Mittwoch, den 1. Juni 2005.

8.16 Uhr:
[Nono, Prometeo.]

Weiterhin uninspiriert, untergründig depressiv. Sitze vor dem Bildschirm, versuche, auf Gedanken zu kommen, aber es bleibt alles leer… nein, entfernt; ich weiß ja sehr genau, was zu schreiben wäre, insbesondere bei ARGO. Nur schaff ich nicht den Sprung hinein, ins Paktische, ins Tippen. Sehr wahrscheinlich hängt das alles nun wirklich mit der Regression zusammen, die mich von der Analyse her hinabzieht: zurückzieht – so daß ich die Hilflosigkeit aktualisiere, der ich ganz offenbar als Kleinkind ausgesetzt war, die mich Kindheit und Jugend über begleitete und erst dann aufhörte, als ich um 1979 meine Selbsterfindung, als ich das Projekt ANH begann: erfinden, daß man gut ist, so erscheinen, sich so geben – und man w u r d e es. Am Abendgymnasium ging das los. Und alles stets auf Hochleistung gerichtet. Von “Anfang” an: Der schlechte, fahrige Alltagsschüler der Tagesgymnasien, von denen er schließlich flog, zum Eliteabgänger mit Studienstiftung-Empfehlung. Kafka freilich würde sagen: Die Welt hat sich nicht täuschen lassen, daß man Ungeziefer (= ein Ribbentrop) ist; ich aber halte die Evolution, ja Mutationen dagegen und den Möglichkeitssinn, die Schönheit der ästhetischen Fiktion sowie ihre reale Wirkkraft. (Kafka nahm ‘Schicksal’ a n; daraus, daß es ‘falsch’ ist, bezieht seine Dichtung die Komik und tragische Größe;; ANH hielt immer d a g e g e n.)

Über alledies habe ich intellektuell keinen Zweifel, aber mein Gefühl ist in der Regression angelangt; interessanterweise nicht die Sexualität, also mein erotisches Ich; das b l e i b t dominant. Aber ich b r a u c h e Gefühl, um zu schreiben; ich kann auch anders nicht lieben und nur selten anders vögeln; symbolisch gesprochen: Das Herz ist der Motor meiner Arbeit, ich war ja nie kalt, nicht einmal kühl – oder doch, schon: aber in der K o n z e p t i o n eines Textes, in seinem E n t wu r f, nicht aber an seinem Grund (in seiner, um es pathetisch zu sagen, Seele). Herz ohne Geist ist nur wabblig, Geist ohne Herz aber absurd und ziemlich sinnlos (und verkehrt sich deswegen schließlich oft ins Autoaggressive).

Ich merke, wie mir die Gedanken fliehen. Genau so fliehen sie mich derzeit, wann immer ich einen Text schreiben oder weiterschreiben will. Beim Bereiten des latte macchiatos indes stand alles klar da; kaum setze ich mich, wutscht es auseinander wie dünne Fledermäuse aus Luft: Man will noch zugreifen, ist vielleicht sogar schnell genug, doch die Hand schlägt einfach hindurch.
Und die Frage ist ja auch: Wozu noch (erzählende) Literatur? Wozu Belletistik als Kunst? Ist sie nicht als Erkenntnisform längst überkommen und also ganz zu recht ins Entertainment abgesackt? (Und, andererseits, abermals: Rührt dieser Defaitismusvielleicht einfach auch daher, daß DIE NIEDERTRACHT DER MUSIK öffentlich so gut wie gar nicht wahrgenommen wird? Ist er also ein Ergebnis meiner verwundeten Eitelkeit? – Ich bin, in jeder Hinsicht, mißtrauisch. Auch das lähmt.)

Dabei: Seit ich gestern wieder in MUTATIONS schaute und Lootsmas Aufsatz las, ist mir erneut bewußt geworden, wie w a h r meine ANDERSWELT-Position ist und wie lächerlich das sentimentale Beharren der deutschen Gegenwartsliteratur auf dem rein-Sozialen und A-Technologischen – wie unrealistisch, mit e i n e m Wort, dieser gepriesene Realismus ist (ein Schein-Realismus nämlich). Sein Problem besteht darin, daß er als Fake nicht gewollt ist, sondern die Leute glauben ihn. Ihm fehlt – in der Intention – die Künstlichkeit. Deswegen kann er nicht Erkenntnisinstrument sein. Deswegen täuscht er so.

Gewollte Fakes sind etwas anderes. Sie sind entweder Rituale oder, nach Kant, ‘Kausalitäten aus Freiheit’ – Instrumente halt. So wie sich das Fake ANH einen ANH g e s c h a f f e n hat, der jetzt freilich wieder – offenbar – zerfällt… aber mit der Spur von fünfzehn Büchern und nicht wenigen anderen Publikationen hinter sich. Es scheint nur die Kraft ausgegangen zu sein, weitere fünfzehn Bücher folgen zu lassen. So hatte ich das aber eigentlich vor. Insofern Rat- und Lustlosigkeit. An derer Beginn a u c h das verbotene Buch steht, dessen Verbot mir symbolisch ein zweites Mal “mich selber” verbot.

