet, sondern “der” Dionysos. Genau das ist es, was dem ersten Satz die ausserordentliche, semantische Sprengkraft verleiht.

      Lieber Prunier: in Ihrer letzten Antwort werfen Sie eine Frage auf, die für mich ganz zentral ist: “aber sind wir noch bei der Übersetzung, ist das nicht schon eine Deutung des Textes?” Meine Gegenfrage lautet: Ist nicht jede Übersetzung schon notwendigerweise eine Deutung?
      In Ihrem vorletzten Kommentar fragten Sie, ob Dichtung nicht auch schon ein Akt des Übersetzens ist. Ich bin der Meinung, dass ja. Von dem Moment an, da wir die Welt in Worte zu fassen suchen, übersetzen wir sie in eine Sprache, die wir verstehen, und bringen so Ordnung in unsere Wahrnehmung. Ist das nicht die Urform des Übersetzens?

      Ich glaube, dem Brasilianischen Text kann durch eine simple Änderung der Satzstellung der Charakter des Traumhaften zurückgegeben werden:
      Anstatt
      “Em Linz, Dionísio me encontrou.”
      Dies hier:
      “Em Linz, encontrou-me Dionísio.”
      Wodurch Dionysos ausserdem den ihm gebührenden Platz erhält.
      Was meinen Sie?

    18. @ Prunier. “Inhaltliche Bedenken” hatte Hediger, nicht ich.

      “e i n Dionysos”: Mein erster Gedanke, als ich das schrieb, war, den mythischen Anklang nicht ganz so massiv zu gestalten, ihn ungefährer, auch wie irrtümlich, zu formulieren. Ich dann aber lange unzufrieden damit; wiederum war mir “Dionysos” allein zu dick aufgetragen. Das hat sich später, in der Kellerszene, über das den zweiten Dioynsos-Anklang aber aufgehoben. Und Schmidt meinte, wenn ich das recht sehe, meine “ein”-Formulierung werde ganz sicher ohnedies überlesen und störe den Fluß.

    19. Inhaltliche Bedenken hatte ich, weil die angesprochene Übersetzung die Interpretation nahelegt, dass Dionysos “mich” suchte und mich schliesslich in Linz fand. Im Original wird kommt nicht zum Ausdruck, dass Dionysos die Begegnung mit “mir” gesucht hätte. Darum meine Bedenken.

    20. Deutung Ja, Herr Herbst, jede Übersetzung ist eine Deutung. Deswegen finde ich Ihre Idee Dionysos am Ende zu verschieben höchst notwendig.
      Ausserdem muss man hier zwischen analytischen und synthetischen Sprachen Unterschiede machen.
      In unserer analytischen Sprache, müssen (mit diesem Beispiel)der Ort am Anfang und die Person am Ende stehen.
      Im Deutschen steht noch als letztes Wort: “begegnet”. Es geht aber hier um eine mich faszinierende synthetische Sprache. Bei der Übersetzung muss sie analytisch werden. Deswegen haben wir so grosse Schwierigkeiten. Die Stellung der Wörter funktionniert auf einer ganz anderen Art. Darum ist es spannend das Thema mit Ihnen zu besprechen.
      An Herrn Hediger: Ich bitte um Entschuldigung für den Fehler (ich dachte, die Bemerkung käme von ANH) ich finde Ihre Antwort sehr hilfreich. Sie meinen wohl, dass es um ein Fatum geht, dass diese Begegnung zufällig geschah. Und hier kann ich nur sagen, dass es auch mein Problem gewesen ist. Ich wollte nicht das Wort “rencontrer” für “begegnen” benutzen. Denn der erste Sinn für “rencontrer” ist der einer Verabredung(treffen). Ich habe gewählt so zu übersetzen: “C’est à Linz que j’ai fait la rencontre de Dionysos”.
      An ANH: Der so formulierte Satz in Französisch klingt sehr leicht, unbewusst würde ich sagen, ironisch. Keine grobe Ironie, nein, aber trotzdem: die Formulierung mit “c’est…que” betont leicht den Ort (ist aber trotzdem ein guter Ausdruck für den Anfang einer Geschichte)und der Leser entdeckt Dionysos erst am Ende. Die Verblüffung wird sehr leicht akzentuiert. Das finde ich nicht so schlecht. Indes ist der Rhythmus sehr interessant: geschmeidig, musikalisch. Ein Anfang (ohne “c’est… que”)mit: “à Linz j’ai fait la rencontre de Dionysos”, würde nicht so schön klingen, weil der Ort nicht lang genug wäre, im Vergleich zu der Handlung und der Person. “à Linz ” hat zwei Silben, “J’ai fait la rencontre” hat fünf Silben, und “Dionysos” hat vier Silben. Das wäre plump, ungehobelt, “à Linz” allein so zu lassen. Der Ausdruck “c’est… que” gibt dem Ort vier Silben wie für Dionysos.
      Was ich hier beschreibe, ist nicht so bewusst, wie ich es hier ausdrücke. Ich musste die französische Übersetzung oftmals lesen, um es festzustellen. Als ich diese Übersetzung ‘erfand’: “C’est à Linz que j’ai fait la rencontre de Dionysos”, war das alles nur ein musikalischer Eindruck… und ich spürte sofort, dass ich die Lösung hatte.
      Nur um zu beweisen, dass Musik im Vordergrund steht, habe ich das alles geschrieben. Es ist aber besser, wenn man es unbewusst tut. So ist man dem Schriftsteller sehr nah. Manchmal muss man trotzdem überlegen… widersprüchlich aber trotzdem wahr.

      Das Thema: Dichtung ist Übersetzung ist ebenfalls zu ergründen. Der Dichter hat mit der WeltTraum/Realität zu tun. Er muss sie in Wörter übersetzen.
      Der Übersetzer bleibt immer innerhalb der Sprachen.
      Nein, es ist zu einfach: der Übersetzer muss die geschriebene Welt in seine Welt heranziehen. Die Realität muss er sehr nah fühlen. Es ist nicht nur eine Frage der zwei Sprachen. Sonst bleibt man in einer Technik. Der Übersetzer muss mitdichten, mitschreiben, und dann die andere Welt in seine übersetzen. Es ist eine Utopie: lange bleibt er sprachlos, wie schon gesagt. Er ist nirgendwo, nicht mehr in der Fremsprache, noch nicht in der Muttersprache. Und das ist spannend. Hat das noch mit der Dichtung zu tun? Ja, aber nur am Rande scheint mir. Als Dichter habe ich eine Vision, eine Intuition, eine Idee… ich will sie schreiben; solange ich die Wörter nicht gefunden habe… befinde ich mich in demselben Niemandsland wie der Übersetzer in seiner Leere? Ja, das ist die Frage.
      Als Hölderlin schreibt: “Ich habe die Sprache in der Fremde verloren”, meint er Bordeaux oder die griechische/deutsche Sprache. Zu kurz wäre zu behaupten: Beides.
      Manchmal habe ich den Eindruck, dass er als Übersetzer spricht… manchmal als Dichter. Schwer zu entscheiden.

      Kafka sprach von der Muttersprache als eine ewige Geliebte. Was tut also der Übersetzer? Bringt er nach Hause (für Mutti-Muttersprache) die Fremdsprache ?
      Wohl möglich !!
      anders gesagt : die Bescheidenheit des Übersetzers würde eine Aggressivität gegen die Fremsprache verbergen ?!!! ha, ha !
      Danke für alle !
      Raymond Prunier.

    21. Herrn Hediger: südländisch Herr Hediger, “südländisch” habe ich mit “de type méditérranéen” übersetzt.
      Sie stellen in Ihrem Weblog viele Fragen über dieses Wort, weil sie vermuten, dass der brasilianische Leser dieses Wort – egal wie es im Brasilianischen klingt – nicht verstehen wird, wie der Autor es begriffen hat, als er es schrieb. Der Nordeuropäer versteht sofort, um wen es geht: “südländisch” , bedeutet aus den südlichen Ländern Europas, oder ganz allgemein aus dem Süden, d.h. aus Libanon, nahem Osten…. Aber in Brasilien bedeutet dieser Begriff gar nichts: “südländisch” würde im Brasilianischen z. B. aus Patagonien bedeuten, was absurd ist.
      Das meinen Sie , nicht?
      Ein Vorschlag, den Sie selbst machen, scheint mir gut: “de méditerrannée”… das ist auch meine Lösung zum Problem. Es ist infolgedessen kein Problem :
      Wenn ich über das Wien des Anfangs vom XX. Jahrhundert lese (bei Zweig z.B.), dann weiss ich, dass es nicht das Paris derselben Zeit ist; ich kenne den Autor, ich weiss, wo er gelebt und geschrieben hat (komisches Beispiel, in Brasilien hat er eben Selbstmord verübt!!).
      “südländisch” hat für den brasilianischen Leser einen Sinn, weil er weiss, dass der Autor ein Deutscher ist. Man kann trotzdem nicht wortwörtlich übersetzen: “aus einem südlichen Land”; das würde zu den manchmal unbewussten Missverständnissen führen, auf die Sie andeuten. Deswegen ist “de type méditérranéen” eine interesssante Zwischenlösung.
      Wir haben auch ein einfaches Wort im Französischen, um “südländisch” zu übersetzen: “méridional”… leider bedeutet dieses Wort bei uns: “aus Südfrankreich”… dann musste ich, um das Missverständnis zu vermeiden, auf das “Mittelmeer” andeuten.
      Bei der Übersetzung sollen wir drei Personen einbeziehen: Autor, Übersetzer und Leser.
      Der Leser ist intelligent… sonst würde er ANH nicht lesen !!!
      Er liest aber ‘schnell’ und das Wort “südländisch” würde, grob übersetzt: “aus einer südlichen Gegend”, den Leser zwingen, an den deutschen Autor zu denken, und es würde seine Lektüre stören (????).
      Ich sehe ein, dass ich mich widerspreche… nein, das glaube ich nicht…
      Recht vielen Dank für diese “Schwierigkeit”; andere stehen uns bevor !!
      Raymond Prunier

    22. Herr Prunier Herzlichen Dank für Ihr Feedback. Ich habe mir erlaubt, Ihren Kommentar in mein Weblog hinüberzukopieren. >>> D o r t finden Sie auch meine Antwort und eine weitere Frage zum selben Absatz.

      Ist es möglich, dort die Diskussion weiter zu führen? Herr Herbst wird in den “Dschungeln” bald einen Link setzen.

  2. Vergana in Brasilien Hier erster Versuch einer Darstellung des Scheiterns der Vergana in Brasilien. Ich begreifs noch immer nicht ganz. Vielleicht können Sie mir helfen. Der Schock sass tief, weil ich mich enorm schwer tat, die Position der Kritiker zu verstehen:
    http://hanginglydia.twoday.net/stories/598684/
    (Autumn in the Jungle of Translation ist wieder in Gänze aufgeschaltet.)

    1. Dann verstehen Sie. Auch meine Fassungslosigkeit. Vielleicht macht auch nur mein eigenes Versagen mich so fassungslos.

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