(Wobei mir sehr bewußt ist, daß ein Tagebuch-Eintrag wie dieser den Kampf imgrunde weiterführt: Daß ich hier offenbare, was ‘an sich’ verschwiegen und versteckt gehört – als “zu privat” nämlich gilt -, ist tatsächlich nicht nur Ausdruck von Selbstzweifel, sondern auch das genaue Gegenteil davon: eine nächste A t t a c k e.)

[K e i n e Tagesplanung heute. Sehen, was sich ergibt. Und Nono hören.]

12.20 Uhr:
[Rihm, Jagden und Formen.]

Unterschwellig die Überlegung, ob ich die Psychoanalyse nicht besser abbrechen sollte. Darüber nachher mit dem Anaytiker sprechen. Sie schwächt mich jetzt, der Regressionprozeß schwächt mich, wo ich angesichts solcher Feindschaften stark sein und zurückschlagen können muß.
Der Freund eben auf meinen Verzweiflungsausbruch am Telefon: “Das versuche ich dir doch zu erklären: Es g e h t nicht in erster Linie um Deine Arbeit. Es g e h t nicht darum, daß du n o c h besser wirst. Sondern es geht um deine P e r s o n. D i e wird nicht gemocht.” – Wenn das stimmt, habe ich keine andere Chance, als dennoch besser zu werden und insgesamt n u r noch mit Schärfe zu reagieren. Das Problem ist die Ökonomische Existenz. Damit hat man mich im Griff, da bleibe ich verletzlich. Und werde dennoch ästhetisch keinen Schritt zu Seite tun.

Es geht mir also ziemlich mies. Aber die Musik tut gut. Auch daß ich aus der Jarrett-Tonalität wieder raus bin, die zwar sehr schön, aber letztlich ästhetisch doch zu weich ist, um darauf bauen zu können.

13.30 Uhr:
Sciarrino, Esercizi di tre stile.

Und auch d a s ist nicht zu fassen und möglicherweise Regressions-Produkt der Psycoanalyse: Da fang ich tatsächlich wieder an, auf meinen Fingerknöcheln herumzuknabbern. Zuletzt wich in eine solche Reaktionsverschiebung zur Zeit meiner Pubertät aus. (Und, klar, auch d a s zu schreiben, wird als privater, ja peinlicher Übergriff gelten. “Sowas muß verschwiegen werden, sonst kriegt unser Menschenbild auch a u ß e n die Risse: Reicht’s denn nicht, daß sie durch den Menschen selber hindurchgehn? Muß man das auch zeigen?”:: So nervös höre ich sie schimpfen.)

—- und ab zur Analyse jetzt! Wird ein deftiges Gespräch werden, denk ich.

15.34 Uhr:
[Scelsi, Tre pezzi.]

Schöne kleine Diskussion um den Begriff “Wutvögeln”, sowohl hier als auch bei http://finya.de. Dabei fällt mir wieder Eigner ein: “XY hat sich neulich nach dir erkundigt und gefragt, ob du es immer noch auf kleine Mädchen abgesehen hast.” “Kleine Mädchen?” “Junge Frauen. Man nimmt dir übel, daß du sie b e k o m m s t.” –

Wenn ich jetzt so nachdenke: Ich sollte tatsächlich nicht mehr mit schönen jungen Frauen im Literaturbetrieb erscheinen. Schließlich spaziert man ja auch nicht durch ein Armenviertel mit Brillanten um den Hals. (Ich muß mich also wirklich gar nicht wundern.)

7 thoughts on “Mittwoch, den 1. Juni 2005.

  1. wie lächerlich das sentimentale Beharren der deutschen Gegenwartsliteratur auf dem rein-Sozialen und A-Technologischen – wie unrealistisch, mit e i n e m Wort, dieser gepriesene Realismus ist (ein Schein-Realismus nämlich). Sein Problem besteht darin, daß er als Fake nicht gewollt ist, sondern die Leute glauben ihn. Ihm fehlt – in der Intention – die Künstlichkeit. Deswegen kann er nicht Erkenntnisinstrument sein. Deswegen täuscht er so. wie wahr!

    Merci für diese Gedanken in ihrer Gesamtheit.

  2. Solidarisch bleiben “Junge Frauen. Man nimmt dir übel, daß du sie b e k o m m s t.”

    Darf ich höflich um solidarisches Verhalten nachsuchen? Wie sehe es denn bitte schön aus, wenn nur noch ich mit schönen, jungen Frauen im “Literaturbetrieb” erschiene. So wenigstens kann man sich die Last des Neides angelegentlich teilen.

    1. Moment – Haben nicht alle großen Literaten – wenn vielleicht auch heimlich – junge schöne Frauen?

      Ich bin jung. schön. Literatengeliebte. *lach*

    2. Wenige, Loolaa. S e h r wenige sind es. Aber es g i b t ja auch nicht so v i e l e große Literaten. Lacht.

      Und was das “Heimliche” anbelangt, so erlaube ich mir, entweder zu zweifeln oder zu fragen: Was verstecken sie dann in ihrer Literatur?

    3. Mit Verlaub, das ist mir zu feige. Ich habe eine k l a r e Stirn. Sollte Heimlichkeit notwendig an Literatur geknüpft sein, dann möcht ich nichts mit ihr zu tun haben. Mir wäre sonst in dem Betrieb n o c h ekliger zumute als ohnedies schon.

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